Im Sommer des Jahres `94 schien es so, als ob die russische Entwicklung in ruhigere Bahnen kommen könnte. Aber die vorübergehende Stabilisierung, die der Auflösung des obersten Sowjet und der übrigen Sowjetstrukturen im Oktober 1993 folgte, droht sich als Scheinblüte zu erweisen, deren absehbares Ende nur noch tiefer in die Krise führt.
Welche Spuren diese Krise in der Landwirtschaft zieht, zeigen die Eindrücke, die Kai Ehlers bei seinem Besuch einer ehemaligen Mustersowchose in Sibirien sammelte.
A – Athmo 1: Fahrt im PKW auf der Ausfallstraße (1,20) (Fahrgeräusche, Beginn der Rede…
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, zeitlang unterlegen, abblenden
Erzähler: Nowosibirsk. Ausfallstraße nach Süden. Auf dem Weg zur Sowchose Tulinskaja, seit einem Jahr Aktiengesellschaft. Sie liegt etwa 100 Kilometer im Süden am Ufer des zum See gestauten Ob. Wassili Horn ist ihr Direktor. Früher sei Tulinskaja eine Mustersowchose gewesen, erzählt er, die größte Wirtschaft in der Region: Vier Dörfer, 22. 000 Hektar, davon 6000 gepflügter Boden, 10.000 Weideland, 1500 Kühe und 8000 Schweine. Einen Profit von 1,5 Millionen Rubel habe der Betrieb 1984 gemacht, als er dort von der Partei eingesetzt worden sei. Heute kämpfe der Betrieb um sein Überleben:
A – Ton 1: Wassili Horn (0,21) (Tschas u nas tak…
Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Jetzt ist bei uns alles auf den Kopf gestellt: Je mehr Du arbeitest, umso mehr Verlust machst du. Zurzeit ist es nicht profitabel, Milch, Fleisch oder Brot zu produzieren.“
Erzähler: Grund: Die Erlöse für die eigenen Produkte würden durch die Zwischenhändler und billige Westware immer tiefer gedrückt, die Preise für Maschinen, Treibstoff, Heizung und sonstigen Bedarf dagegen von der Inflation hochgetrieben. Die Schere gehe immer weiter auseinander. Statt Unterstützung zu leisten, verlange die Regierung auch noch irrsinnige Steuern. Die staatlichen Kredite seien nicht zu bezahlen. Früher hätte die Sowchose Straßen, Wohnungen und Produktionsanlagen gebaut. Jetzt könne sie nichts davon machen, alles verkomme:
A – O-Ton 2: Forts. Direktor (0,50) (Nu, djela w tom tscho….
… unitschtoschit wabsche russskuju natiu.)
Regie. O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer kurz hochziehen, wieder abblenden.
Übersetzer: „Auf allen Ebenen wird davon geredet, dass der Bauer wieder zum Bauern gemacht werden muss, damit er über das verfügen könne, was er selbst produziert. Damit bin ich einverstanden! Aber was jetzt geschieht, das hat es unter keiner Macht gegeben, nicht unter der zaristischen, nicht unter der sowjetischen, wo man uns abgerichtet hat. Jetzt ist angeblich alles freiwillig. Aber was heißt freiwillig, wenn man uns das Messer an die Gurgel setzt? Nein, ich habe das Gefühl, das da ein bestimmter Auftrag ausgeführt wird – ich weiß nicht, vielleicht die russische Nation überhaupt zu vernichten?“
Erzähler: Bestenfalls sei das Ganze nicht zu Ende gedacht: Wer was bei der Aufteilung des Eigentums bekomme, und wie das neu organisiert werden solle, so dass es auch weiterhin funktioniere, ohne dass der Bauer auf vollen Feldern krepiere. Auch die Umwandlung der Sowchose in eine AG sei letztlich nur ein formaler Akt:
A- O-Ton 3: Direktor Fortsetzung (1,36) (To jest, on stanowitzka sobstwennikom… …eto ponimaet swje, ne koem obrasim)
Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) hochziehen und wieder abblenden
Übersetzer: „Die Leute sind zwar Eigentümer geworden, es wurde eine Leitung gewählt, eine beratende Versammlung und ein Vorstand des Rates; persönlich bin ich das, aber als höchstes Organ fungiert die Versammlung. Das Elend ist nur, dass die Leute sich nicht als Eigentümer des Bodens oder ihres Anteils am Gesamtbesitz fühlen.“
Erzähler: Auf der Grundlage dieser ganzen Unentschiedenheiten habe sich auch die Arbeitsdisziplin gelockert, hätten Diebstahl, Raub und Suff in erschreckenden Maße zugenommen. Das ganze spitze sich schließlich in der Frage zu: Wohin mit diesen Leuten, die nicht arbeiten wollten? Und auch denen, die es nicht könnten? Zur Entscheidung dieser Frage gebe es zurzeit überhaupt keine Mittel. Er könne ja nicht einmal den Lohn auszahlen. Erst heute Morgen hätten ihm seine Fahrer die Hölle heiß gemacht. Ob er offene Konflikte befürchte? Nein, sie hätten sich geeinigt, dass man gemeinsam eine Lösung finden müsse:
Übersetzer: (2)“Wir sind alle so erzogen, dass es keine Konflikte geben darf. Der einfache Mann weiß auch gar nicht, wie er das machen soll. Die Leute spüren, dass man uns gegeneinander hetzen will. Aber hier in Sibirien wird es so was nicht geben. Die Menschen verstehen, dass die gegenwärtige Macht gegen ihre Interessen, dass sie dem Volk feindlich ist. Nein, etwas anderes beunruhigt mich: dass das Volk nach einer harten Hand verlangen könnte, einem Mann wie Schirinowski. Denn das es so nicht weitergeht wie jetzt, das ist jedem klar.“
B – Athmo 2: Sowchosenbüro, Vorplatz (1,36) (Karrengeräusche, Frage, Alter spricht… … Alter, Lachen, Karrengeräusche)
Regie: Kreuzblende mit O-Ton 4, langsam hochziehen, so dass voller Ton, wenn der Alte spricht, kurz stehen lassen, dann abblenden, am Ende des Erzählertextes langsam wieder hochziehen
Erzähler: Vor dem Büro der Sowchose wird sofort deutlich, wovon der Direktor spricht. Hier werden gerade Anteilscheine ausgegeben. Beschiss sei das, schimpft der Alte. Das Geld wolle man ihnen aus der Tasche ziehen, sonst nichts. Was könne er sich für die Scheine kaufen? Einen Dreck! Das Land gehöre doch weiter dem Staat!
Vergeblich versucht der Administrator des Ortes, der auf Wassilis Bitten gleich gekommen ist, um mit mir zu sprechen, dem Alten zuzureden: In Kürze werde ein Landgesetz verabschiedet. Dann könne er frei verfügen. Der Alte bleibt störrisch: Aber wann werde das sein? Das habe doch sooo einen Schwanz!
A – Athmo 3: Verwaltungsgebäude (0,19) (Schritte, Schlüssel, Tür…
Regie: Mit Athmo 2 verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen
Erzähler: Im Verwaltungsgebäude setzt sich die Demonstration gleich fort. Dieses mal mit dem Verwalter, einem Jakuten.
B – O-Ton 4:Dorf-Administrator (0,34) (Ja glawo Administratii mestni…
Regie: O-Ton 3 verblenden, kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Ich bin der Kopf der örtlichen Selbstverwaltung. Früher habe ich mit einem Sowjet gearbeitet. Jetzt ist der Sowjet aufgelöst. Ich bin praktisch allein.“
Erzähler; Der eigentliche Herr in Tulinskaja sei nach wie vor der Direktor. Er selbst versuche, die wenigen Mittel, die in dieser schweren Zeit noch geblieben seien, zu sammeln und für das gemeinsame Wohl einzusetzen. Aber das Meiste gehe schon für Reparaturen und Heizung weg, der Rest für Bildung. Zur Unterstützung bedürftiger Familien bleibe praktisch nichts. Jeder müsse heut sehen wie er selbst durchkomme.
Natürlich nähmen die Diebstähle zu. Dagegen könnten er und die beiden Milizionäre, die ihm unterstünden, praktisch nichts unternehmen. Auch Lohnsperren, die er über den Direktor erwirke, nützten nichts. Wie könne man etwas sperren, was es nicht gebe? Das Schlimmste aber sei der moralische Verlust.
A – O-Ton5: Adimistrator, Fortsetzung (0,35) (Demokratia, o kotorim mi goworim… … nje wischu)
Regie: O-Ton kurz hochziehen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen.
Übersetzer: „Die Demokratie von der wir so viele Jahre sprechen – in meinen Augen ist das Anarchie. Keine Gesetze. Als gebildeter Mensch bin ich für Kultur, Bildung, Glück, Gewissen. Nur dann funktioniert Demokratie. Bei uns seh ich das nicht.“
Erzähler: Für seine Alternative braucht er nur ein Wort:
A – O-Ton 6: Forts. Administrator (0,01) (Diktatura…
Regie: Keine Übersetzung
Erzähler: Auf die Frage wie und durch wen, beeilt er sich zu versichern: Ganz sicher nicht durch Schirinowski. Auch zu Stalin will er nicht zurück. Alles darf nur über Gesetze laufen! Alle Menschen haben das gleiche Recht! Das ist für ihn als Angehöriger einer nationalen Minderheit klar. Wir seien doch alle Menschen! Aber es müsse Ordnung geschaffen werden, sonst gehe Russland unter. Er sei überzeugt, dass das bald kommen werde.
A – Athmo 4: Hupen, Hunde (1,00) (Hupe, Hunde, Stimmen..)
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Ausfahrtbereit. Es soll zur Melkstation in einem der Nachbardörfer gehen. Wir warten noch auf eine Mitfahrerin. Die Männer unterhalten sich über Hunde. Ohne Hund zu leben, sei heut nicht mehr möglich, meint Wassili. Er habe drei, erzählt der Fahrer. Der Administrator hat zwei. Wassili schwärmt von einer kräftigen sibirischen Rasse. Früher sei so etwas nicht nötig gewesen. Darin ist man sich einig.
A – O-Ton 7: Wirtschafterin (1,32)
(Nu ja glowni Ökonomist… (… nje prodajom paka, Wagengeräusche)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, mach Übersetzerin wieder hochziehen.
Erzähler: Endlich geht es weiter: Die Mitfahrerin erweist sich als Hauptwirtschafterin der Sowchose. Ja, das Leben im Dorf sei schwer geworden, seufzt sie: keine soziale Sicherheit, keinerlei Garantie. In der Stadt habe man noch andere Möglichkeiten. Im Dorf gebe es keinen Ausweg! Besonders für die Frauen sei sehr es schwer, die neben ihrer schweren Arbeit, häufig in der Tierhaltung, auch noch für das Haus und die Kinder verantwortlich seien. Kindergartenplätze gebe es dank regionaler Unterstützung noch, aber dafür müssten inzwischen 15.000 Rubel hingelegt werden. Für viele sei das fast ein halber Monatslohn. Darüber hinaus sei alles sei dreifach so teuer wie in der Stadt: „Transportaufschlag“ werde das heute genannt.
Übersetzerin: „Wir bemühen uns, das Dorf so gut es geht mit eigenen Produkten zu versorgen. Wir haben ja auch einen eigenen Handelspunkt, wo wir Fleisch, Quark usw. verkaufen. Früher hatten wir auch eigene Säfte, Makkaroni und anderes dort. Zurzeit produzieren wir praktisch nichts für den allgemeinen Konsum.“
B – Athmo 5: Ankunft in der Melkstation (1,00) (Türenschlagen, Kühe, Melkanlage, Stimmen..)
Regie: Verblenden mit O-Ton 8 (Fahrtgeräusche), kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden
Erzähler: Melkstation. In zwanzig Boxen werden die Tiere hier zum maschinellen Melken zusammengetrieben. Hier arbeiten fast ausschließlich Frauen. Einer von zwei jungen Männern, die ich sehe, ist der Sohn des Administrators, den er mir stolz vorstellt. Er habe hier soeben als Mechanisator angefangen. Seit fünfundzwanzig Jahren melken wir hier schon nicht mehr mit der Hand, teilt eine Frau mir mit.
Sofort bildet sich ein Kreis um den Direktor. Ohne sich vor dem ausländischen Besucher zu scheuen, fordern die Frauen heftig ihren ausstehenden Lohn:
A – O-Ton 8: Melkerinnen (117) (potschemu nachodit Dengi… … ljöd,… njet ljöd, Gemurmel
Regie: O-Ton 9 mit Athmo 4 verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach erstem Erzähler (1) hochziehen
Übersetzerin: „Warum geht das Geld in die Steuern? Warum kommt es nicht zu uns? Sieh dir unsere zwanzig- oder dreißigtausend Rubel an! Eine Schande ist das für unser Land! Wer Kinder hat, die verdienen, wer Pension kriegt, der kann grad noch leben. Aber wovon sollen wir existieren? Das machen die paar Naturalien auch nicht wett. Das reicht ja nicht mal mehr für ein Stück Brot. Das ist kein Leben – das ist Vegetieren!“
Erzähler: (1) Nun kommt es von allen Seiten: Wovon soll ich meine Kinder ernähren? Man lässt uns einfach verhungern! Dabei hängt alles von uns ab! Das Volk ist zu geduldig! Sie haben uns vergessen! Sie lachen uns aus. Nicht einmal Eis gibt es hier, schreit eine Frau immer wieder! Wie man da arbeiten solle!
Erzähler: Der Direktor lässt den ganzen Sturm ruhig über sich ergehen. Zu mir gewandt erklärt er schließlich:
A – O-Ton10: Direktor in der Melkstation (0,15) (Nu, sowjet tscho to… … rischit)
Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer wieder hochziehen und abblenden.
Übersetzer: „Es ist so, wie ich Ihnen am Morgen gesagt habe. Die Frauen beschweren sich mit Recht beim Direktor. Aber sie wissen natürlich, dass der auch nichts entscheidet.“
B – Athmo 6: Garten des Direktors (0,30?)
(Schritte, Worte…)
Regie: Ton zügig hochziehen, nur kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Abends, Wassili zeigt mir den Garten: Apfelbäume, Johannisbeersträucher, Treibhausbeete, im Schuppen daneben zwei Kühe, ein paar Schweine, hinten im Garten das Bad. Danach führt er mich durchs Haus, ein bescheidener Flachbau. Jeder hat sein eigenes Zimmer, darauf ist Wassili besonders stolz. Hier wohnten schon immer die Direktoren. Wassili ist der vierte. Soeben wurde das Haus privatisiert. 15.000 Rubel gehen neuerdings im Monat für Miete, Strom, Gas, Wasser usw. weg. Für ihn sei das nur ein Teil seines Monatslohns, für viele dagegen ein Drittel oder sogar die Hälfte. Da wachse verständlicherweise die Unzufriedenheit.
Regie: Während der letzten Worte bereits Athmo 7 anspielen, so dass Stubenathmo deutlich wird, dann zügig abblenden
A – Athmo 7: Fernseher (025) (Fernseher, erste Worte…)
Sprecher: Nach dem Bad, während im Hintergrund der Fernseher läuft, sprechen wir darüber, was die Dörfler von der Zukunft erwarten. Wassili ist düster. Aber Unruhen? Nein:
O-Ton 11: Direktor zu Haus (0,50) (Chrestianin swegda… … potschti luboi moment)
Regie: O-Ton kurz stehenlassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) wieder hochziehen
Übersetzer: „Der Bauer ist ein besonderes Wesen. Er lebt auf dem Boden, den er bearbeitet. Der Arbeiter kann seine Arbeit hinwerfen, kann streiken. Der Bauer lässt seine Kühe nicht ungemolken, das Vieh nicht ungefüttert. Er wird immer alles in Ordnung halten. Er mag schreien und lärmen, aber niemals wird er seine Arbeit hinwerfen und streiken. Niemals, das ist sinnlos.“
Erzähler: Die schlimmste Unsicherheit bestehe darin, dass der Muschik, der einfache Mensch, zwar Initiativen ergreifen könne, dem morgigen Tag jedoch nicht vertraue:
Übersetzer: „Er glaubt nicht, dass die jetzige Politik fortgesetzt wird. Ja, wenn das so weiterginge: `Wir geben Euch Land, nehmt, macht euch selbstständig, bitte sehr! Aber er lebt in der Unsicherheit, dass möglicherweise zwei, drei Jahre vergehen. Das heißt, da kommt ein anderer ans Ruder und alles wird wieder um 180 Grad herumgeschmissen. Das kann praktisch jeden Tag geschehen.“
A – Athmo 8: Unterwegs zur Molkerei (0,37) (Fahrgeräusche, Rede…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen
Erzähler: Früh am nächsten Morgen. Auf dem Weg zur „Zeche“, der betriebseigenen Molkerei. Ihr Chef persönlich hat mich abgeholt. Erst kürzlich hätten sie die Molkerei übernommen, erzählt er. Die zentrale Butterfabrik habe sie abgestoßen. Nicht mehr profitabel. Die Molkerei sei vor gut fünfundzwanzig Jahren erbaut worden, seitdem nicht erneuert. Es müsste dringend etwas gemacht werden. Aber – kein Geld. Alle Produkte gingen praktisch unter dem Gestehungspreis weg.
B – Athmo 9: Ankunft in der Molkerei (0,48) (Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…)
Regie: O-Ton zügig hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Auch in der Molkerei arbeiten nur Frauen. Schnell haben sie uns in ihren weißen Kitteln und Kopftüchern umringt. Und nun wiederholt sich fast wörtlich die gestrige Szene von der Melkstation. Nur dass sich dieses mal der Chef der Molkerei verantworten muss. Er verspricht zu tun, was er kann. Aber die Unzufriedenheit ist unüberhörbar. 10 Tonnen Milch verarbeiten sie täglich. Früher seien es mehr gewesen.
-O-Ton11: Frauen in der Molkerei (1,00) (Ja tschitaju, tscho stala chusche… … nje seriosna prosta)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen
Erzähler: Sie glaube, dass es schlechter geworden sei, meint eine junge Frau, als ich sie zur Umwandlung der Sowchose in eine AG befrage. Klar, schlechter! stimmen die anderen zu. Das Leben war interessanter, meint eine Ältere. Alles ging schneller, ergänzt der Chef. Wenn Du etwas brauchtest, dann wurde das entschieden! Jetzt mühe sich der Direktor ab, aber nichts komme zustande. Es herrschte mehr Ordnung, fällt die junge Frau wieder ein. Alle hatten Arbeit. Wie könne man von Verbesserung reden, wenn man nicht wisse, wie man existieren solle? Heut hätten sie hier noch Arbeit, aber morgen? Und die Dividende aus den Anteilscheinen der AG hätte auch nicht viel mehr gebracht als ein paar Sonderzuteilungen für Nahrungsmittel.
Übersetzerin: „Nein, nein, das war nicht richtig, das Alte so mit Gewalt umzustürzen. Man hätte das Neue auf der Grundlage des Alten einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch Bauern bei uns geben oder sonst irgendwelche privaten Arbeiten, aber das müsste einfach parallel laufen. Aber hier haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.
Erzähler: Aber auch einen Weg zurück sehen sie nicht. Dafür sei es ebenfalls schon zu spät. Wie lange man das aushalten könne?
B – O-Ton12:Frauen, Fortsetzung (0,14) (Wi snaetje, na stolka… … nach dem Lachen
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen
Übersetzerin: „Wissen Sie, die Leute sind an das alles schon so gewöhnt, dass ich fürchte: einfach endlos.“
A – Atmo10: Molkerei, Maschinenraum, Abfahrt, Stimme
Regie: Athmo 10 mit Ton 12 verblenden, kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten, Fahrtgeräusche nach dem Erzähler verblenden
Erzähler: Ein Gang durch den Maschinenraum beendet die Führung. Alles alte Maschinen, wie ich sehen könne, Teile davon sogar aus der Zeit vor der Revolution.
Dann geht es zurück. Wenn sie den Lohn nicht bekommen, dann erschießen sie mich, sagt der Molkereichef. Recht hätten sie. Aber woher solle er es nehmen? Er müsse doch auch für die noch etwas abzweigen, die gar keine Arbeit mehr hätten.
B – Athmo 11: Im Verwaltungsgebäude, Eintritt, Publikum
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten
Erzähler: Zurück in der Verwaltung. Heute herrscht Hochbetrieb. Viele Alte warten auf die Anteilscheine für ihre Familien. Was halten sie selbst von den Neuerungen?
A – O-Ton13: Alte Frauen im Verwaltungsbüro
(Xoroscho ili nje xoroscho… … nje dawolno)
Regie: O-Ton 14 verblenden mit Athmo 11, kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen.
Übersetzerin: „Gut oder nicht gut: Irgendwie muss man ja leben. Früher in der Sowchose war es besser. Da konnte man verdienen, sich erholen. Jedes Jahr hatte man seinen Urlaub. Jetzt in der Aktiengesellschaft gibt es keinen Lohn, werden Miese gemacht. Sie arbeiten und machen Verluste – irgendwas ist daran nicht richtig. Überhaupt ist alles schwer geworden, entsetzlich schwer. Wir versuchen uns mit unserm Garten durchzubringen. Da haben wir alles. So sterben wir also nicht vor Hunger. Aber ich weiß nicht: Irgendwie habe ich das Gefühl, mein Ältester ist nicht besonders zufrieden.“
A – O-Ton 14: Babuschka, Fortsetzung (A budusche setschas nje dumajem… … takim spossobom, njet, njet!)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden, nach der zweiten Übersetzerin (2) wieder hochziehen
Übersetzerin: „Über die Zukunft denken wir zur Zeit nicht nach. Wir wissen nicht, was mit uns wird. Früher haben wir gedacht, dass es besser wird. Nach dem Krieg war es schwer. Aber dann war es besser, wirklich jedes Jahr besser. In unserem Dorf haben sie Asphalt gelegt, das Bau-Kombinat war aktiv, der Kindergarten wurde gebaut, wir hatten gute Wohnungen. Das ist alles jetzt eingefroren.“
Erzähler: Von Schirinowski aber wollen auch die beiden Alten nicht wissen:
Übersetzerin: „Gott behüte! Nein! Wofür? Das muss nicht sein! Wir haben doch viele gute Führungsleute. Nehmen Sie unseren Direktor: Solche Leute müssen ran. Vorgezogene Wahlen muss es geben. Jelzin sollte zurücktreten. Er hat viel versprochen, aber nichts gehalten. Das sind doch keine Reformen! Die Reformen waren ja nötig, aber nicht mit diesen Mitteln, so nicht, nein!“
B – Athmo12:Im Auto (Beschleunigung, Frage, Rede der Frau…)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Die Rückfahrt trete ich mit Ira und Andrej an. Sie sind im Kauf und Verkauf unterwegs. Vertreter könnte man sie nennen. Aber nicht privat, sondern für die Gesellschaft, betont Ira, um deren Erzeugnisse anzubieten. Privat würde sie es nicht machen. Erst wollen sie nicht über Schwierigkeiten reden. Dann erfahre ich aber doch:
B – O-Ton15:Vertreterin (Nam prosta ne dajut… … prosta ne dajut)
Regie: O-Ton verblenden mit Athmo 12, kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen
Erzähler: „Man gibt uns einfach keinen Platz, wo wir stehen können, dort auf dem Markt, auf den Basaren, in den Läden, an anderen Verkaufsplätzen. Das haben sie alles schon in der Hand. Uns lassen sie einfach nicht ran.“
Erzähler: Da helfe nur die kollektive Organisation, die Absprache, die gemeinsame Organisation. Früher sei das einfacher und besser gewesen, finden die beiden:
B – O-Ton16: Vertreterin, Fortsetzung (Ransche my mogli usche… … schits
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach Übersetzerin wieder hochziehen
Übersetzerin: „Früher wusstest du genau: Wenn zu einem bestimmten Ort kamst, dann nahmen die das und das und das. Jetzt ist das doch sehr anders: Jetzt hängt alles vom Preis ab und von deinen Mitteln. Ohne Geld bist du nichts mehr. Aus. Dann sitzt du fest. Früher konnte man mit ein bisschen persönlichem Geld auskommen, arbeiten, fünfe grade sein lassen, leben.“
Erzähler: Als mich Irina und Andrei in Nowosibirsk aus dem Wagen ließen, hatte ich begriffen, dass Russlands Zukunft auf dem Lande entschieden wird. Aber sie kann nur gut werden, wenn die Landbevölkerung ihr Vertrauen in ihre bisherige Lebensweise und nicht zuletzt in Direktoren wie Wassili Horn bewahrt.