in: Alles schien möglich, 60 Sechziger über die 60ziger Jahre und was aus ihnen wurde., Der grüne Zweig 252, Herausgegeben von Werner Pieper.

Wenn ich gebeten werde zu erzählen, wie es damals – in den 60ern – war, komme ich immer in Verlegenheit: Womit beginnen? Es gibt so viele Türen, durch die man gehen kann. Es gibt so viele Arten, wie man erzählen kann. Soll ich mit den Träumen beginnen? Vielleicht besser mit dem Zorn? Oder einfach nur erzählen, wie mein Leben in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und dem dreißigsten Lebensjahr ausgesehen hat? Das alles liegt lange zurück und ist doch gegenwärtig. Was damals Träume waren, das sind auch heute noch Träume, nämlich die nach einer gerechteren und wärmeren Gesellschaft, nach Gemeinschaft, die frei lässt und zugleich beflügelt, nach Schönheit statt Krieg. Aber heute weiß ich, wie teuer unsere Träume erkauft werden müssen und der Zorn hat sich immer noch nicht gelegt. Der Traum ist eine Funktion des Zorns, Traum und Zorn bedingen einander, ohne Traum kein Zorn, aber ohne Zorn bleiben auch die Träume gestaltlos. Wenn ich nun mit dem Zorn beginne, dann muss ich weit ausholen, um meinen damaligen Zustand von dem meines heute sechzehnjährigen Sohnes und dem meiner zwanzigjährigen Tochter zu unterscheiden. Sie sind heute genau so zornig, wie ich es damals war. Vieles ist identisch, obwohl die Welt sich seitdem um fünfzig Jahre gedreht hat. Oft weiß ich nicht, ob wir damals mehr Grund hatten zornig zu sein, als wir es heute haben – wenn ich mich zu dem „wir“ noch dazu zählen darf.
Bei mir war es damals der Zorn über eine Umgebung, die sich nicht einmischen wollte, die sich heraushalten wollte, die sich verstecken und ihre Vergangenheit verleugnen, aber auch keine Verantwortung für die Gegenwart übernehmen wollte. Von meiner Mutter erfuhr ich nichts über die Kriegsjahre und die Zeit der Nazis. Die Vergangenheit war nur ein großes schwarzes Loch. Da war kein Vater, keine Geschichte, kein Staat, mit dem ich mich identifizieren konnte. Als ich, sechzehnjährig, durch England trampte, musste ich Fragen beantworten, auf die mich vorher niemand vorbereitet hatte. Kisia, die junge polnisch-stämmige Engländerin, die ich in Cambridge kennen lernte, während ich unter einem der imposanten Portale Schutz vor dem englischen Regen suchte, erklärte mir ihre Sympathie mit der Feststellung, ich sei, obwohl Deutscher, nicht so „pig-headed“, wie sie es von einem Deutschen erwartet hätte. Später, in der Provence, musste man sich vom „cochon“ emanzipieren.
Wie soll ich sagen? Goethe oder Hitler? Die Deutschen ein Dichtervolk oder Verbrecher? Hatte die Geschichte 1945 neu begonnen oder war nur ein Schleier darüber gezogen worden, unter dem alles weiter ging wie zuvor? Wie oft bin ich in meinem Leben gefragt worden, welchen Vorbildern ich folgte? Ich konnte nie eine Antwort darauf geben. Schon gar nicht damals. Es gab keine Vorbilder, keine Idole und auch keine Ideale. Was es gab, waren die quälenden Pole: Hitler und Goethe, Kulturvolk und Nazis, abgemildert allein durch die Mittelmäßigkeit, mit denen beide in der Schule behandelt wurden.
Der Spießer Höss, KZ-Kommandant von Auschwitz, tagsüber lässt er Juden vergasen, nach Feierabend; um fünf Uhr nachmittags; erwartet ihn seine Frau im trauten Heim, das auf dem Gelände des KZs errichtet ist, zur Hausmusik und zu Lesungen deutscher Dichter. War das meine Kultur?
Es gab nur mich – und keine Antworten.
Ich lebte damals in einer Kleinstadt von 10.000 Einwohnern bei Osnabrück. Melle. Schöne Gegend. Satte Menschen. Neugebautes Gymnasium, an dem es ordentlich zuging. Mein Protest äußerte sich in der Weigerung, mir die Haare auf Kragenlänge schneiden zu lassen; zum Outfit gehörte ein Snowcoat aus dem US-American-Stock, direkt aus Vietnam importiert. Ich ging barfuss in die Schule, soweit die Witterung es erlaubte. Was es außer den mittelmäßigen Mitteilungen über Goethe und Hitler noch Interessantes zu hören, zu lesen und zu tun gab, musste ich mir selbst organisieren: Schulsprecher, Schulzeitung, private AGs zu literarischen, philosophischen und politischen Fragen. Gute Bürger riefen mir, in dem Versuch mich zu beschimpfen, „Jesus, Jesus“ nach, was lästig war, weil ich mit Jesus rein gar nichts am Hut hatte. Mich interessierte asiatisches Denken. Stundenlang lief ich allein durch Felder, Wiesen und Wälder, um den Gespenstern des Vietnam-Krieges zu entkommen. Es gelang mir nicht. Die Berichte über Folter holten mich mitten im Wald ein. Ich erinnere mich besonders an einen Bericht, in dem geschildert wurde, wie GIs ihre Gefangenen mit Stecknadeln quälten, die sie ihnen unter die Fingernägel trieben. Ich konnte diese Bilder nicht loswerden. Je länger der Krieg dauerte, um so stärker besetzten sie meine Vorstellungen.
Man musste etwas tun. Aber was? Aktionen der Selbstorganisation als Schulsprecher, wie gesagt, überregionale Schülertreffen, Texte und Gedichte in der selbst herausgegebenen Schulzeitung, in der letzten Schulklasse ein heftig geschriebener, nie veröffentlichter Roman über „Holzen und die Männer daneben“; das war meine Auseinandersetzung mit dem deutschen Spießer, der geschehen ließ, was geschah. Schließlich die Abrechnung mit all dem in der Abschlussrede zum Abitur – und dann nichts wie weg aus dem provinziellen Muff. Endlich Freiheit! Endlich Welt! Endlich Leben! Frankreich, Italien. Dann das Erwachen an der Uni: Ende der Freiheit. Ende der Welt. Ende des Lebens. Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren! Unerträgliche Frontal-Vorlesungen statt geistiger Auseinandersetzung. Selbst in der Publizistik und in den politischen Wissenschaften, auf die ich auszuweichen versuchte, nur trockene Dogmatik. Als Ausweg bot sich die Literatur. In kleinen Kreisen lasen junge Dichter sich ihre Werke vor. Ich hielt auch das nicht lange durch; auch diese Treffen erschienen mir schal: Literatur um der Literatur willen, kein Inhalt, keine Identität, keine Antworten auf die Frage wohin. Mir erschien das nicht besser als der Konsum um des Konsums willen, den unsere Eltern uns vorlebten. Gut, man verstand es: Die Eltern waren die Generation des Wiederaufbaus, sie mussten die Wunden des Krieges ausheilen. Die Narben waren hässlich, sie zeigten sie nicht gern. Aber so weitermachen? Selber so werden? Nein. Es war unvermeidlich aus diesem Butterpanzer auszubrechen. Wir wollten die Narben sehen und die noch offenen Wunden verbinden – jedoch, und dieses ist wichtig und ich wiederhole es bei jeder sich bietenden Gelegenheit, es war auch möglich. Die Zukunft war offen. Aufbruch war angesagt. Gemeinsam war man stark. Von Arbeitsplatzmangel, von „no future“, von saurem Regen, Ozonloch, schwarzem, weil verrußtem Schnee, Aids, Vogelgrippe usw. keine Rede. Die Warnungen des „Club of Rome“, die heute allgegenwärtige ökologische Bedrängnis war noch nicht ins Bewusstsein der Gesellschaft eingedrungen. Mehr noch: Die Naturbegeisterung meiner Mutter: Wandern, Reformhaus, FKK, sofern ich sie unter den chaotischen Zuständen unseres zerrissenen Familienlebens direkt erleben konnte, war mir suspekt; sie ließ Vorstellungen an Pionier-Romantik der Nazis in mir hochsteigen. Zu Unrecht, wie ich heute weiß, denn meine Mutter war nie von diesen Organisationen erfasst, aber zu dicht lagen die Nazi-Nebel noch auf allem, was mit Blut und mit Boden auch nur entfernt zu tun haben konnte. Selbst der „Monte Veritas“, das Wahrzeichen der Lebensreformbewegung der zwanziger Jahre und der Wandervogelbewegung, schimmerte nur als braune Silhouette durch diesen Dunst. Erst sehr viel später traten seine ursprünglichen Konturen für mich aus den düsteren Nebeln hervor.
Unter all diesen Umständen entschied ich mich, mein Studium abzubrechen und in die polit-journalistische Praxis zu gehen. Das war kein Abbruch für mich, es war die konsequente Verwirklichung einer Perspektive: Ich wollte die Welt neu erleben und durch das Leben neu gestalten. Es war eine Orientierung auf die Praxis, auf das Jetzt und Hier. Viele junge Leute trafen damals solche Entscheidungen; manche sind später reumütig in den Universitätsbetrieb und in die Institutionen zurückgekehrt. Sei´s drum. Das ändert nichts an dem Bewusstsein, eine offene Zukunft vor sich zu haben, mit dem die Generation damals aufbrach, um die Gesellschaft umzustülpen. Zwei Slogans erfassten die ganze Bewegung: „Kampf dem Konsumterror“ war der eine, „Vogliamo tuto i subito!“, wir wollen alles und zwar jetzt, der andere. Hintergrund war der Aufbruch Deutschlands aus seiner Nachkriegsgeschichte, der heute selbst Konservative, die uns damals als Gammler, Chaoten usw. beschimpften, dazu veranlasst, sich als Achtundsechziger zu bezeichnen.
Es gibt so viel zu erzählen für den, der sich erinnert. Vielleicht sollte ich ein bisschen strukturieren? Da ist der Wechsel von meinem ersten Studienplatz in Göttingen nach Berlin. Eine individuelle Entscheidung meiner Biografie, versteht sich, aber wohl doch symptomatisch für die Zeit. Ich wollte, wie schon angedeutet, der literarischen Gemütlichkeit des akademischen Ghettos entkommen, obwohl mir das Gartenhäuschen, in dem ich damals für 30 DM monatlich oberhalb der Stadt am Hang wohnen konnte, viele gute, intensive Stunden, viel Zeit für Liebe und Inspirationen, für Geschichten, Gedichte und den Entwurf eines weiteren, später von mir vernichteten Romanes gönnte. Doch der Druck des Muffs und der Zug nach Veränderung war stärker! Berlin war die Herausforderung. Berlin kochte. Frontstadt zwischen Ost und West. Anlaufstelle für Unangepasste, für Studenten, die dem Wehrdienst entkommen wollten, für innovative Intelligenz und eine unüberschaubare „Szene“ bekannter und unbekannter, erfolgreicher wie gescheiterter Künstler, die sich unter den Sonderbedingungen der Stadt ansammeln konnte. Kreuzberg – ein Synonym für einen sozialen Hochofen ohnegleichen. Ich stürzte mich mitten hinein – mehr in Kreuzberg als an der Universität. In Kreuzberger Trümmerwohnungen bildeten wir erste Kommunen. Möbel lieferte die Stadt aus ihren Altbeständen. Wer sich die Mühe machte zu Sperrmülltagen an den richtigen Orten zu sein, konnte ganze Etagen mit ausgesuchtestem Mobiliar ausstatten, wahlweise antik oder auch modern. Ein besonderes Problem der Stadt war zu der Zeit die hohe Zahl der Rentner und Rentnerinnen, die starben, ohne Verwandte zu hinterlassen. Wir kauften uns einen klapprigen alten VW-Kleinbus und boten uns zum Ausräumen verlassener Wohnungen an. Davon konnten wir zeitweilig existieren, Dann kamen sehr schnell die professionellen Händler.
In Kreuzberg lebten wir direkt an der Mauer, Schlesisches Tor, fünfter Hinterhof. Romantisch? Ja, aber sehr rau – immer jedoch getragen durch die gemeinsame Bewegung, die als Athmosphäre des Aufbruchs, des Savoir-Vivre, des Bohème etc. eine Kraft ausströmte, in der zu leben gut war. Einfache Lust am Dasein. Nachts jobbte ich in Kreuzberger Künstlerkneipen – tagsüber versuchte ich es doch noch einmal mit dem Studium. Aber ehrlich gesagt: Das Leben – und auch das Schreiben – war interessanter.
Noch interessanter wurde die Politik. Da war der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der an der Ecke Kurfüstendamm / Joachimstalerstr. ein leer stehendes Eckhaus zum Zentrum umfunktioniert hatte. Hier wurden in dichtem Qualm der Pfeifen und Zigaretten die Theorien der anti-autoritären Studentenrevolte geboren. Rudi Dutschke war die führende Gestalt. Für mich war die Happening-Kultur der Kommune I interessanter, deren Anti-Spießer-Aktionen auch vor der politischen Kultur des SDS nicht haltmachten. Nicht weniger interessant war die Kommune 2, die sich selbst zum Objekt pädagogischer Experimente machte. Gruppen wie diese bildeten den Körper, schafften die emotionalen Impulse, zu dem der SDS die Theorien lieferte. Eine unabgesprochene, spontane Arbeitsteilung war das, welche die Akteure mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zusammenführte.
Es war eine offene Szene, in der sich Spitzel wie Peter Urbach unerkannt tummeln konnten. Peter war Mädchen für alles, hatte immer alles zur Hand, was gebraucht wurde, war bei jeder kitzligen Aktion mit dabei. Ganz anders, aber ebenso rührig, der später bekannt gewordene Andreas Baader, der sich abenteuernd durch diese Szene bewegte. Ich selbst hielt es für richtig, mit einem Freund zusammen die große Vietnam-Demo, zu der 30.000 Menschen in Berlin zusammenkamen, von einem Hotelfenster aus mit einem Lautsprecher-Happening in Bewegung zu versetzen, indem wir schrilles Sirenengeheul auf den unten vorbeiziehenden Zug der Demonstranten niedergehen ließen.
Aber schließlich erwischte mich die Klaustrophobie – persönlich wie auch politisch. Meine persönlichen Verhältnisse wurden eng. Kein Geld. Beziehungsknatsch. Die KI wechselte vom provozierenden Polit-Happening zur Strategie der Subkultur, als sie eine alte Fabrikhalle mietete, in deren Etage sie vor allem anderen ein gewaltiges gemeinsames Matratzenlager einrichtete. War die „Zweierbeziehung“ schon vorher prinzipiell in Frage gestellt, so wurde sie nun praktisch behindert. Rainer Kunzelmanns Babyphon wachte über verdächtige Aktivitäten. Real liefen die Dinge anders als in der Ideologie: Rainer Langhans verliebte sich in das Fotomodell Uschi Obermeier aus München. Uschi zog in die Kommune. Es kam zu heftigen Spannungen um Kunzelmanns Kontrollen. Für mich deutete sich hier der Irrweg eines Gemeinschaftsterrors an, den ich nicht mitgehen wollte. Rainer Langhans erklärte mir daraufhin, ich hätte eben nicht das rechte Verständnis für das mythische Erlebnis der Kollektivität.
Hatte ich in der Tat nicht. Mir wurde klar: Für mich war mein ganzes Leben geprägt von der Suche nach neuen Gemeinschaftsformen. Ich suchte nach neuen Wegen ihrer Verwirklichung, aber der Weg, den die KI mit ihrem Subkulturzentrum eingeschlagen hatte, war dabei sich in den einer Zwangsgemeinschaft verkehren, in der ihre Mitglieder sich gegenseitig mit ihren uneingelösten Ansprüchen terrorisieren mussten. Ähnliche Symptome zeigten sich an der KII, in der die überzogenen Ansprüche an die Ent-Konditionierung der vorgegebenen sexuellen Sozialisationen, sprich der Gewohnheiten, Liebe in Zweierbeziehungen, Ehe und Familie zu erleben, ebenfalls zu unerträglichen psychischen Spannungen führte Die bekamen auch dadurch keinen Modellcharakter, dass sie als höchst interessanter Erfahrungsbericht, der tiefe Einblicke in die herrschenden Strukturen unserer Gesellschaft vermittelt, in Form eines Buches herausgesetzt wurden. Auch das politische Klima in der Stadt wurde eng: Bei Demonstrationen, auf denen die Interessen der Arbeiterschaft auf den Plakaten mitgeführt wurden, schütteten uns die Frauen der Kollegen kübelweise Wasser aus den oberen Stockwerken auf die Kopfe. Auf die Dauer zeichnete sich eine Überhitzung des Klimas bei gleichzeitigem Leerlauf der Aktionen ab, die in eine Sackgasse zu führen drohte – und wie wir heute wissen, mit dem Mordversuch an Rudi Dutschke sowie der Bildung der RAF auch geführt hat. So nicht, war mein vorläufiges Fazit. Ich verließ daher Berlin, um mit Freunden in Hamburg eine Künstler-Polit-Kommune zu gründen, die freier angegangen werden sollte. Freundschaft als Basis. Wir nannten uns „Ablassgesellschaft“. Darin lag der sinnige Bezug auf Tetzel, der seinerzeit mit dem Spruch „Wenn die Münze im Beutel klingt, die Seele in den Himmel springt“ als Retter der Kirche durch die Lande zog. Auch wir verstanden uns als „Retter“, wenn auch nicht der Kirche, so doch der durch Konsum, stickige Sexualmoral und Krieg gefährdeten Gesellschaft. Unser Programm war die Umstülpung aller Werte durch radikale Selbstexperimente, provozierende Einzel- und Gruppen-Happenings sowie Eingriffe in die gesellschafts-politische Debatte. Die Droge, Haschisch, LSD samt der dazu gehörigen Botschaft des Amerikaners Timothy Leary, der durch LSD zu einem neuen Bewusstsein und einer neuen Gesellschaft kommen wollte, gehörten dazu, waren Bestandteil unseres Alltags. Gemeinsames Eigentum und freie Liebe waren Gebot und selbstverständlich auch das, was die Öffentlichkeit von uns wahrnahm. Geile „shootings“ gestellter Orgien besserten unsere Kasse auf; tatsächlich hat so etwas nie stattgefunden.
Die Realität lief auch hier wieder anders: Die sehr intensiven Selbsterfahrungen, die aus den individuellen und gemeinschaftlich inszenierten Tabubrüchen anfänglich resultierten, verkehrten sich nach einiger Zeit in nicht erfüllbare gegenseitige Ansprüche: Der Anspruch auf freie Liebe wurde zum Druck, besonders für die Frauen; der Anspruch auf gemeinsames Eigentum verwandelte sich unter dem Motto des Kampfes gegen den Konsumterror auf äußerst paradoxe Weise in eine Diffamierung derer, die es für nötig hielten Geld zu verdienen. Der Anspruch auf Bewusstseinserweiterung durch „Stoff“ wurde für viele zur Dröhnung. Die Teilnahme am politischen Diskurs reduzierte sich auf eine Selbstdarstellung der Gruppe und ihre personelle Ausdehnung. Dies allerdings immerhin! Die „Ablassgesellschaft“ wurde Zentrum kulturpolitischer Provokationen in Hamburg, verband sich mit vergleichbaren Gruppen in anderen Städten, u. a. der KI in Berlin, der „Haifischkommune“ in München. In Hamburg selbst kam es zu Zellteilungen, die sich als Teil einer beginnenden „Kommunebewegung“ begriffen. Letztlich wiederholte sich aber der Vorgang, an dem schon KI und KII gescheitert waren: Überhöhte Ansprüche an „vogliamo tuto i subito“ verkehrten die anfängliche Befreiung in zwanghafte Beziehungen, die tendenziell terroristische Züge anzunehmen begannen.
Der Ausweg führte in eine Spaltung der Bewegung: Allen gemeinsam war die Einsicht, dass tatsächliche Veränderungen nicht stellvertretend, sondern nur durch eine Veränderung der gesamten Gesellschaft, insbesondere auch ihrer arbeitende Schichten erreicht werden könnten. Einige zogen daraus die Konsequenz, den sog. „langen Marsches durch die Institutíonen“ anzutreten, andere, so ich, fanden sich unversehens in der „neuen Kommunistischen Bewegung“. Das will ich hier nicht weiter ausführen; darüber wäre ein andermal zu reden.
Eine dritte Strömung, repräsentiert durch die jetzt entstehende Drogenselbsthilfe „Release“, ging den Weg des verstärkten subkulturellen Engagements. Alle drei Strömungen bildeten extrem voneinander getrennte Szenen, die lange Jahre unverbunden nebeneinander existierten. Heute sind sie vermischt.
Es gibt noch viele, sehr interessante Details zu erzählen. Ich möchte nun aber, nachdem ich so lange über den Zorn gesprochen habe, noch einmal auf die Träume zurückkommen: Wo stehen wir heute? Wir träumten damals, gesättigt und versorgt, von einer konsumfreien Welt. Der freie Flug einer kollektiven Meditation mit Hilfe von Hasch, LSD, Reisen nach Indien, Tibet und Nepal schien möglich. Heute wissen wir, dass die Landung für viele sehr hart war: die „neue kommunistische Begegnung“ musste sich an der Krise des Sowjet-Sozialismus messen und reduzieren lassen; der lange Marsch durch die Institutionen endet vorläufig in der Zustimmung der Grünen zu Militäreinsätzen in Afghanistan und anderswo, ja nicht nur in der Zustimmung, sondern in Forderungen danach, weil Freiheit und Demokratie dort verteidigt werden müsse. Die Haschisch- und LSD-Euphorie endete für viele in der Selbsthilfe von „Release“, aber als „Release“ sich anschickte, Drogen zu legalisieren, um sie handhabbar zu machen, wurde die Organisation zerschlagen. Heute ist wieder jeder und jede individuell mit der Welt konfrontiert, mehr noch, die zunehmende Lohnarbeitslosigkeit wirft immer mehr Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen. Diese Entwicklung lässt alte Träume mit frischer Kraft aufs Neue entstehen. Geschichte entwickelt sich wie alles, so scheint es, in Wellen. Wir befinden uns im Tal der Entsolidarisierung; vor uns bildet sich allmählich eine nächste Welle, die individuelle Freiheit und Gemeinschaft auf neue Weise verbinden könnte. Dies jedenfalls ist der Traum, für dessen Verwirklichung wir uns heute einsetzen können.

Kai Ehlers

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Kai Ehlers

Kai Ehlers. Publizist,
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© Kai Ehlers, Abdruck gegen Honorar,
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2 comments

  1. Joachim Bode says:

    Lieber Herr Ehlers,
    in den heutigen Nachdenkseiten schreiben Sie „Wehrmacht“ im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg. Ich meine, damals hieß das Reichswehr, oder?
    Außerdem – ich bin Richter i.R. – finde ich kein ausdrückliches Impressum auf Ihrer Seite. Da ich kein Presserechtler bin, kann ich dazu nicht viel sagen…. es könnte aber problematisch werden….
    Herzliche Grüße und vielen Dank für Ihre Beiträge, die ich immer gern lese.
    Joachim Bode

  2. kai says:

    Lieber Joachim Bode,
    sehen Sie es mir bitte nach, daß ich erst jetzt reagiere.
    Ich komme noch so gar nicht hinterher mit meiner aufgefrischten WEB. Mein WEB-helfer war schneller als ich und hat das Impressum bereits gesetzt.
    Noch einmal herzlichen Dank für Ihren Hinweis.
    herzliche Grüße, Kai Ehlers

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