Athmo 1: Straßenszene in St. Petersburg (0,30)
Regie: O-Ton langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem ersten Erzähler hochziehen.
Erzähler: Russland, Herbst 1994, St. Petersburg. Vertreter der „unversöhnlichen Opposition“ agitieren auf der Straße. Die Frau erregt sich über „Okkupanten aus dem Westen“. Sie fordert „Russland für das eigene Volk!“. Es geht um die Nation, um die Wiedergeburt des Russischen, um die „Rus“.
Erzähler: Ausgerechnet sibirische Freunde, Psychologen, mit Sicherheit keine Patrioten, überraschen mich wenige Tage später mit einer Entdeckung, die sie im Lauf des letzten Jahres in Perm am Ural gemacht hätten:
O-Ton 1: Frau aus Sibirien (junge, nachdenkliche Stimme) (2,30)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann runter, am Ende des zweiten Einsatzes der Übersetzerin kurz hochziehen.
Übersetzerin: „Dort habe ich zum ersten Mal im Leben gefühlt. was das ist: die Rus. Nicht, dass ich mich selbst als Russin gefühlt hätte. Aber ich spürte in gewissem Sinne, was das ist, russischer Geist….“
Erzähler: Dann versucht Irina zu erklären: Sie berichtet von kleinen Geschäften, in denen sie noch im letzten Jahr Berge von Ikonen gesehen habe, die aus verlassenen Häusern der Region geholt worden seien. Das habe die Regierung jetzt gestoppt. Aber immer noch könne man in den Dörfern alte Haushaltsgeräte, Bilder, Briefe, alles Mögliche finden. Das liege da einfach so herum, für niemanden nutze.
Übersetzerin: „Und überall stößt du auf Zeugen der Zone. So heißen die Gulags heute. Und dann die Radioaktivität! Die Leute wissen das alles. Es bewegt keinen. Sie leben ganz für sich. Sich abkämpfen und leiden, das ist ihr Lebensgefühl. Viele sind aus ihrem Dorf noch nie herausgekommen. Wenn man dem Muschik dort sagt, dass der Feind vor der Tür steht und dass man jetzt sofort in den Krieg ziehen muss, dann wird er einen Moment protestieren – und geht in den Krieg. Der sibirische Muschik ist ganz anders! Der geht in den Wald, versteckt sich vor dem Krieg, im besten Fall geht er zu den Partisanen.“
Regie: Hier O-Ton 2 hochziehen.
Erzähler: Wenn ich interessiert sei, schlug Ira vor, könne ich sie auf einer ihrer nächsten Arbeitsreisen nach Perm begleiten. Dann würde ich selber verstehen.
Athmo 2: Kirche in Perm, Litanei und Chor (0,32)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, allmählich abblenden
Erzähler: Perm. Die Kirche wurde erst kürzlich wiedereröffnet. Es ist der erste Ort, an den Galina Britwina, Direktorin des gewerkschaftlichen, früher städtischen Kulturzentrums, eine junge, tatkräftige Frau, mich führt, um mir zu zeigen, was Wiedergeburt russischer Kultur ist.
Der ist die Staatsgalerie: Meisterwerke der Ikonografie in einem Saal, schwer bewacht. Im Hauptgebäude eine Sammlung monumentaler geistlicher Holzplastiken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Hier ist aus der Permer Region zusammengetragen, was den Plünderungen und Zerstörungen des zwanzigsten Jahrhunderts und der letzten zehn Jahre des neuen Russland entgangen ist. Aus einem kostbaren Fotoband zur Geschichte der Skulpturen, mit denen Galina und ihre Kolleginnen mich beschenken, ergibt sich ein widersprüchliches Bild:
Sprecher: „Es ist eine Region im Abseits der Geschichte. Lange war sie nur Umschlagplatz für Naturgüter wie Salz, Felle, Honig, Fett und dergleichen, die auf den Flüssen nach Süden und Westen transportiert wurden. Hier haben sich heidnische Anschauungen lange gehalten. Erst im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wurde die Region christianisiert. Aber schon Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelte sich die Region zu einem Zentrum der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Ikonografie. Von hier gingen die Impulse zur Reichserneuerung aus, die die „Smuta“, der verwirrten Zeit nach dem Ende der ersten Dynastie beendeten und die neue Dynastie der Romanows begründeten.“
Erzähler: Mit anderen Worten: Die Permer Region, mit ihrem alten Mittelpunkt Tscherdin, wurde russischer als die im Tatarensturm untergegangene Kiewer Rus, das erste russische Reich. Aber immer blieb es das Land im Abseits, aus ausgebeutet und geschunden wurde. Die Zaren machten es zur Eisengrube Russlands, die Sowjets zum atomaren Übungsgelände. Es war Verbannungsort vor der Revolution von 1917, es war Stalins Gulag danach. Heute ist es Gefangenenlager des neuen Russland. Sehnsucht nach Geistigkeit und entseelte Realität könnten nicht extremer aufeinanderprallen als in diesem Gebiet.
Galina hofft auf Impulse der Erneuerung wie zur Zeit der historischen „Smuta“:
O-Ton2: Galina Britwina, Direktorin des Kulturhauses Perm (volle, mutig entschlossene Stimme) (0,46)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, am Schluss des Zitats hochziehen.
Übersetzerin: „Jetzt sind alle verwirrt. Jetzt wissen die Leute nicht, womit sie sich befassen sollen, was vorgeht im Lande, was in der Wirtschaft geschieht. Jetzt geht der Kampf ums Überleben, wie durchkommen und nicht verhungern. Aber ich denke, dass der Menschen nach einer gewissen Zeit für sich einen Platz in der Gesellschaft findet, und sich dann mit dem befassen wird, was ihm entspricht. Und in der Politik werden Leute kommen, die leiden für unser Russland und nicht solche, wie wir sie jetzt sehen.“
Erzähler: Maya, eine ältere Kollegin Galinas, wegen der Umstellung des Kulturhauses auf eigene Bewirtschaftung vor Kurzem zwangspensioniert, erklärt mir bei einem unserer Ausflüge, warum alles so ist, wie es ist: Die russische Seele!
O-Ton 3: Maya über die russische Seele. (melancholisch) (0,31)
Regie: langsam kommen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen.
Übersetzerin: „Das ist das, was sich der Logik nicht beugt, ein Ergebnis der Tradition. Es gibt nationale Charaktere, scheint es, die voraussagbar sind. Aber die Seele des russischen Menschen kannst Du nicht vorhersagen. Heute streitet man sich darüber. Nehmen Sie Dostojewski, auf den kommen wir wieder zurück: Seine Menschen, seine Helden. Das russische Volk handelt zunächst nicht vom Kopf, sondern aus der Seele. Es ist nicht besser als andere Völker, es ist einfach nur rätselhaft. Der Russe ist ein zerrissener Mensch, ein Mensch, bestimmt von seinem inneren impulsiven Seelenzustand. Er handelt, wie es ihm sein Gewissen eingibt, sein leidendes.“
Erzähler: Viele verschiedene Völker, viele verschiedene Charaktere seien im russischen Volk zusammengewachsen, erzählt sie, besonders auch hier in der Region, in die sich seinerzeit ganze Völker vor den Mongolen geflüchtet hätten. Verständigung, Freundschaft, Bereitschaft zur Kooperation sei daher das oberste Gebot für den russischen Menschen.
Übersetzerin: „Nehmen sie die Lieder. Da geht es um die Tafel, um die Liebe, um Zärtlichkeit. Wovon spricht das? Nationalismus sei dem Volk fremd. Die Politiker sind es, die solche Gefühle hochspielen:“
O-Ton 4: Maya singt (0,23)
Regie: Ton langsam hochkommen lassen, stehen lassen, Kreuzblende
Athmo 3: Ankunft in Tscherdin (0,38)
Regie: Kreuzblende, langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.
Erzähler: Endlich Tscherdin. Eine Nachtfahrt mit dem Zug, Stunden auf einer abenteuerlichen Flussähre, ein halber Tag in einem überfüllten Bus durch endlose Wälder und Sümpfe liegen hinter uns. Der Ort erhebt sich am Hochufer der Kama. Malerisch klettern Holzhäuser in alter russischer Holzbausweise die Hügel vom Fluss herauf. Oben auf dem Kammweg, der alten Hauptstraße, verbreiten steinerne Herrenhäuser den spröden Glanz verlassenen Reichtums. Zahllose Zwiebeltürme werden sichtbar, viele vergoldet. Sie glänzen in der Abendsonne. Sechzehn oder siebzehn seien es, erklärt Irina, die mich begleitet.
Wieso es viele Kirchen in so einem kleinen Ort gebe, frage ich eine „Babuschka“, die uns entgegenkommt.
O-Ton 5: Babuschka in Tscherdin (kräftige Stimme) (0,51)
Regie: O-Ton kurz anlaufen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzerin-Zitat hochziehen.
Übersetzerin: „Es ist eine alte Stadt. War ein Handelszentrum. Früher gab es hier Kaufleute. Die haben die Kirchen gebaut, für ihren eigenen Gottesdienst. Die hatten eigene Schiffe und Häuser. Sie haben alles selbst herangeschafft, zusammengekauft, gehandelt. Die gaben dem Volk damals, die haben für das Volk gesorgt. Jetzt gibt keiner mehr eine Kopeke.“
Erzähler: Sie selbst sei erst in den Dreißigern aus einem der Nachbardörfer zugezogen. Viele seien heute Zugereiste. Von weither habe man sie gebracht.
Übersetzerin: „Leute, die sich der sowjetischen Macht nicht beugen wollten. Vierzig Familien trieb man her, die nicht in die Sowchose wollten. Einfach im Wald abgeladen hat man sie, ohne Dokumente, ohne alles. Dann lebten sie in Baracken, in kleinen Hütten. Zum Schluss bauten sie ein Dorf. Da gab man ihnen Dokumente. Jetzt leben sie gut.“
Erzähler: Ein paar Straßen weiter begegnen uns zwei junge Mädchen. Was wissen sie von ihrem Ort? Ohne sich beim Genus ihres Kaugummis stören zu lassen, antworten sie:
O-Ton6: Junge Mädchen in Tscherdin (selbstbewusst) (0,25)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Text der Übersetzerin hochziehen
Übersetzerin: „Nun, die Stadt steht auf sieben Hügeln. Das wissen doch alle. Wie Moskau zum Beispiel oder wie Rom. Deshalb hat sie einen besonderen Wert, eine lange Geschichte. Interessant.“
Erzähler: Woher sie das wüssten? Aus der Schule, natürlich! Und ob sie hier leben wollten?
Übersetzerin: „Aber ja, hier befinden sich doch unsere Freunde, unsere Bekannten. Ich hoffe, dass wir hier leben können und nicht auswandern. Hie sind unsere Verwandten und alles. Hier ist uns alles vertraut.“
Athmo 4: Eintritt ins Jugendhaus: Treppen, Schlüssel, Tür (0,25)
Regie: Kommen lassen, stehen lassen, dann abblenden
Erzähler: Zentrum für junge Touristen. Hier ist seit langem nichts mehr berührt worden. Früher war Tscherdin ein beliebtes Ziel für Bildungsfahrten der Pioniere und des Komsomol, erzählt uns der Verwalter, verknittert, nicht ganz nüchtern. Heute komme selten noch jemand:
O-Ton 7: Verwalter des Jugendhauses (nuschelt) (0,57)
Regie: Kurz kommen lassen, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.
Übersetzer: „Aus Omsk kamen sie und sagten, das ist ja ein Dorf bei Euch. Aber das war nicht richtig. Als Tourist konnte man einiges Interessantes hier finden. Und Fische konntest Du fangen. Jetzt gibt es kaum noch welche. Mit den Pilzen ist es nicht besser. Früher hatten wir solche! Und jetzt? Es geht alles kaputt. Heute ist schon alles vorbei. Heute leben wir, wie sagt man jetzt? – nach eigenen Interessen! Es gibt keine Macht. Keiner kümmert sich. Jelzin hat ja auch anderes im Sinn. Naja, der Fisch stinkt eben vom Kopf!“ (lacht)
Athmo 5: Kirchenruine, , leichte Hammerschläge, Hall (0,30)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, dann abblenden.
Erzähler: Kirchenruine in Nyrob, noch eine Tagesfahrt tiefer im Land. Das Dach wird restauriert. Der junge Mann, der das Dach repariert ist Freigänger aus einer der nahegelegenen „Zonen“. Er stammt aus Tatarstan, dort verurteilt wegen Totschlags. Bis vor kurzem saß er dort im Gefängnis. Zur Verbüßung seiner Reststrafe wurde er jetzt hierher überführt. Seine Tätigkeit als Restaurateur beurteilt er sachlich:
O-Ton8:Freigänger (zögernd, aber klar) (0,24)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.
Übersetzer: „Ich hätte ja direkt nach Haus gehen können. Aber direkt aus dem Knast in die Freiheit, das würde schwerer für mich werden. Es ist einfach besser, wenn ich ins Dorf gehe. Es hat sich viel geändert, seit ich reingekommen bin. Das war `93: Das Geld, die Preise! Damals betrug das Gehalt 1700, jetzt zählt man nach Tausendern und Millionen. Hier kann ich mich gewöhnen und in Ruhe orientieren. Wenn die Kirche fertig ist, soll ich noch das Badehaus machen. Es ist mir egal, was ich mache. Man lässt mich zufrieden. Das ist das Wichtigste. Sie haben ja niemand. Sonst verkommt ihnen alles. Also, wenn ich rauskomme, kenne ich mich schon mit den unterschiedlichen Preisen aus, da weiß ich, wo man was wie bekommt. Es ist einfach leichter für mich.“
Erzähler: Ein Ortsansässiger bringt einen Bottich Tee. Der Kontakt ist verboten. Aber wir sind wir doch alle Menschen, oder? lacht er. Er sei Klempner, arbeitslos, erzählt er freimütig, sozusagen pensioniert, die Leute hätten kein Geld für Reparaturen. Warum er hierher komme?
O-Ton 9: Ortsansässiger (klagend, aggressiv) (028)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.
Übersetzer: „Ich sehe die Kirche nicht als gläubiger Mensch, aber als Denkmal. Das muss man erhalten. Die Kirche war sehr schön. Eine riesige Glocke gab es hier früher. Man hat sie irgendwohin geschafft, keiner weiß, wohin. Jetzt verrottet alles, fällt zusammen. Früher hatten wir etwas, worauf wir stolz sein konnten. Das brauchen wir. Wir sind ja ein kriegerisches Volk. Aber heute bringt man nichts mehr zustande. Nicht einmal eine Brücke über den Fluss schaffen sie. Wie soll sich da etwas entwickeln? Man bräuchte eine Führung, die wirklich Macht ausübt. Jetzt ist die Macht dazu übergegangen, uns auszuhungern, unseren Volksreichtum beiseite zu schaffen, kurz gesagt. Sie kaufen sich Autos für ihre Verwandten und wir bleiben außen vor, wir haben nichts. Die Menschen kennen keine Werte mehr. Wie die Barbaren!“
Erzähler: Ein paar Stunden später weiß ich, wovon der Alte gesprochen hat. Die ohnehin seltenen Busse, mit denen wir am Abend nach Tscherdin hätten zurückfahren müssen, fallen aus. Fähre defekt, heißt es. In dem kleineren Bus, der ersatzweise fährt, bekommen wir nur einen Platz, weil die „Kassirscha“ deutschstämmig ist und eine ebenfalls deutschstämmige Freundin hat.
Während wir im Kassenhäuschen warten, kommt die Freundin der „Kassirscha“ schnell noch zu einem kleinen Plausch vorbeigehuscht. Wer beschreibt mein Erstaunen, sie „russischer“ als die Russen zu finden? Der Parole von der Widergeburt russischer Kultur steht sie zwar skeptisch gegenüber:
O-Ton10: deutschstämmige in Nyrob (fröhliche Stimme) (0,40)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen.
Übersetzerin: „Ich weiß nicht ich sehe das nicht. Früher, als ich mein Institut beendet hatte und hierher zurückkam, gab es noch dieses Eigene. Man sang russische Lieder, tanzte, jetzt kennen die jungen Leute das alles nicht mehr. Ich kannte die Lieder, aber ich habe sie auch vergessen. Früher gab es hier auch ein örtliches Museum. Dort bin ich oft mit meiner Tochter hingegangen. Es ist vor zwei Jahren abgebrannt. Wohin die Exponate gekommen sind, weiß keiner. Wenn ich mich früher absolut für alles interessiert habe, so heute nicht mehr. Heut muss ich mich um unsere Wirtschaft kümmern, allein um zu überleben.“
Erzähler: Aber trotz allem, betont sie, bleibe der freundschaftsliebende Umgang der Menschen miteinander erhalten. Sicher nicht in der Stadt, aber hier im Ort. Das sei eben die russische Art: Einer helfe dem anderen. Das habe sie bei ihrer Reise nach Deutschland vermisst. Dort gebe es diese Beziehungen zwischen den Menschen nicht. Ja, ja, lacht sie, sie sei Deutsche mit russischer Seele. Was das bedeute? Das könne sie nicht erklären. Vielleicht gehe es einfach darum, sich mit anderen auszutauschen, mit jemand zu plaudern, und sei es nur, um fröhlich zu sein.
O-Ton11: Deutschstämmige in Nyrob (Lachen) (0,26)
Regie: Ton unter dem Erzählertext allmählich hervorziehen, stehenlassen, abblenden
Atmo6: Eintritt ins Kinderhaus Perm: Straßengeräusche, Pendeltüren, Hall im Foyer (0,27)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Zurück in Perm. Nach all dem Widersprüchlichen, was ich ihr von Tscherdin berichtet habe, will Maya will mir etwas Aufbauendes vorführen: Das Kinderhaus der ehemaligen Leninwerke in der Arbeitervorstadt Materwelinski. 1500 Kinder werden hier auch heute noch in einer Art Vorschule versorgt. Die frühere Unterstützung durch die Werke musste allerdings der Eigenfinanzierung weichen. Der wirtschaftliche Existenzkampf ist hart und ungewohnt. Aber man schlägt sich durch. Härter ist der Kampf um das geistige Überleben: Alexander Wassiljew, der Leiter. erklärt seine Orientierung:
O-Ton12: Direktor des Kinderhauses (kräftige Stimme) (0,27)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Erzähler wieder hochziehen
Übersetzer: „Die wichtigste Aufgabe ist die seelisch-geistige Auferstehung Russlands. Unsere Kinder lernen die Bibel kennen, die Religionen. Wir haben sogar eine Sonntagsschule, mit Elementen von Etikette. Sie lernen auch unsere Gesetzessammlungen aus dem 19. Jahrhundert kennen. Sie hören, wer was geschrieben hat. Also, da ist alles: Etikette, Ästhetik, Ethik, aber – grob gesagt – in der Praxis, also, nicht nur erzählen wie in der Schule. Und alles geht durch das Spiel. Das heißt, wenn wir irgendein Fest durchführen, dann wird daraus schon ein Spiel, den Tisch dafür herzurichten, nicht einfach nur zu sitzen und Tee zu trinken. Nein, da kommt dazu die Aufgabe, wie das gemacht wird. Wie wird der Tisch gedeckt? Welche Bestecke legt man hin? Was zuerst und was dann? Wir haben da einen Witz: Wenn in der Sonntagsschule gefragt wird: Was ist unsere beliebteste Stunde? Teetrink-Stunde! (mit kindlicher Diktion – d.V.) Und: Was werden wir heute essen? (ebenfalls mit kindl. Diktion – d. Verf.)
Erzähler: Dabei, so der Direktor, verstehe er unter russisch alles, das, was einem Menschen teuer sei, der in Russland lebe. Das schließe alle Kulturen ein. Die Isolation eines Volkes von anderen könne es in einem Land, in dem hundert Völker miteinander leben müssten, gar nicht geben.
Etwas anderes mache ihm größere Sorgen:
O-Ton 13: Direktor, Forts. (0,17)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen. Achtung: Für das Hochziehen stehen nicht mehr als 5 sec. zur Verfügung.
Übersetzer: „Ich sehe auch die Gefahr, dass die Kinder von unserer heutigen Propaganda sehr erfasst werden, wonach jeder für sich allein sein Geld verdienen muss, sogar Kinder. Das sieht so aus, dass schon die Erstklässler Zeitungen verkaufen. Damit bin ich nicht einverstanden: Wenn wir ausländische Delegationen haben, dann sind die immer besonders erstaunt über die Aufmerksamkeit, die man sich bei uns gegenseitig schenkt, über die Kollektivität, das Hand-In-Hand-Gehen. Solche Ausführungen haben mich immer erwärmt. Und so war es: Kein Mensch lebte allein, sondern war immer einbezogen, also: wenn ich Tee trinke, und ich weiß da ist noch jemand, dann tue ich das nicht allein, dann sage ich: Komm, las uns zusammen Tee trinken. Jetzt ist es so: Ich habe ein Kaugummi gekauft – das kaue ich allein, ein Eis – das teile ich nicht. Diese Tendenz macht sich jetzt bei uns breit, bedauerlicherweise. Als Erzieher bin ich dagegen. Wir streben weltweit nach Frieden, gegenseitiger Achtung, Hilfe, Liebe und so weiter – und wir selbst gehen davon ab!“
Erzähler Maya ist begeistert. Das sei Arbeit an der Wiedergeburt russsicher Kultur, meint sie. Auch unter den anderen Frauen, die mich hier herumführen, genießt Wassiljew hohes Ansehen. Im entscheidenden Punkt, der Frage Nationalismus kommt es allerdings doch zum Zwist:
O-Ton 14: Frauenrunde, Olenewna Michailowna (zarte, klare Stimme) (0,39)
Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen
Übersetzerin: „Stop! Ich habe in der Schule gearbeitet! Ich habe das alles von innen gesehen. Kinder, russische Kinder! hassten tatarische und sonderten sich von den Tataren ab. Russische Kinder gaben jüdischen keinen Zutritt, ein Jude war für sie nichts. Als ich das erste Mal davon sprach, wurde ich vorgeladen, zum KGB. Sie glaubten mir natürlich nicht. Ich hab es ihnen zeigen müssen. Man brauchte ja nur hinzusehen, dann sah man, wie es wirklich um uns steht: Die Russen sind leider Chauvinisten geworden. Und bedauerlicherweise haben sie, weil sie die Mehrheit sind, irgendwie angefangen, die anderen zu unterdrücken. Das kam ganz von oben und hat sich allmählich bis unten durchgesetzt: Feindseligkeit gegenüber anderen Nationen, ihre Unterdrückung, Erniedrigung nach dem Motto: Wir sind die Besten. Wir haben doch die beste Metro der Welt, wussten Sie das? (lacht) Wir haben das schmackhafteste Eis, das Beste Ballet. Wir haben die schönsten Frauen. So sind wir erzogen. Und leider ist das wirklich so!“
Erzähler: Es ist eine frühere Lehrerin, die so spricht, Olenewna Michailowna. Jetzt betreibt sie eine, im Westen würde man sagen, Boutique, wo sie das anbietet, was sie Volkskunst nennt. Ein bescheidener Ansatz, findet sie, das Eigene zu retten. Aber mehr sei zurzeit nicht drin.
Übersetzerin: „Heut geht es nicht um Vereinigung, sondern um eigenständige Wege. Ich war solange Mitglied in der Gewerkschaft, in der Partei usw. usw., also, konnte nicht machen, was ich wirklich wollte, dass ich heute erst mal keine neue Gruppe suche, erst recht keine patriotische Vereinigung, sondern die Möglichkeit, mich selbst entwickeln zu können, um mich selbst zu verstehen und erst einmal zu beweisen, ob ich überhaupt selbst etwas zustande bringe oder nicht.“
Erzähler: Das sage sie übrigens nicht, setzt sie leise hinzu, weil sie so ein guter Mensch, sondern weil ihr Mann Jude sei.
O-Ton: 15: Olenewna, Forts. ((0,46)
Regie: Schluss des O-Tons hochziehen, stehenlassen
Erzähler: Widerstrebend stimmen die anderen Frauen zu. Nationalistin will hier niemand sein. Aber Galina ist trotzdem nicht einverstanden mit dieser Wendung:
O-Ton 16: Galina Britwina ((0,32)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehen
Übersetzerin: „Nun, ich bin auch ein russischer Mensch, aber ich weiß, was zu tun ist. Es stimmt einfach nicht, dass Russen nicht wissen wo es lang geht. Russen wissen alles. Die Sache ist nur so: Bei uns hat sich die Sphäre der Beschäftigungen verändert. Jetzt sammeln sich die Menschen, wie ich es bei uns im Haus sehe, mehr in Kollektiven, die philosophische Richtung haben, wo man spricht, nachdenkt, bei allen möglichen religiösen Richtungen, Yoga. Man beschäftigt sich mit der Kunst Rehrichs, mit der ‚lebendigen Ethik` von Helena Rehrich, seiner Frau, mit den Untersuchungen von Blawatskaja, mit dem russischen Kosmismus. Bei uns gibt es mehrere solcher Gruppen. Früher war uns das alles verschlossen, das war ja nur im Ausland bekannt. Jetzt erobern wir uns das alles zurück. Das ist ja alles echte russische Kultur!“
Erzähler: In einem Punkt aber sind sich die Frauen einig:
O-Ton 16: Galina, Forts. (0,55)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen
Übersetzerin: „In der gegebenen Situation sind die Frauen (lacht), gewissermaßen gereift. Sie haben die Männer auf den zweiten Platz verdrängt. Sie erwiesen sich als stärker, auf moralischem Gebiet. Die Frauen sind tatkräftiger, sie sind überlebensfähiger als die Männer. Aus der einfachen Beobachtung meiner Bekannten, aus meiner Arbeit, aus dem Alltag rundherum scheint es mir klar, dass das zukünftige Russland ein Land für die Frauen sein wird.“
Erzähler: Von Galina führte der Weg direkt zu Nina Subbotina, „Poetessa“, ebenfalls ehemalige Mitarbeiterin am städtischen Kulturhaus. Sie gehöre zu den Erneuerungskräften Russlands, hatte mir Galina angekündigt.
Frau Subbottima belehrte mich zunächst heftig über den Unterschied von Faschismus und Nationalismus. Russischer Nationalismus könne nicht faschistisch sein, weil russischer Nationalismus die Idee des Vielvölkerstaates einschließe. Dann erklärte sich, mich mit einer soeben gegründeten „Partei der russischen Ethik“ bekannt machen zu wollen, die soeben aus der Bewegung der Rehrich-Gemeinden des Landes hervorgehe. In deren Programm würde ich alle meine Fragen beantwortet finden. Ohne sich lange mit eigenen Erklärungen abzumühen, begann sie aus dem Programmentwurf dieser Partei zu rezitieren. Da ich bereits wusste, dass praktisch in jeder größeren russischen Stadt heute eine Rehrich-Gemeinde existiert, hörte ich ihr aufmerksam zu:
O-Ton 17: Poetessa Subottima (starke Stimme) (0,30)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzertext (vor dem Erzähler) wieder hochziehen
Übersetzerin: „Menschen des russischen Landes! Die freche Ausplünderung des russischen Staates setzt sich fort. Glück, Gewissen, Ehre – alles wurde in Geld aufmessbar. Politisches Programm, die Unterordnung unter das goldene Kalb, liefern die vielen Völker Russlands neuem Leiden aus. Mit diesem Programm gibt es für Russland keine Zukunft. Politik und Wirtschaft sind ohne Ethik heut nicht mehr denkbar.“
Erzähler: Nach harten Worten über die Amoralität der herrschenden Macht, die auf die Nöte der einfachen Leute spucke und stattdessen volkfsfremden, aus dem Ausland importierten Rezepten folge, schließt die Anrede:
Übersetzerin: „Wir appellieren daher an alle Menschen auf russischem Boden, zu ihrer nationalen Moral zurückzukehren, die die Hoffnung und den Glauben des russischen Menschen getragen hat! Wir bitten darum, sich nicht weiter von unserer Philosophie des Volkes zu entfernen, mit der Russland tausend Jahre lebte! Unsere nationale Moral und die Philosophie des Volkes bringen das Interesse aller Schichten der Bevölkerung zum Ausdruck: der Arbeiter, der Intelligenz, der Krieger, der Geschäftsleute, der Pensionäre, der Jugend. Sie bedingen ein Programm der Stabilisierung der Wirtschaft, das ein Ende macht mit der Erniedrigung des Volkes und der Ausplünderung des russischen Staates.“
Erzähler: Nationale Moral? Philosophie des Volkes? Ich ließ meiner Skepsis freien Lauf. Aber Frau Subbottima ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: Die moralischen Prinzipien, die es ermöglicht hätten, dass Russland über 1000 Jahre als Einheit habe existieren können, referierte sie weiter, seien aus der Tradition der russischen Obschtschina, der Bauerngemeinde geflossen, die weitaus älter sei als der Staat. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, wie Mitleid, Güte, Gastlichkeit, Herzlichkeit, Lauterkeit, Gerechttigskeitsliebe. Sie alle seien aus dem Leben in der „Obschtschina“ entsprungen. Sieben moralische Prinzipien träten darüber hinaus deutlich aus der alten russischen Morallehre hervor: Geduld, Achtung, Traditionsliebe, Verantwortung, Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Vergleichbarkeit und Offenheit.
Heute gehe es darum, sich für die Wiedergeburt der alten Moral der „Obschtschina“ einzusetzen, sie in Gesetze zu gießen und den Staat dadurch zu einem moralischen und lebendigen Organismus zu verwandeln.
Einen ganz besonderen Klang bekamen Frau Subottinas Äußerungen über die Rolle der Frauen in der von ihr gewünschten neuen Gesellschaft:
O-Ton 18: Poetessa, Forts. (0,24)
Regie: Ton kommen lassen, nach der Übersetzerin hochziehen, abblenden
Übersetzerin: „Nicht alles ist so, wie es scheint. Die Achtung für den Mann gab es in Russland immer. Aber das hieß so: `Der Mann ist das Haupt, die Frau ist der Hals, wohin sie will, dahin wendet er sich!‘ Bei uns ist es unmöglich, dass der Mann nicht das Haupt ist. Wenn die Frau das Haupt ist, werden sie nicht glücklich, nie. Die Frau unterwirft sich dem Mann, sexuell, im Alltag und bei der Erziehung der Kinder, in der Art: Papa hat recht. Aber sie macht es so fein und so klug, dass er alles tut, was notwendig ist.“
Erzähler: Immer wieder in der Geschichte Russlands hätten die Frauen die Männer vertreten müssen, die als Krieger hinaus mussten. Deshalb seien die Frauen so stark geworden. Und was die Männer betreffe, so Frau Subottina, falle ihre kriegerische Erziehung, angefangen bei der Erziehung der Knaben durch die Mütter mit unter die Gebote der nationalen Moral:
O-Ton 19:Poetessa, Forts. (0,25)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen. Achtung: Für das Hochziehen stehen nur fünf sec. zur Verfügung!
Übersetzerin: „Wir können nicht auf die allgemeine Wehrpflicht verzichten und uns allein auf eine professionelle Armee stützen. Das würde bedeuten, unserem Land heute die Kräfte zu rauben, ohne die wir morgen Russland verlieren könnten. Selbst wenn auf dem Planeten der Pazifismus siegte, müsste die Armee als Schule der Männlichkeit für immer weiterbestehen…
Erzähler: Mit einem Ausblick auf die „Mystik der russischen Wiedergeburt“ entließ sie mich schließlich in die Zukunft:
Übersetzerin: „Wenn sich alle um die Verwirklichung der ethischen Prinzipien bemühen, dann wird Russland zu einer Zivilisation neuen Typs und durch Russland werden auch die übrigen Völker gerettet. Dann kann Russland in ganzer Größe wiederauferstehen, um hinter sich die Völker zu versammeln, die berufen sind zur Herausbildung einer neuen Rasse von Mensch – dem ‚homo moralis`, dem moralischen Menschen.“
Athmo 7: Moskauer Metro, kommt an(0,45)
Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, kurz stehen lassen, langsam abblenden
Erzähler: Moskau. Die Welt von Perm ist wieder am Ural versunken und mit ihr die der Frau Subbottina. Eine Skurrilität, könnte glauben, von der aus man zu den wichtigen Fragen der Tagesordnung übergehen muss. Dass dem nicht so ist, begriff ich spätestens im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ Gennadij Schuganow. Er will alle Kräfte der „unversöhnlichen Opposition“ gegen die bestehende Regierung führen, gleich ob links, rechts, vaterländisch oder religiös motiviert, wenn sie nur ein einem einer Meinung sind: dem Wunsch nach der Widerherstellung der russischen Größe mit der einzigen Einschränkung, das dies auf friedlichem und staatsbejahendem Wege zu erfolgen habe. Seine eigene Begründung dafür klingt bei allen sonstigen Differenzen, als sei sie von Frau Subottina und anderen Verteidigern einer russischen Ethik persönlich diktiert:
O-Ton 20: Gennadij Schuganow, Führer der KPRF (0,17)
Regie: stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen
Übersetzer: „Wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie der „Obschtschina“, kollektivistisch, ökumenisch, korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.“
Erzähler: Schließlich erklärte, Boris Kagarlitzki, ein überzeugter Radikaldemokrat, die Reform-Linke werde sich um ein national ausgerichtetes populistisches Programm sammeln müssen, wenn sie verlorenes Terrain wiedergewinnen wolle. Als er mir auch noch ein frisch fertig gestelltes Manuskript über die „russische Restauration“ in die Hand drückte, wurde mir klar, dass die Suche nach dem eigenen russischen Weg in ein neues Stadium tritt.
Athmo 8: Metro, fährt ab (1,07)