Aufruhr in St. Petersburg und in Moskau. Aus der Provinz herbei gekarrte Polizei-Spezialeinheiten prügeln nicht genehmigte Demonstrationen der radikalen Opposition nieder. Man braucht nicht viel, um dieses Vorgehen der russischen Behörden falsch zu finden.
Nicht verwunderlich ist ebenso, dass die Moskauer und St. Petersburger Polizeieinsätze den „entschiedenen Protest“ westlicher Politiker hervorriefen und die westlichen Medien zu Skandalberichten veranlassten, die in Forderungen danach gipfeln, die deutsch-russische Partnerschaft zu überdenken, da Russland nicht mehr zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zähle.
Unabweisbar sind auch die Vergleiche, die einem einfallen, wenn man als politisch aktiver deutscher Staatsbürger die Beschreibungen des russischen Einsatzes liest: weiträumige Absperrungen, Durchsuchungen im Vorfeld, doppelt so viel Polizei wie Demonstranten, in den Seitenstraßen gepanzerte Einsatzfahrzeuge und Fahrzeuge für den Abtransport von Gefangenen, Polizisten in Helm und schusssicheren Westen, die Kessel bilden und auf abziehende Demonstranten und Passanten prügeln.
Auch die offiziellen Verlautbarungen, alles sei „rechtmäßig“ verlaufen, klingen hierzulande vertraut und der gegenwärtige Hauptakteur der Proteste, der ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow, wird nach vorübergehender Festnahme in Moskau gerade so rechtzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt, dass er seinen Zug zur St. Petersburger Kundgebung nicht mehr erreicht. Gegen die 200 Festgenommenen wurden Strafverfahren eingeleitet. Soweit, so normal, könnte man sagen, Zivilgesellschaft: Russland ist – ganz im Gegensatz zur westlichen medialen Empörung – in der „europäischen Wertegemeinschaft“ angekommen, die da heißt: Wer an einer nicht genehmigten Demonstration teilnimmt, muss mit Prügeln rechnen.
Eine andere Frage ist, warum die russischen Behörden diese Demonstrationen verbieten. Warum lässt man diese 1000 „Andersdenkenden“, Ultra-Liberale, National-Bolschwisten, Menschrechtler, Anarchisten und sonstige, die kein politisches Programm, sondern nur ihr Hass auf Putin verbindet, nicht durch Moskau oder durch St. Petersburg marschieren? Was hat das putinsche Russland von diesem zusammengewürfelten Haufen zu befürchten? Haben die Regionalwahlen nicht eben gerade eine überwältigende Mehrheit für die Politik Putins gebracht? Hat Putin nicht durch seinen klare Auskunft, keine dritte Amtszeit zu wollen, den Weg für ruhige Wahlen freigemacht? Hat er nicht vor der NATO in München soeben außenpolitisch gepunktet? Liegt sein Rating nicht immer noch bei 70 %?
Eine erste Antwort ist in den Provokationen des im Londoner Exil lebenden Oligarchen Boris Beresowski zu finden, der seine schon vor einem halben Jahr einmal geäußerte Absicht, das „Regime Putin“ mit Gewalt stürzen zu wollen, wenige Tage vor den jetzigen Vorgängen im Londoner „The Guardian“ wiederholte. Putin habe ein totalitäres Regime errichtet und es gebe keine Möglichkeit, es durch Wahlen zu verändern. Er stehe im Kontakt mit Mitgliedern der russischen Führung, denen er finanzielle Unterstützung angeboten habe. In Russland sei dies der einzige Weg um Veränderungen zu erreichen.
Auch wenn nicht nachweisbar ist, dass der „Marsch der Unzufriedenen“ von Beresowski finanziert wird, so ist doch nicht verwunderlich, dass die russische Regierung Kasparows Leitlinie, Demokratie könne und müsse auf der Straße erkämpft werden, als das Passstück zu Beresowskis Aufruf versteht. Das Problem liegt allerdings weniger bei Kasparow, als in der nach wie vor noch nicht stabilisierten russischen „Elite“: Nach acht Jahren Putin ist die offene Herrschaft der Oligarchie, die sich unter Jelzin gebildet hatte und deren führender Kopf Beresowski war, zwar gebrochen, aber es ist noch keine verlässliche Loyalität gegenüber dem neuen russischen Staat gewachsen. Der bevorstehende Machtwechsel ist für die neue russische Staatlichkeit daher eine äußerst kritische Situation.
Eine zweite Antwort liegt in den sozialpolitischen Aufgaben, die eine nach-putinsche Administration zu erfüllen haben wird, wenn sie Ernst machen will mit dem kürzlich beschlossenen WTO-Beitritt Russlands. Nach den Richtlinien der WTO wird die kommende Regierung tiefe Einschnitte in die sozial-politische Souveränität Russlands vorantreiben müssen.
Das betrifft zum einen den russischen Energiemarkt, der nach diesen Vorgaben liberalisiert werden müsste, im Außen- wie auch im Binnenhandel. Für den Außenhandel könnte das zu Russlands Nutzen geschehen, solange die Energiekonzerne, ein wichter Teil der „Elite“, sich in die staatliche Politik einbinden lassen. Im Binnenhandel käme die Aufhebung der Subventionen jedoch einer offenen Katastrophe gleich, da sowohl die Industrie als auch die kommunale Versorgung auf Vorzugspreise für Gas und Öl aufgebaut ist und für den kommunalen Bereich sogar gilt, das erst Zähler installiert werden müssten, bevor die Gaslieferungen und – preise privatisiert werden könnten. Man möge sich vorstellen, was das für ein Land bedeutet, das ein kollektives Verteilungssystem aufgebaut hat.
Angleichungen an die von der WTO geforderten Normen der Deregulierung und Kommerzialisierung der Dienstleistungen haben schon im Vorfeld des WTO-Eintritts in den Jahren 2005 und 2006 zu breitesten Protesten geführt. Die Regierung musste zurückrudern. Der Nachfolger Putins wird in dieses Erbe eintreten müssen. Ob er bremst oder Gas gibt, bleibt sich in einem gleich: er wird es entweder mit Druck aus der Bevölkerung oder von WTO, IWF, Weltbank, EU usw. zu tun bekommen.
Der Umgang mit den aktuellen Protesten lässt befürchten, dass Putin, allen Schmähungen als angeblicher Diktator zum trotz, die Lage nicht im Griff hat und dass die jetzigen Zusammenstöße die Vorboten weiterer Eskalationen sind.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.