Zu Gegenwart und Geschichte der russischen Gemeinschaftsstrukturen.
Erzähler: Seit 1991 wird in Russland privatisiert. Über die katastrophalen Folgen für die Wirtschaft kann man in letzter Zeit des Öfteren hören. Aber welche Auswirkungen hat die Privatisierung auf das soziale Leben der Menschen?
take 1:Bäuerin in Sawjala (0,49)
(…Schritte, Hund, Strastwuitje…)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, schwach unterlegen, mit Text beenden.
Erzähler: Salawaja. Ein Dorf im Altai, südliches Sibirien. Ein Jahr nach Beginn der Privatisierung. Hierhin verschlägt es nur selten Fremde. Wir wollen Milch kaufen. Milch gibt es nicht mehr. Stattdessen nimmt die alte Bäuerin die Gelegenheit wahr, ihr Herz auszuschütten: Ganz allein müsse sie heute zurechtkommen. Ihr Mann ist tot, die Kinder und Enkel leben in der Stadt, die Nachbarn haben mit sich selbst genug zu tun. Viele von ihnen sind ebenfalls alleingebliebene Alte. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:
take2: Bäuerin Fortsetzung (1,17) (…widitje, u nas polutschajetsja tak…)
Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, ausblenden.
Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch für sich selbst lebt: Hast du Maschinen, hast du einen Traktor und alles, dann kannst du leben. Hast du nichts, kannst du sterben. In der Kolchose waren wir alle gleich. Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet. Jetzt hat einer die Kühe, die anderen müssen viel Geld für Milch ausgeben. Alles wird gekauft, verkauft; aber das Geld ist nichts wert. So ein System ist jetzt gekommen. Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“
Erzähler: Nicht nur die Alten auf den Dörfern reden so. Ähnliche Töne kann man in den Städten auch von jüngeren Menschen hören. Mit den „Pionieren“ und den „Komsomolzen“, den Organisationen der Parteijugend, ist eine Welt zusammengebrochen, höre ich von Wladimir, einem jungen Radiotechniker aus Tscheboksary an der Wolga. Der siebzehnjährige, arbeitslose Igor nickt dazu. Viele suchen Ersatz in Banden. Dort tragen sie statt der roten Halstücher nun ihre Lederjacken.
Bei einem gemeinsamen Besuch in einem ehemaligen Pionierlager beschreibt Wladimir genauer, worin er den Verlust sieht:
O-Ton 2: Wladimir in Tscheboksary (1,40) (…Nu ja …)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.
Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird. `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen.
Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen.
Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Das war früher nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache.
Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“
Erzähler: Was von der alten Dörflerin ebenso wie den jungen Städtern beschworen wird, ist mehr als sowjetische Nostalgie. Es sind die Traditionen der Bauerngemeinschaft, die die russische Geschichte wie die keines anderen Landes der industrialisierten Welt bis heute bestimmt haben. Erst spät rückte diese Besonderheit der russischen Entwicklung ins Bewusstsein der westlichen Gesellschaften: Erste Kunde brachte um 1850 Baron von Haxthausen, ein österreichischer Gesandter am russischen Hofe. Von ihm erfuhr die westliche Welt erstmals, dass in Russland anders als in den übrigen Ländern des christlichen Abendlandes das bäuerliche Gemeineigentum mit regelmäßiger Umverteilung neben der höfischen die bestimmende Eigentumsform im Lande geblieben war. Man nannte sie „obschtschina“, Gemeinschaft, oder „mir“ nach dem Dorfplatz, auf dem die öffentlichen Versammlungen abgehalten wurden.
Der deutsche Graf Moltke schrieb wenige Jahre später in widerwilliger Faszination:
Zitator: „Innerhalb der Gemeinde gibt es nur Nutznießer. Es existiert demnach für Grund und Boden kein Erbrecht. Der Sohn erbt nicht den Acker seines Vaters. Er erhält seinen Anteil nicht kraft des Erbrechtes, sondern kraft seiner Geburt als Gemeindemitglied. Jeder Russe ist irgendwo ansässig und es gibt keinen Pöbel, kein Proletariat. Niemand ist ganz arm. Ein Vater kann alles durchbringen, die Kinder erben seine Armut nicht. Die Vermehrung der Familie, bei uns ein Gegenstand der Sorge, ist in Russland ein Zuwachs an Reichtum. Alles drängt zur frühzeitigen Heirat. Der Einzug selbst der mittellosesten Schwiegertochter ist ein Freudenfest der Familie. Sie bringt arbeitende Hände mit und für ihre Söhne werden schon bei der Geburt die Ackerparzellen dazugelegt.
Andererseits leuchtet freilich ein, dass bei dieser Einrichtung der Ackerbau nie auf eine Stufe der Vervollkommnung gelangen kann. Wer wollte Meliorationen machen. Bäume pflanzen, Drainierungen anlegen auf einem Grundstück, welches nach fünfzehn Jahren vielleicht einem anderen gehört?“
Erzähler: Reformern aller Zeiten und aller Länder waren die Dorfgemeinde aus dem zuletzt von Moltke genannten Gründen immer ein Dorn im Auge. Aber während sie in Mittel- und Westeuropa schon frühzeitig zerschlage wurde, hat sie in Russland nicht nur alle derartigen Versuche überlebt, sondern selbst die Gesellschaft nach ihrem Bild geformt.
Für den frühen russischen Zarismus war die „Obschtschina“ die einzige wirklich funktionierende und die bequemste Verwaltungseinheit in den ansonsten unüberschaubaren Weiten des Landes.
Noch in der von Alexander I. angeordneten Bauernbefreiung des Jahres 1861 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen darauf verzichtet, die „Obschtschina“ aufzulösen. Folge: Die Bauern verwandelten sich nicht in freie Lohnarbeiter wie beabsichtigt. Die Industrialisierung stockte.
Herzstück des nächsten großen Industrialisierungsschubs war der 1910 unter dem Zarenminister Stolypin herausgebende Ukas zur Ent-Kollektivierung der Bauern. Er wollte die Dorfgemeinschaften in wenige reiche Kulaken und eine Mehrheit landloser Tagelöhner, bzw. in die Städte ziehender Arbeiter spalten. Aufstände der Dorfarmen, sehr bald dann der Beginn des ersten Weltkrieges beendeten dieses Experiment.
Mit der bolschewistischen Revolution wurde die Ordnung der Bauerngemeinde zunächst als „Kol-Chose“, das bedeutet Kollektivwirtschaft, dann als „Sow-chose“, das ist die staatlich gelenkte „Kol-chose“, zur Grundorganisation des Staates erhoben.
Seine letzte, paradoxe Ausformung erhielt die Entwicklung in der großen Industrialisierungs-Kampagne, die Stalin 1929 einleitete. Sie zielte auf die Zerstörung der nach der Revolution wieder erstarkten dörflichen Selbstverwaltung. Stalin wollte die Bauern endgültig proletarisieren. Die mit der Kampagne einhergehende Zwangskollektivierung erneuerte aber zugleich die „obschtschina“. Der einzige Unterschied zu vorher bestand darin, dass sie nun unter staatliche Führung kam.
Ergebnis dieser ganzen Entwicklung ist ein „Wir“-Gefühl in der russischen Bevölkerung, das der sibirische Dichter-Patriot Stanislav Kitaiski so zu erklären versucht:
O-Ton4: Stanislav Kitaiski (1,25) … Russki Tschelowek…
Regie: Ton kurz stehen lassen, dann abblenden
Übersetzer: „Der russische Mensch hat das Christentum als eine Religion der allgemeinen Gemeinschaftlichkeit so leicht angenommen, weil er von Natur aus ein Gemeinschafts-Mensch ist.
Heute ist viel davon die Rede, dass die Persönlichkeit zuerst komme. Aber für den russischen Menschen hat das Interesse am Vaterland, am Volk immer höher gestanden als sein eigenes.
Und warum konnte der russische Mensch derart auf diese idiotische Kollektivierung reinfallen? Weil dieser Kollektivismus irgendwie schon angelegt war! Mehr als 80% der russischen Bevölkerung lebten vor der Revolution auf dem Dorf. Das hieß: kollektive Nutzung des Bodens. Das hieß: kollektive Erziehung der Kinder. Ich bin selbst auf dem Dorf aufgewachsen. In meiner ganzen Kindheit gab es keine fremden Kinder. Das waren alles unsere eigenen.
Das heißt, wenn sich da einer nicht richtig betragen hat, dann konnte ich ihn ruhig bestrafen; ich konnte ihm auch helfen, ich konnte ihn kleiden, ich konnte ihn in die Familie aufnehmen. Verstehen Sie? Da ist keine Fremdheit, sondern Gemeinsamkeit. Sogar die Kinder waren irgendwie gemeinsam. Auch wenn es die Kinder eines anderen waren und wir gar nicht verwandt waren. Das heißt, diese Gemeinschaftlichkeit machte die Menschen offen und ehrlich.“
Erzähler: Heute erlebt Russland einen erneuten Anlauf, die alten Strukturen zu zerschlagen. Diesmal unter dem Schlagwort der Überwindung des Sowjetismus. Stanislav Kitaiski sieht darin einen Versuch, der das Volk nur ratlos zurücklassen könne:
O-Ton5: Kitaiski, Forts. (0,35= (… Jest takaja Dilemma)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann ausblenden.
Übersetzer: „Heute haben wir das Dilemma: Der Mensch ist Kollektivist – und will doch Herr im eigenen Haus sein. Bezüglich des Herrn im Hause wäre ich einverstanden. Aber interessant ist doch, dass jetzt, da unsere Regierung mit Gewalt diesen Kollektivismus zerstören will, das Volk Widerstand leistet. Es will nicht.“
Erzähler: Diese Worte fielen bereits im Sommer 1992. Inzwischen ist die Krise der kollektiven Landwirtschaft offenbar. Die Privatbauern vegetieren am Rande der Existenz. Im industriellen Bereich ist es nicht anders: Die Privatisierung hat zu einer Differenzierung der Bevölkerung in 10% „neue Reiche“ und eine Mehrheit geführt, die zunehmend verelenden.
Für Aufgaben wie Straßenbau, Strom- und Wasserversorgung, Bau und Unterhalt von Schulen, Kindergärten, für Einrichtungen der Bildung und der Kultur bis hin zur Zahlung von Zusatzpensionen fehlt das Geld. Früher wurde das alles von der Gemeinschaft der Sowchosen, Kolchosen oder Betriebe für eine Gruppe von Dörfern oder eine ganze Stadt getragen. Jetzt kümmert sich niemand darum.
Unter diesen Umständen ist das diffuse Unwohlsein zu einem breiten oppositionellen Strom geworden. Inzwischen werben Gruppen wie eine „Partei der russischen Ethik“ für die Rückkehr zur „nationalen Moral“. Gemeint ist das „Prinzip Obschtschina“. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, die das Land vor dem Ausverkauf an den Westen retten könnten.
Aufrufe zu einem „Aufbau einer Bewegung der Obschtschina in Europa, eine westeuropäische Reformation“, füllen die Seiten der patriotischen Presse. Der Chef der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“, Schuganow erklärte jüngst die „Psychologie der Obschtschina“, die er „kollektivistisch, ökumenisch, korporativ und ewig erprobt“ nennt, zur Grundlage oppositioneller Reformpolitik, wenn es nicht zur Katastrophe kommen solle.
Nicht alle wollen freilich zurück in die traditionellen Formen des Kollektivismus. Vor allem unter jüngeren Intellektuellen bilden sich sogenannte „Tuzowkas“, lockere Interessengruppen, in denen von einer anderen Bewältigung der Tradition geträumt wird. Am Ufer das Baikal in Irkutsk erläutern Oleg und Sergei, Studenten aus Irkutsk, ihre Vorstellung von den neuen Gemeinschaftsstrukturen.
O-Ton6: Tuzowkis am Baikal-See (1,25) (…Nu, ja wo perwije skaschu…)
Regie: O.Ton kurz stehen lassen, langsam abblenden (ggflls. bei Wellenschlag am Schluss hochziehen und ausblenden.)
Übersetzer: „Nun, das allererste ist, das sie verschieden voneinander sind. Und dass die Initiative von unten kommen muss. Da ist ja immer noch der alte Parteiapparat. Etwas Neues ist allerdings schon möglich: Klubs müssen sich bilden, Jugendgruppen, öffentliche Vereinigungen: kulturelle, interessengeleitete, solche für die Vermittlung von Wissen, auch zu wirtschaftlichen Zwecken, eben ganz und gar verschiedene. Diese Vereinigungen müssen sich beständig miteinander integrieren, so etwas wie eine Bewegung bilden, die auf einem höheren Niveau die Arbeit koordiniert. Kulturrevolutionär könnte man das nennen, vergleichbar der Entwicklung im Westen seit Mitte der Sechziger Jahre. Aber das ist ja auch schon fast wieder ein Schema: Das Leben selbst wird es hervorbringen. Alles wird spontan kommen, denke ich. Auf Politiker darf man nicht bauen. Direktiven darf es nicht geben. Soll sich doch alles entwickeln! Wie es kommt, so wird es kommen!“
Erzähler: Aber auch für Sergei und seine Freunde ist klar: Allein ist das Leben nicht zu meistern – und auch nicht lebenswert. Freundschaft, nicht Geld müsse die Beziehung zwischen den Menschen bestimmen. Welche neuen Formen des Zusammenlebens dieses Ringen hervorbringen wird, ist offen.
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Von Kai Ehlers ist soeben erschienen:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.
Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92