„Fürchtet Russland“, titelte kürzlich die deutsche „Financial Times“. „Ein Gespenst geht um in Europa: Die Russen kommen“, verkündete die „Welt“. Von „Rachelust russischer Agenten“ sprach die „Frankfurter Rundschau“ „Leichen pflastern seinen Weg“, schrieb die „taz“. Als „terroristisches Regime“ bezeichnete Cohn Bendit die russische Regierung. Ein Chor der Warner hat sich gefunden. Sie alle verbindet eines: Die Sorge vor einer weiteren Amtszeit des amtierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin, der, so brachte es die „Financial Times“ auf den Punkt, Russland „zu einem autoritären Land … mit faschistischen Tendenzen“ gemacht habe, das nach dem Motto handle, „wofür Russlands autoritäre Regime in der Vergangenheit stets standen: Repression nach innen und Aggression nach außen.“
Solche Sorge will ernst genommen werden. Schauen wir also, wer Putin ist und wofür er steht: Wladimir Putin erschien zum Ende der Amtszeit des kränkelnden Boris Jelzin als „Mr. Nobody“ aus dem Nichts. Sein Amtsantritt ähnelte dem eines sehr viel älteren Vorgängers, nämlich dem des ersten Romanow nach der in Russland so genannten langjährigen Smuta, der verwirrten Zeit, die dem Ableben Iwan IV., des Schrecklichen im 16. Jahrhundert, genau 1584 folgte.
Smuta nennen die Russen die chaotischen Verhältnisse, die immer wieder aus dem Zerfall der russischen, d.h. letztlich der eurasischen Zentralmacht hervorgegangen sind, bevor eine neue Ordnung gefunden wurde. Eine Smuta war auch die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als der Zarismus zerfiel. Die jüngste Smuta, die zu einer politischen und sozialen Desintegration des eurasischen Raumes in bisher nicht gekanntem Maße führte, folgte auf den Zerfall der Sowjetunion 1990/91.
Der Verlauf der aktuellen Smuta erinnert in Vielem an die Zeit nach Iwan IV.: Wie der junge Romanow seinerzeit, so war auch Wladimir Putin das „Jüngelchen“, auf den die konkurrierenden „Eliten“ sich in dem Glauben einigen konnten, dass er keiner von ihnen gefährlich werden könne. Wie damals der junge Romanow so trat auch Putin ohne erkennbares Programm an, nur gepuscht und legitimiert durch den Segen von oben, in Putins Fall durch Jelzin und seine „Familie“. Der neue Mann sicherte der „Familie“ wie auch allen ihren regionalen wie lokalen Protegés zu, die Ergebnisse der Privatisierung, sprich der räuberischen Umverteilung des Volksvermögens nicht anzutasten – und hielt sich zunächst daran.
Aber ähnlich wie sich die Gönner des ersten Romanow seinerzeit getäuscht hatten, als der unbekannte 17jährige statt die Smuta weiter zuzulassen das Zarentum in neuer Stärke begründete, so erlebten auch die nach-sowjetischen „Eliten“ ihre Überraschung: Mr. Nobody erwies sich sehr bald als entschlossener Restaurator, der die von Jelzin inaugurierte Präsidialverfassung nutzte, um Schritt für Schritt die Handlungsfähigkeit des Zentrums wieder herzustellen.
Von Vielen gar nicht als Programm wahrgenommen, verkündete er per Internet seine Ziele: Wesentliche Bestandteile davon waren:
Eine autoritäre Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe eines starken Staates.
Das Anknüpfen an gewachsenen Strukturen, insbesondere der russischen Gemeinschaftstraditionen, statt der kritiklosen Übernahme westlicher Modelle.
Die Stärkung Russlands als Integrationsknoten Euroasiens
Werfen wir einen kurzen Blick zurück, was davon verwirklicht wurde, ohne uns an Details und einzelnen Unstimmigkeiten festzuhalten:
Russlands Verwaltung bekam mit den von Putin persönlich eingesetzten Gouverneurs-Kontrolleuren ein neues Rückgrat; die Privilegien der Regional- und Lokalmächte wurden soweit zurück geschnitten, dass die Gouverneure heute vom Präsidenten ernannt werden.
Die als Oligarchen bekannt gewordenen Privatisierungsgewinnler wurden zum Steuerzahlen verpflichtet. Mit der Zerschlagung des Yukos-Konzerns nahm die Regierung die wichtigsten Ressourcen Russlands wieder in staatliche Regie.
Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat einen aktiven Spielraum von rund 20 Milliarden Euro, der für Sonderausgaben zur Verfügung steht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet.
Russlands Rolle als Subjekt der Weltpolitik wurde wieder hergestellt, nachdem es unter Jelzin zum Anhängsel des westlicher Interessen geworden war. Eine empfindliche Einschränkung liegt allein in dem nach wie vor ungelösten Konflikt in Tschetschenien. Aus der wieder gewonnenen Stärke Russlands, insbesondere auf dem Energie-Sektor, erklärt sich die neuerliche anti-russische Propaganda..
Aber in einem hat Putin, neben dem Konflikt in Tschetschenien, bisher nicht erreicht, genauer gesagt, nicht getan, was er versprochen hat: in der Sozialpolitik. Mehr noch, die von seinen liberalen Beratern Gref und Co versuchte Einführung der sog. Monetarisierung des gesellschaftlichen Lebens ist als glatter Flop auf die Regierung zurückgefallen. Putin genießt zwar nach wie vor den Zuspruch von 60 – 70% der Bevölkerung, dies jedoch nicht wegen, sondern trotz der von ihm verfolgten sozialpolitischen Linie. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht in den Reformen zur sog. Monetarisierung der „Vergünstigungen“ wie auch der kommunalen und betrieblichen Formen der in der Sowjetzeit entwickelten nicht-monetären allgemeinen Grundversorgung keinen Fortschritt, sondern eine Verschlechterung ihrer Lage und fordert die Beibehaltung der bisherigen Regelungen. Ausdruck dieser Tatsache waren Demonstrationen von Rentnern, dann auch Studenten gegen das Ende 2004 beschlossene Sozial-Programm. Gegen die Monetarisierung von Wohnraum, von Gas-, Wasser-, Stromlieferungen und sonstiger in der Sowjetzeit bargeldloser öffentlicher Leistungen nahm der Protest die Form der stillen Verweigerung an, Motto: Wo kein Geld, da keine Zahlung, wo kein Kläger, da keine Klage. Die Reformen haben sich in diesen Kanälen verlaufen. Mit dem soeben beschlossenen Beitritt zur WTO will Russland jedoch einen erneuten Schritt in diese Richtung gehen. Das wird mit Sicherheit zu erheblichen neuen Unruhen führen.
Nach sechseinhalb Jahren Putin ist damit eine Lage entstanden, die man als Spagat der russischen Führung, namentlich Putins zwischen neuer aktiver Rolle in der Welt des globalisierten Kapitalismus und nicht gelöstem Übergang zum Kapitalismus im Inneren kennzeichnen kann. Putin war der Mann, der diesen Spagat halten und entwickeln konnte. Ausdruck dieser Balance ist die Polarität seiner engsten vertrauten, Innenminister Sergej Iwanow als Vertreter der „Silowikis“, also der vom Geheimdienst durchsetzten konservativen „Staatler“ auf der einen , der eher wirtschaftsliberale Dimitrij Medwedjew auf der anderen Seite. Weder Iwanow noch Medwedjew jedoch wären in der Lage, die von Putin heute gehaltene Balance fortzuführen. Beide haben als Kandidaten für die Nachfolge Putins denn auch abgewinkt. Auch andere in der Debatte um die Kandidatur eines möglichen zukünftigen Präsidenten auftauchende Namen wie der KP-Führer Szuganow, der US-orientierte ehemalige Wirtschaftsminister Michael Kasjanow repräsentieren nur Teilkräfte. Das gilt erst recht für Personen wie den Schachweltmeister Gari Kasparow, der namens der Ultra-Liberalen antreten möchte, um „Schach dem Putin“ zu bieten, ganz zu schweigen von dem unvermeidlichen ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski. Keine dieser Personen wird Putin ersetzen können: Mit dem Abtreten Putins wäre auch dessen „System“ der Balance beendet, es sei denn, es tauchte ein neues „Jüngelchen“ auf, das noch keiner kennt.
Überraschungen wie der bisher weithin unbekannte Alexander Gonskoi, Bürgermeister der nordrussischen Stadt Archangelsk, sind natürlich möglich, aber sechseinhalb Jahre putinscher Amtszeit waren nicht genug, um einen neuen Konsens v o n u n t e n entstehen zu lassen, der die „Eliten“ Russlands, geschweige denn die Bevölkerung des Landes zuverlässig und dauerhaft auch ohne Autorität von oben verbinden könnte. Zu stark sind nach wie vor die Sonderinteressen, die von einer neuen Smuta profitieren würden. Zu stark sind andererseits die Kräfte, die genau dies mit Gewalt verhindern möchten.
Putin ist sich dieser zwiespältigen Lage offensichtlich sehr bewusst. Geradezu provokativ deutlich lehnte er daher im Spätsommer 2006 das Ansinnen aus den Reihen der Putin-treuen Partei „Einheitliches Russland“ ab, sich als „Retter der Nation“ für eine dritte Amtszeit zur Verfügung zu stellen. Er forderte stattdessen demonstrativ, der Entwicklung einer Opposition eine Tribüne zu geben. Mit der Bildung einer neuen Partei „Gerechtes Russland“, die der bisherigen Partei der Macht, wie „Einheitliches Russland“ kurz genant wird, Konkurrenz machen, im übrigen aber den von Putin eingeschlagenen Kurs unterstützen und auch in Zukunft verfolgen will, auch wenn Putin nicht mehr Präsident sein sollte, wurde jetzt ein Schritt in diese Richtung versucht. Ziel ist ein präsidial geführtes Zweiparteiensystem nach US-Vorbild. Ob dies gelingen kann, ist höchst fragwürdig. Der Westen täte daher besser daran, Putins Bemühungen um einen „Wunschnachfolger“ zu unterstützen, wenn ihm tatsächlich an einer weiteren Demokratisierung Russlands gelegen wäre, statt ihn als „Faschist“, „Diktator“ etc. und durch Aufbau einer inneren „Front“, die zu den „Errungenschaften“ Jelzins zurückkehren will, demontieren zu wollen. Eine solche Demontage Putins kann nur eine neue Smuta fördern oder deren gewaltsame Beendigung provozieren.
Kai Ehlers
Siehe zu diesem Thema:
Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch? Russland zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte/Entwürfe, 2005