Atmo 1: Musik:“stranger in the night..“ (1,45)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen
Erzähler: St. Petersburg, Herbst 94. Kultur für ausländische Gäste. Russland präsentiert sich neu: Restaurants, Cafes, gefüllte Schaufenster, kleine Boutiquen, auffallend viele elegant gekleidete Menschen, vor allem jüngere; blinkende neue Autos. Ein Bekannter erzählt mir, in der Anlage-Gesellschaft mit dem unübersetzbaren Namen „MMM“ könne man innerhalb weniger Wochen seinen Einsatz verhundertfachen, ja, er wisse sogar von Fällen, in denen das innerhalb von Tagen geschehen sei. Ein plötzlicher Aufschwung, scheint es, hat das Land erfasst. Hat sich die Entwicklung normalisiert? Die Ansichten sind geteilt:
Zitat 1: Georgi, Bildhauer (1,17) (Ja ne mogu skasats… … Mjebel is Itali“)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen
Übersetzer: „Ich würde nicht sagen, normalisiert, aber Mitte Februar tauchten plötzlich eine Menge Geschäfte auf, Cafes, Restaurants. In den Geschäften gab es nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kleidung, technische Geräte. Und das in reicher Auswahl. Seit März siehst du besser gekleidete Leute. Außerdem haben sich die Läden inzwischen differenziert. Es gibt kleine Läden, wo du alles Mögliche kriegst und Spezialgeschäfte für Make up aus Frankreich, Kleidung aus Deutschland, Möbel aus Italien.“ (… Mjebel is Itali“)
Erzähler: Georgien, mein Gastgeber, Bildhauer, an einfaches und schwieriges Leben gewöhnt, ist ganz angetan von dieser Entwicklung:
Zitat 2: Goeorgi, Forts. (0,45) (Natschinajetsja kakaja… (… situati kladewitsja)
Regie: O-Ton kurz anfahren, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, ausblenden
Übersetzer: „Es beginnt eine Art Gewöhnung an die neuen Bedingungen, unter denen der Erfolg, der finanzielle, wirtschaftliche, nicht mehr von Oben abhängt, sondern von deiner eigenen Initiative: also, wo du einen Auftrag findest, ob über Bekannte oder durch Zufall, aber du musst ihn selbst finden! Wenn du eine geschickte Hand, wenn du einen Kopf hast, vielleicht eine Fremdsprache gut beherrschst oder ähnliches, dann kannst du zusätzliche Arbeit finden. Das verschafft dir auch zusätzliches Einkommen. Es ist sehr hoch im Verhältnis zum normalen Lohn. In dieser Art kommt die gegenwärtige Situation zustande.“ (… situati kladewitsja)
Erzähler: Allerdings gibt es auch Schattenseite aus Georgiens Sicht:
Zitat 3: Georgi, Forts. (0,13) (Tschas u nas god… ( … dwatzat pjat ras minimum)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.
Übersetzer: „Jetzt ist ein Jahr bei uns wie früher zwanzig oder fünfundzwanzig zur Zeit Breschnjews. Das heißt, das Tempo des Lebens hat sich mindestens um das Fünfundgzwangzigfache gesteigert.“
( … dwatzat pjat ras minimum)
Erzähler: Irina, Bibliothekarin, unverheiratet versucht die Entwicklung auch positiv zu sehen. Zwar reiche ihr Lohn immer noch nicht für größere Anschaffungen wie Fernseher und dergleichen, aber zusammen mit der Pension ihres Vaters doch für das, was sie beide zum täglichen Leben brauchten.
Zitat 4: Irina, Bibliothekarin (0,28) (Mnje kaschetsja, schto eta s odnoi… … othschen i otschen mnogim)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen
Übersetzerin: „Mir scheint, einerseits ist es offensichtlich, dass das Leben besser wird. In den Geschäften tauchen Waren auf, von denen wir früher nicht einmal geträumt haben. Aber erstens sind das alles ausländische Waren. Das ist nicht unsere heimische Produktion. Und vor allem sind da natürlich die ungeheuren Preise, die den Beutel der Meisten übersteigen.“ (…othschen i otschen mnogim)
Erzähler Alles hänge inzwischen von einem selbst ab. Das sei wahr. Vorausgesetzt, man sei gesund und jung, gebe das eine Freiheit, die man früher nicht gekannt habe:
Zitat 5: Irina, Forts. (0,59) (A wi schto kassajetsja… … kak ludi kassilis)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem ersten Erzähler (1) hochziehen
Übersetzerin: „Aber ältere Menschen und Kinder – die tun mir natürlich unheimlich leid. Die Alten haben sowieso so ein schweres Leben. Sie haben den Krieg erlebt, haben ihre Gesundheit verloren und haben schon in der sowjetischen Zeit äußerst armselig gelebt. Die haben nie eine Banane gesehen oder gegessen. Schlimm, dass ausgerechnet sie heute übrigbleiben, niemandem nutze und schlimm, dass sie nur existieren können, wenn sie leibliche Kinder haben, die auch noch soweit moralisch in Ordnung sind, dass sie sich um sie kümmern und sie nicht einfach sitzenlassen, wie es jetzt häufig geschieht. Es gibt so schrecklich viele Einsame! Unglückliche. Das macht die allgemeine moralische Degradation. Sie ist ohne Beispiel! Und was die minderjährigen Kinder betrifft, so ist die Lage einfach so, dass wir inzwischen ein sterbendes Volk sind, denn heute ein Kind zu ernähren und aufzuziehen, ist unheimlich schwer.“
Erzähler:(1)Zum Beleg zitiert Irina eine von Alexander Solschenyzin tags zuvor im Fernsehen angeführte Statistik, worauf in Russland zurzeit auf tausend Lebende nur acht Geburten kämen. Beim Tod ihrer Mutter im Jahr zuvor habe sie selbst die unverstellbare Überlastung der Friedhöfe erlebt. Im örtlichen Radio habe sie im April des Jahres zudem eine Sendung gehört, dass im Jahre 93 mehr Menschen in St. Petersburg gestorben seien als zur Zeit der Blockade. „Einfach katastrophal“, wie die Menschen heute dahingerafft würden.
(… kak ludi kassilis)
Erzähler: Einen Schock versetzt mir ein Besuch im Büro von „Solidarnost“. Das ist die Zeitung der „Föderation der unabhängigen neuen Gewerkschaften“. Eine junge Frau, Helena Rudnikowa, St. Petersburger Korrespondentin des Blattes, beantwortet meine Frage nach den Ergebnissen der bisherigen Reformen und insbesondere der Privatisierung unvermutet aggressiv:
Zitat 6: Helena, Korrespondentin (0,07) (Nu, wo pervich u nas…) … mnogo tschewo budit)
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Übersetzerin: „Nun, erstens heißt es bei uns schon mal so: `Auf jede Privatisierung kommt eine Nationalisierung!'“ Also, da kommt noch einiges auf uns zu. (… mnogo tschewo budit)
Erzähler: Und zum zweiten. Was ich denn erwarte? Dieb bleibe Dieb! Niemals könne so einer die Produktion entwickeln, der könne nur stehlen. Sergei Kurgenjan, „unser Analytiker“, wie sie sich ausdrückt, habe die Zeit seit 1991 richtig als „Ball der Diebe“, als „kriminellen Karneval“ bezeichnet. Kurgenjan ist in Russland als rechter Theoretiker berüchtigt, der für eine korporativ-faschistische Lösung nach Vorbild Mussolinis eintritt. Als ich nachfrage, was sie von dessen Thesen halte, erklärt sie statt einer Antwort darauf, sie sei Mitglied des Widerstands. Resistence, übersetzt sie, damit ich auch ja recht verstehe. Bisher seien sie allerdings ohne Waffen.
Zitat 7: Helena, Korrespondentin (0,25) (Eta lud, katorie… … nje bolsche, nje mensche)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen, wegblenden (reißt ab)
Übersetzerin: „Das sind Leute, die glauben, dass sich an der Regierung gegenwärtig Okkupanten befinden, die gegen Russland agieren. Es gibt zwei Welten, zwei Zivilisationen: der Westen und Russland. Den Osten lassen wir mal beiseite. Die haben ihre eigene Sache laufen. Sagen wir so: Die westliche Welt, allgemein gesprochen, versucht uns zu okkupieren, nicht mehr und nicht weniger.“ (… nje bolsche, nje mensche)
Erzähler: Juri Swasin, ebenfalls Korrespondent bei „Solidarnost“, von Beruf ursprünglich Lehrer, hilft uns aus der Verlegenheit, indem er erklärt, Gewerkschaften in Russland seien heute pluralistisch. Im Übrigen gebe es heute in der Tat nur zwei Lager: für oder gegen die Regierung, was soviel bedeute wie für oder gegen den weiteren Ausverkauf des Landes. Nichts anderes sei ja durch die Gaidarschen Reformen geschehen und setze sich auch jetzt fort, nur unter langsameren Vorzeichen.
Zitat 8: Juri Swagin, Korrespondent (0,48)
(Wosnamnom ludi… … rasruschetsja)
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Übersetzer: „Im wesentlichen ist es so, dass Leute, die Geld haben, Aktiengesellschaften oder andere Anlagefirmen gründen, um von denen, die wenig Geld haben, die Aktien aufzukaufen und so mehr Geld zu machen. Kaum eine der großen Kampagnen setzt ihr Geld in der Industrie ein. In der Folge fällt die Produktion in sich zusammen.“
(… rasruschetsja)
Erzähler: Praktisch sei die Produktion in den letzten zwei Jahren liquidiert worden. Die Zahl der Betriebe, die nur mit Pausen arbeiteten, die halbe Schichten führen oder zwar den Betrieb aufrechterhielten, aber nichts produzierten, nehme mit jedem Tag zu. Die wenigen neuen Betriebe würden von der Steuerlast, von nicht vorhandenen Marktverbindungen und von der Mafia niedergedrückt. Wenn sie schließlich produzierten, dann so teuer, dass sie auf ihren Waren sitzen blieben und gegen die Konkurrenz aus dem Westen hoffnungslos im Hintertreffen seien. Draußen im Lande sei es noch schlimmer.
Zitat 9: Juri Swagin, Forts. (0,28) (Poetamu mi imeem tschista… … dolga paduit moschno, Gemurmel, Lachen)
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Übersetzer: „Deshalb haben wir jetzt nicht nur einen Niedergang der Wirtschaft, sondern einen richtigen Erdrutsch.“ (… paduit moschno, Gemurmel, Lachen)
Erzähler: Die zweite Phase der Privatisierung, die jetzt eingeleitet worden sei, könne den Fall noch beschleunigen, wenn das wirklich durchgeführt werde, was angekündigt worden sei, nämlich die Schließung unrentabler Firmen. Das werde zu einer massenhaften Arbeitslosigkeit führen. Aber über Alternativen nachzudenken, sei zurzeit sinnlos. Russland sei ja ein großes Land, das lange fallen könne und in dem außerdem immer alles anders komme als irgendwelche intellektuellen Planerzirkel und auch westliche Journalisten sich das ausdenken könnten:
Zitat 10: Jzuri Swagin, Forts. (0,16) (Ja w etom smislom… … mi ejo uvidim.)
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Übersetzer: „Ich bin in dieser Hinsicht Fatalist und Nachtrabpolitiker. Ich glaube, dass die Situation selbst ihren Ausweg hervorbringt und dass das Volk am Ende seinen eigenen Weg findet. Dann werden wir ihn schon sehen.“ (… mi ejo uvidim.)
Erzähler: Immerhin war Juri jedoch bereit, mir bei einem genaueren Blick auf die Realität behilflich zu sein: In der Sowchose Fjodorowna, die als erste im Gebiet St. Petersburgs in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, will er mir die Ergebnisse der Privatisierung vorführen.
Der Direktor, erfahre ich unterwegs, ist soeben von der Belegschaft fortgejagt worden. Er hat sich im Zuge der Umwandlungen maßlos bereichert, indem er Erzeugnisse, die die Sowchose auf dem unentwickelten Markt nicht mehr loswurde, über eigene alte Kanäle verschob. Die Sowchose hat er dabei in den Ruin getrieben. Unter einem neuen Direktor soll der Weg zum Markt nun fortgesetzt werden. Aber der Elan der ersten Stunde ist dahin. Was habe die Privatisierung denn schon gebracht?
Zitat 11: Dreher in der Sowchose Fjodorowka (0,12) (Nitschewo… … Mafia)
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Übersetzer: „Nichts, absolut nichts! Nur Verschlechterungen. Es privatisieren ja nur die da oben. – Mafia!“ (… Mafia)
Erzähler: Und Boris Jelzins Versprechen, ein Volk der Eigentümer werde durch die Privatisierung entstehen sei doch nur ein Witz:
Zitat 12: Dreher, Forts. (0,19) (Sowchos kak bil… … i swjo)
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Übersetzer: „Die Sowchose ist wie sie war, nur jetzt eine AG. Alles so, wie es war, nur schlechter geworden. Die materiell-technische Basis ist hin. Die Sowchose ist nahezu auseinander gebrochen. Hält sich nur durch den Enthusiasmus der Arbeiter. Und das war’s!“ (… i swjo)
Erzähler: Sein Leben habe sich nur verschlechtert, klagt ein anderer Kollege. Und was noch komme, das wisse niemand. Er habe sein Vertrauen in die Oben verloren. Bisher sei er gegen Schirinowski gewesen, aber allmählich komme er zu der Überzeugung, dass so ein Mann hermüsse. Warum er so denke?
Zitat 13: zweiter Dreher (0,15) (Ja wam skaschu… … wot eta mnje nrawitsja)
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Übersetzer: Das will ich Ihnen sagen: Er spricht im Klartext aus, was mit der Regierung nicht stimmt, dass es Disziplin geben muss, dass jeder für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird. Das gefällt mir an ihm.“ (… wot eta mnje nrawitsja)
Erzähler: Was sich hinter den Worten Swagins vom Erdrutsch der Produktion verbirgt, macht uns Alexander Kolatschkow deutlich. Alexander ist Dreher im Kirow-Werk, mit mehr als 30.000 Beschäftigten einer der Giganten des heute auf zivile Produktion verpflichteten ehemaligen St. Petersburger militärisch-industriellen-Komplexes. Seit Gründung des ständigen Streikommitees des Werkes im Frühjahr 1994 ist Alexander auch dessen Mitglied:
Zitat 14: Alexander Kolatschow, Arbeiter des Kirow-Werkes (0,45)
(Da, ja is perwowo… … tschetirie tisatschi Rublej)
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Übersetzer: „Seit dem ersten Juni befinden wir uns im kollektiven Urlaub. Im Juli gab’s dann mal Arbeit. Danach wurden wir wieder in den Zwangsurlaub geschickt. Für jeden Arbeitstag bekommen wir 1000 Rubel Unterstützung. Das macht 24.000 Rubel im Monat.“ (… tschetirie tisatschi Rublej)
Erzähler: Bei Alexander versteht man auch besser, was es mit den „zusätzlichen Arbeiten“ auf sich hat, von denen Georgi spricht. Auf die Frage, wie er von 24.000 monatlicher Kompensation mit seiner Familie leben könne, seufzt der junge Mann:
Zitat 15: Kirow Arbeiter, Forts. (0,48) (Atem einziehen, Ah, mi… …kakimto obrasim krutitsja)
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Übersetzer: „Also, wir Russen sind so ein Volk, das zufrieden ist mit Nichts und Wenig. 24.000, das reicht ja gerade, um zwei Laibe Brot am Tag zu kaufen. So muss man also irgendwelche „linken“ Arbeiten finden, obwohl auch das sehr schwierig ist. Es gibt bei uns ganze Brigaden, die etwas gefunden haben, mit wöchentlichem Lohn. Das sind sehr gute Bedingungen. Aber die Masse der, sagen wir, Zugereisten weicht auf das Land aus. Davon existieren sie. Und die, die hierbleiben, müssen ganz schön rotieren.“ (…kakimto obrasim krutitsja)
Erzähler: Seit drei Jahren gehe das nun schon. Nach Gesetzen der Ökonomie müsse das Werk schon lange pleite sein. Praktisch werde es aber aus irgendwelchen schwarzen Kassen erhalten, außerdem würden Liegenschaften an Banken, Gesellschaften, an ausländische Kapitalgeber und sonst wen verpachtet. Von all dem Geld sähen die Arbeiter jedoch nichts. Das gehe alles in die Verwaltung. Alexander nennt die Forderungen des Streikkomitees: Wiederherstellung der Staatskontrolle über die großen Betriebe, Subventionierung durch staatliche Auftragsvergabe. Bürgermeister St. Petersburgs, Anatoli Sobschtschak habe Hilfe versprochen, ebenso wie Viktor Tschernomyrdin, den das Streikkomitee zusammen mit Vertretern anderer Betriebe in Moskau aufgesucht habe. Geschehen sei nichts:
Zitat 16: Kirow Arbeiter, Forts. (0,40) (Ja ponjal tak … … na etom projed listom)
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Übersetzer: „Ich verstehe das so: Auf Worte hört die Regierung gegenwärtig nicht! Es gibt massenweise Forderungen von überall aus dem Land. Aber die anstehenden Fragen werden nicht entschieden. Damit darf man sich nicht abfinden! Dann muss man eben auf eine allgemeinere Ebene kommen, um Russland vor dem Untergang zu bewahren: Rücktritt der Regierung. Und alle Kräfte sammeln, die in diese Richtung orientieren.“ (… na etom projed listom)
Atmo 2: Maschinen und Kettengeräusche (0,43)
Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden
Erzähler: Ein paar tausend Kilometer tiefer im Land: Borodino im südsibirischen Kohlebecken. Größter Tageabbau der russischen Föderation. 25.000 Einwohner hat die Stadt, die davon lebt. Aber der Lärm täuscht: Hier werden nur Aufräumarbeiten gemacht. Viktor Kofienko, stellvertretender Direktor, zeigt mir die Grube. Als Russe deutscher Abstammung lässt er sich nicht nehmen, seine Erläuterungen auf Deutsch zu geben:
Zitat 17:Tagebau (0,53 = Echtzeit des gesamten O-Tons) (Fahrgeräusche, „Das ist unnormal… … Nje!, Fahrgeräusche)
Regie: O-Ton verblenden, ohne Übersetzung stehenlassen bis zum Ende, verblenden (das Folgende ist eine Widergabe des O-Tons)
Kofienko: „Das ist unnormal. Alles steht hier. Alles steht.“
Autor: „Wie lange ist das jetzt schon so?“
Kofienko: „Das zweite Jahr ist es so. Bis drei Monate kriegen die Leute ihr Geld nicht Milliarden Rubel fehlen jetzt. Die Kohle ist schon raus aus dem Tagebau, der Ras-Res, das ist schon verbrannt. Aber das Geld haben sie nicht abgegeben. Sie haben kein Geld.“
Autor: „Moskau bezahlt einfach nicht?“ Kofienko: „Nje!“ (… Nje!, Fahrgeräusche)
Erzähler; Mit den übrigen Kunden sei es nicht anders:
Zitat 18: Fortsetzung Kofienko im Tagebau (0,40) (Fahrgeräusche, „Der Transport können…
…jetzt die Situation, Fahrgeräusche)
Regie: O-Ton verblenden, ohne Übersetzung stehenlassen bis zum Ende, abblenden (das Folgende ist eine Widergabe des O-Tons)
Kofienko: „Den Transport können sie nicht bezahlen, für die Kohle können sie nicht bezahlen. Sie hat kein Geld. Das kann ich gar nicht verstehen, was da passiert ist. Wo ist das Geld? Autor: „Ja, wo ist das Geld. Ich habe zum Beispiel gesehen: `MMM'“. Kofienko: „Ja, MMM hat Geld. So viel wie sie wollen.“ Autor: „Aber es wird nicht angelegt“. Kofienko: „Ich denke so der Schweiz oder so. Die Kommerzfirmen machen es alle so: fahren das Geld raus aus dem Land. Da kaufen sie die Dollars, fahren sie aus dem Land. Und die Leute sitzen, können sie nicht kaufen. Das Geld ist verdient. Sie können es nicht kriegen.“ Autor: „Und was ist mit den anderen Fabriken, die hier im Gebiet von der Kohlegewinnung abhängig snd? Stehen die auch still?“ Kofienko: „Ja, alles steht, fast alles. Und die, die nicht stehen, arbeiten ohne Geld.“ Autor: „Und jeden Tag erscheinen neue 10.000 Rubel-Noten. Wenn ich das richtig verstehe, dann ist es so, dass die Produktion steht und verfällt, aber Geld gedruckt wird?“ Kofienko: „Ja, das Geld kommt nicht zu uns. Das Geld ist alles in Moskau. Jeden Tag gibt es Prozente, Prozente und sie fahren alles raus. Alles aus dem Land. So ist jetzt die Situation.“ (…jetzt die Situation, Fahrgeräusche)
Erzähler: Bei ihm zu Haus, bei einem Tee, setzt er seine Eläuterungen fort, diesmal auf Russisch:
Zitat19:Tagebau-Direktor, zu hause (0,50) (U nas paradoxalnaja situatia… … mi ne moschem pradats)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen
Übersetzer: „Wir haben eine paradoxe Situation: Unsere Kohle ist die billigste in Russland, das bedeutet, die billigste in der Welt. Wir haben unglaublich einfache Abbaubedingungen. Aber heute sind die Tarife der Eisenbahnen derart hoch, dass wir unsere Kunden in Wladiwostok, in der Ukraine, in der Slowakei usw. nicht beliefern können. So ergibt sich die Situation, dass die billigste Kohle der Welt nicht verkauft werden kann.“ … mi ne moschem pradats)
Erzähler: Kofienko kritisiert die Politik der Regierung: Überall auf der Welt werde der Kohlbergbau staatlich unterstützt. In Russland würden dagegen immer höhere Steuern erhoben und die Preise für Verkehr, Gas, Strom usw. ins Gigantische getrieben. Mehr noch, nach der Privatisierung halte „Moskau“ jetzt die Aktienmehrheit in Borodino und benutze den Betrieb zur Schuldentilgung im Ausland. Die Grube müsse fast kostenlos liefern, zum Beispiel nach Ungarn. So komme es, dass der rentabelste Tagebau Russlands heute praktisch nur Schulden einfahre.
Die Frage, wie es unter diesen Umständen zu erklären sei, dass auch an Borodino der neue Reichtum nicht vorübergegangen sei, insbesondere dass an allen Ecken und Enden gebaut werde, vor allem kleine Einfamilienhäuser, antwortet Kofienko:
Zitat 20: Kofienko zuhause (0,50) (Eta jeschtscho odin… … ni kamu nje iswestna)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, am Schluss des Übersetzers hochziehen
Übersetzer: „Das ist auch wieder so etwas, was bei uns in Russland ebenso wie im Westen niemand verstehen kann. Die Situation ist so: Früher hatten wir Geld, normales Geld, mit dem man normal bezahlen konnte. Es gab nie ernsthafte Probleme mit den Grubenarbeitern. Jetzt, wo es keine Ausrüstung gibt, praktisch keine Aufträge, keinen Lohn, kommen sie natürlich zu uns. Aber außer Kohle können wir ihnen nichts geben. Wir haben jetzt in Russland überhaupt so eine Erscheinung, nennen wir es Feudalismus, ich meine die Auszahlung des Verdienstes in Naturalwerten: Da wir den Lohn nicht zahlen können, verpflichten wir unsere Schuldner, in Naturalien zu liefern: etwa die Zementfabrik, die Ölraffinerie, das Sägewerk, auch die Lebensmittelwerke. Das betrifft Betriebe hier aus dem Kreis, aber auch aus anderen Regionen und sogar aus dem Ausland. Sie verstehen. Das Material geben wir an unsere Belegschaft weiter. Das ist eine Art von Wirtschaft, von der keiner weiß, was das ist.“ (… ni kamu nje iswestna)
Erzähler: Nach einer Alternative befragt, ist er ratlos. Vielleicht Helmut Kohl ins Land holen oder Margaret Thatcher? versucht er zu scherzen. Dann wird er ernst:
Zitat 21: Kofienko, Ende (1,23) (Nje predstawlaju… … Tschernobl)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, Am Schluss des Übersetzers hochziehen
Übersetzer: „Ich habe keine Vorstellung davon. Ich weiß nur eine Antwort: Man muss arbeiten. Bei uns will ja heut niemand arbeiten. Alle wollen Dividende. alle wollen Profit, wollen handeln. Heute findest du keinen Arbeiter für die Produktion, die Werkbank, die Fabrik. Sie verhalten sich alle wie die Kinder, die „Snikers“ haben wollen: kaufen, verkaufen, nichts investieren, aber Prozente kassieren. Das versteht man bei uns heute als den Weg unserer Entwicklung. Die Produktion krepiert dabei einfach. Wenn die Regierung keine Entscheidungen trifft, wird Borodino streben. Wenn Bododino stirbt, dann friert auch Krasnojarsk ein und gleich nebenan Krasnojarsk 45 mit seiner geheimen Produktion, die etwas noch Schlimmeres als ein neues Tschernobyl hervorbringen könnte.“ (… Tschernobl)
Erzähler: Noch härter als Borodino hat es das auch im Krasnojarsker Gebiet gelegene Tscharypowa getroffen. Die Stadt wurde erst Anfang der achtziger aus dem Boden gestampft. Sie sollte der Mittelpunkt eines Jahrhundertprojekts werden. Geplant war der Ausbau des Krasnojarsker Gebiets zum Wärme-Kraftwerk-Zentrum, das nicht nur Russland, sondern Europa und Asien versorgen könnte. Von den zehn geplanten Einheiten wurde allerdings nur eine gebaut und davon auch nur ein Block. Selbst der muss im Sommer abgeschaltet bleiben, da seine Betriebskosten aus dem Bedarf der umliegenden Städte und industriellen Abnehmer nicht gedeckt werden können. Für Tscharypowa gilt dasselbe wie für Borodino; hier ist nur alles noch viel krasser: In den Läden Westwaren, am Stadtrand Baustellen für Einfamilienhäuser, aber die auf breiter Fläche begonnene fieberhafte Neubautätigkeit der Pionierzeit ist über Nacht erstarrt. Hier werden der Eiseshauch und die tiefe Ratlosigkeit spürbar, die sich trotz allen Geredes von Intensivierung und Modernisierung über das Land gelegt haben. Konstantin Smol, Veteran der Gewerkschaft und ehemaliger Direktor der Arbeitsverwaltung des geplanten Giganten, kann sich nur noch in ätzenden Spott retten, wenn er an die Parole „Intensivierung statt Tonnenideologie“ aus den Anfängen der Perestroika zurückdenkt:
Zitat 22: Gewerkschaftssekretär in Tscharypowa (0,58) (Nu, sobstweni gawerja… … ismenilos is sa eto period, Lachen)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Zitat kurz hochziehen mit folgendem O-Ton verblenden
Übersetzer: „Nun, klar, geredet hat man darüber. Einen Plan zur Intensivierung gab es. Aber da scheint es Probleme gegeben zu haben: es war wohl einfacher, die Preise zu erhöhen, als die Produktion umzustellen. Ryschkow war auf dem richtigen Weg: Schritt für Schritt, evolutionär. Das wären neue Methoden gewesen. Ein Unglück, dass er nicht geblieben ist. Er war ein heller Kopf. So sind wir den alten Weg gegangen, genau wie 1917 und werden ihn weiter so gehen, nur mit anderen Vorzeichen: Damals sollten alle Reichen arm werden, heute alle Armen reich. So! Das ist alles. Mehr hat sich nicht geändert in diesem Land seit dieser Periode.“ (… ismenilos is sa eto period, Lachen)
Zitat 23: Gewerkschafter, Forts. (0,50) (A wot destwitelno… … wsjo delani iskustwenna)
Regie: O-Ton mit Ton 21 verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Zitat wieder hochziehen.
Übersetzer: „Wenn man die Produktion wirklich modernisiert, wirklich effektiviert hätte! Wenn man auf dieser Grundlage vorsichtig den Übergang zu marktwirtschaftlichen Beziehungen gesucht hätte, also mit Möglichkeiten der Konkurrenz, mit innerem Markt, mit äußerem Markt, dass wir zum Beispiel nicht nur italienische Schuhe einführen müssten! Das können wir doch alles selbst! Aber das wurde nicht gemacht, nur das Alte zerstört! Ich kann mich erinnern, wie wir seinerzeit, Anfang der Achtziger loslegten: Selbstbewirtschaftung, Schulung, Unterricht in Marktbeziehungen. Ich habe selbst vor Kollegen darüber gesprochen, was es heißt, Geld zu verdienen, zu erarbeiten, zu produzieren – und nicht einfach Geld aus Geld zu machen wie das jetzt läuft. Aber dann hat man von einem Tag auf den anderen die Preise freigegeben – fraß oder stirb: freier Markt! Dabei rausgekommen sind die großen Handelsstrukturen, riesige Investitionsgesellschaften, `MMM‘ und andere, Millionäre und Milliardäre in wenigen Jahren. Aber alles in so kurzer Zeit hoch gepuscht. Bluff! Alles künstlich aufgeblasen.“ (… wsjo delani iskustwenna)
Erzähler: Eine Scheinblüte also? So könne man es nennen, bestätigt der Alte. Der Zusammenbruch werde nicht auf sich warten lassen.
Athmo 3: Auto Fahrt, Verkehrslärm, erste Worte) (1,20)
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Erzähler: Den Zustand der Landwirtschaft, der in Fjodorowna schon ansatzweise erkennbar wurde, führt mir Wassili Horn vor Augen. Er ist Direktor der Sowchose Tulinskaja, auch sie seit einem Jahr Aktiengesellschaft. Sie liegt etwa 100 Kilometer im Süden am Ufer des zum See gestauten Ob. Früher sei Tulinskaja eine Mustersowchose gewesen, erzählt Wassili während der Fahrt dorthin, die größte Wirtschaft in der Region: vier Dörfer, 22. 000 Hektar, davon 6000 gepflügter Boden, 10.000 Weideland, 1500 Kühe und 8000 Schweine. Einen Profit von 1,5 Millionen Rubel habe der Betrieb 1984 gemacht, als er dort von der Partei eingesetzt worden sei. Heute kämpfe der Betrieb um sein Überleben:
Ton 24: Wassili Horn (0,21) (Tschas u nas tak…
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Übersetzer: „Jetzt ist bei uns alles auf den Kopf gestellt: Je mehr Du arbeitest, umso mehr Verlust machst du. Zurzeit ist es nicht profitabel, Milch, Fleisch oder Brot zu produzieren.“
Erzähler: Grund: Die Preise, die die Sowchose für ihre Produkte erzielen kann und die für Ausrüstung, Gas, Öl, Strom usw. gehen immer weiter auseinander. Aber statt Unterstützung zu leisten, verlange die Regierung auch noch irrsinnige Steuern. Die staatlichen Kredite seien nicht zu bezahlen. Früher habe die Sowchose Straßen, Wohnungen und Produktionsanlagen gebaut. Jetzt könne sie nichts davon machen, alles verkomme:
O-Ton 25: Forts. Direktor (0,50) (Nu, djela w tom tscho… … wabsche ruskuju natiu)
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Übersetzer: „Auf allen Ebenen wird davon geredet, dass der Bauer wieder zum Bauern gemacht werden muss, damit er über das verfügen könne, was er selbst produziert. Damit bin ich einverstanden! Aber was jetzt geschieht, das hat es unter keiner Macht gegeben, nicht unter der zaristischen, nicht unter der sowjetischen, wo man uns abgerichtet hat. Jetzt ist angeblich alles freiwillig. Aber was heißt freiwillig, wenn man uns das Messer an die Gurgel setzt? Nein, ich habe das Gefühl, das da ein bestimmter Auftrag ausgeführt wird – ich weiß nicht, vielleicht die russische Nation überhaupt zu vernichten?“ (… wabsche ruskuli natiu)
Erzähler: Bestenfalls sei das Ganze nicht zu Ende gedacht: Wer was bei der Aufteilung des Eigentums bekomme, und wie das neu organisiert werden solle, so dass es auch weiterhin funktioniere, ohne dass der Bauer auf vollen Feldern krepiere. Auch die Umwandlung der Sowchose in eine AG sei letztlich nur ein formaler Akt:
O-Ton 26: Direktor Fortsetzung (1,35) (To jest, on stanowitzka sobstwennikom… … ne koem obrasim)
Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) hochziehen und wieder abblenden
Übersetzer: „Die Leute sind zwar Eigentümer geworden, es ist eine Leitung gewählt, ein Sowjet, ein Vorstand des Sowjet; persönlich bin ich das, aber als höchstes Organ fungiert die Versammlung. Das Elend ist nur, dass die Leute sich nicht als Eigentümer des Bodens oder ihres Anteils am Gesamtbesitz fühlen.“
Erzähler: Auf der Grundlage dieser ganzen Unentschiedenheiten habe sich auch die Arbeitsdisziplin gelockert, hätten Diebstahl, Raub und Suff in erschreckenden Maße zugenommen. Das ganze spitze sich schließlich in der Frage zu: Wohin mit diesen Leuten, die nicht arbeiten wollten? Und auch denen, die es nicht könnten? Zur Entscheidung dieser Frage gebe es zurzeit überhaupt keine Mittel. Er könne ja nicht einmal den Lohn auszahlen. Ob er größere Konflikte befürchte?
Übersetzer:(2) „Nein, wir sind alle so erzogen, dass es keine Konflikte geben darf. Der einfache Mann weiß auch gar nicht, wie er das machen soll. Die Leute spüren, dass man uns gegeneinander hetzen will. Aber hier in Sibirien wird es so was nicht geben. Die Menschen begreifen, dass die gegenwärtige Macht gegen ihre Interessen, dass sie dem Volk feindlich ist. Nein, etwas anderes beunruhigt mich: dass das Volk nach einer harten Hand verlangen könnte, einem Mann wie Schirinowski. Denn das es so nicht weitergeht wie jetzt, das ist jedem klar. In keiner Weise!“ (… ne koem obrasim)
Erzähler: In den nächsten Tagen sah ich es mit eigenen Augen: Wo wir hinkamen, wurde der Direktor wegen nicht gezahlten Lohnes, mangelnder Versorgung und fehlender Arbeitsmaterialien zur Rede gestellt, wurde nach hartem Durchgreifen verlangt. Wenn es bisher bei scharfen Worten bleibt, dann deswegen, so Wassili Horn, weil die Leute wüssten, dass ihr Direktor auch nichts entscheide.
Atmo 4: Metro(1,30)
Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen
Erzähler: In den analytischen Zentren wird die Krankheit des Landes inzwischen klar benannt. So etwa im St. Petersburger finanz-wirtschaftlichen Institut, Abteilung regionale Diagnostik, wo man sich seit Jahren mit „Monitoring und Überwachung der Reform“ befasst. Hier bekommt das Stichwort der künstlichen Blüte, das der alte Gewerkschafter in Tscharypowa gegeben hat, konkretere Gestalt. Nur 10% der Bevölkerung hätten die Mittel, sich die angebotenen Waren zu kaufen: Nomenklatura, die neuen Reichen, im Volksmund „neue Russen“ genannt, ein schmaler Dienstleistungsbereich und eine kleine Schicht qualifizierter Arbeiter. Auf die Frage, woher das Geld komme, erklärt Natalja Petuchowa, eine Mitarbeiterin des Instituts:
Zitat 27: Natalja Petuchowa, finanz-wirtschaftl. Institut (0,48) (Ja dumaju… … sarabatnaja plata, ponimaetje?
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Übersetzerin: „Ich denke, als erstes verkauft man große Menge Ressourcen. Zum zweiten bringen die, welche die Ressourcen verkaufen, dafür Waren aus dem Westen heran und sie sind natürlich interessiert daran, eine zahlungsfähige Nachfrage zu schaffen. Sie wollen, dass die Waren gekauft werden. Ich denke, dass einfach Geld gedruckt und in der Bevölkerung in Umlauf gebracht wird. Der Mechanismus ist natürlich komplizierter. Im Prinzip ist es aber so: Es geschieht einfach eine Erzeugung von Geld aus Geld. Die Unternehmen sind praktisch bankrott und trotzdem gibt man ihnen Kredite, um Lohn auszuzahlen. Sie verstehen?“ … sarabatnaja plata, ponimaetje?
Erzähler: Andererseits, fügt sie hinzu, wirkten natürlich die nicht gezahlten Löhne auch wie ein gewaltiger Kredit, den man der Bevölkerung zwangsweise aus der Tasche ziehe. Die Arbeit sei ja geleistet, aber bezahlt werde nicht. In Bezug auf den Boden sei es noch komplizierter, aber im Prinzip das Gleiche: Obwohl es noch keine gesetzliche Grundlage dafür gebe, würde von städtischen Spekulanten im Zuge der Privatisierung der Sowchosen und Kolchosen Land zu Spottpreisen erworben und mit enormen Gewinnen verpachtet oder weiterverkauft, in vielen Fällen auch an Ausländer, ohne es in die Produktion oder Weiterentwicklung zu stecken. Dass dies die Vernichtung der Kolchosen bedeute, sei ja ohnehin klar und auch beabsichtigt.
Zitat 28: Petuchowa, Forts. (1,06) (Eta snatschit… … skromno, no dostoino?)
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Übersetzerin: „Es bedeutet aber die Vernichtung der Landwirtschaft als Branche überhaupt ihre Unterordnung unter die vollkommene Abhängigkeit vom Westen. Noch ist das nicht so, aber die Tendenz ist vollkommen klar. Das Ganze ist natürlich eine katastrophale Situation.“
Erzähler: Aber Russland, relativiert auch sie dann, wie vor ihr schon der Gewerkschafter Juri Swagin und andere, sei ja ein reiches Land, das lange von seinen Vorräten leben könne. Das gelte für die Ressourcen des Landes ebenso wie für jede einzelne Familie, die jetzt auf Kosten der Dinge lebe, die sie sich vor Beginn der Reformen angeschafft hätte. Und schließlich stelle sich überhaupt die Frage:
Übersetzerin: (2) „Muss das alles so sein? Der russische Mensch hat ein anderes Verhältnis zu Reichtum und Geld. Geld kommt erst an zweiter Stelle. Jedes Volk hat seinen nationalen Charakter. Und der wird sich durchsetzen. Warum müssen wir leben wie in Amerika? Kann man nicht so leben: bescheiden, dafür aber würdig?“ (… skromno, no dostoino?)
Erzähler: Boris Kagarlitzki, analytischer Kopf der Reformlinken aus Moskau, sieht es schärfer. Er spricht nicht nur von Scheinblüte. Auf die Frage, warum die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbreche, antwortet er:
Zitat 29: Boris Kagarlitzki (0,59) (No, wo pervich Rossije…
… ot sapadnem modellom otdalilas)
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Übersetzer: „Nun, erstens ist Russland kein kapitalistisches Land. Aber ich sage noch mehr: Heute ist Russland in seinem wirtschaftlichen Mechanismus weitaus weiter vom Westen entfernt, als, sagen wir, 1991. Das ist spürbar. Es findet eine Primitivisierung der Wirtschaft statt. Der einheitliche innere Markt ist zusammengebrochen. Elementare Bedingungen der, sagen wir, Vermittlung von nichtselbständiger Arbeit entfallen, wenn die Menschen keinen Lohn mehr bekommen. Es gibt keinen Arbeitsmarkt. Die Menschen arbeiten nicht, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern aus anderen Gründen. Aus Abhängigkeit, aus Tradition usw. Das heißt, in diesem Sinne hat sich Russland in den letzten zwei Jahren allgemein vom westlichen Modell entfernt.“ … ot sapadnem modellom otdalilas)
Erzähler: Russland sei heute eher einem asiatischen oder afrikanischen oder sonst einem Land der früheren dritten Welt ähnlich. Nicht einmal mit Brasilien oder Argentinien sei es vergleichbar, schon eher mit Indien oder dem Iran sei es vergleichbar. So ein Land, bestätigt Boris sarkastisch, könne mit einer zerstörten Wirtschaft sehr lange existieren und wenn notwendig, überhaupt ohne Wirtschaft.
Was damit konkret gemeint sein könnte, demonstriert das neueste Krisenlösungsmodell der Bauernpartei, das Wladimir Lewaschow, verantwortlicher Gewerkschaftssekretär des Nowosibirsker Agrar-Industriellen-Komplexes mir vorstellte. 80% der Landwirtschaft, Sowchosen wie privater Neubauern, steckten hoffnungslos in der Krise. Sie und im Ergebnis praktisch ganz Russland seien zum Untergang verurteilt, wenn keine kollektiven Rettungsmaßnahmen ergriffen würden. Die Bauernpartei habe daher die Schaffung eines „Departements für Produktion“ vorgeschlagen, was allseits mit Sympathie und Hoffnung aufgegriffen werde. Lewaschow erläutert das Modell:
Zitat 30: Gewerkschaftssekretär, Nowosibirsk (1,49) (Departement prodowolstwo… …ras mnogi, mnogi stepenje)
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Übersetzer: „Das Departement für Produktion, das jetzt gebildet werden soll, wird logischerweise alle Ketten zusammenschließen: Die Produzenten, finanziert von der Gläubigerbank der Administration, die Konsumenten, alle einzelnen Bewirtschaftungseinhheiten. Ein einfaches Beispiel: Das Departement sagt: Sie haben Milch gebracht, abgegeben im Butterkombinat. Wofür brauchen sie Geld!? Doch nur für Lohn. Aber vielleicht brauchen sie Kühlschränke, Autos? Wir werden ihnen über das System der Gläubigerbank und durch das Departement der Produktion alle diese Produkte überstellen. In dieser Weise verringert sich der Geldumlauf um viele, viele Stufen.“ ( …ras mnogi, mnogi stepenje)
Erzähler: Hier wird die Reduzierung der Wirtschaft auf den Naturaltausch und ein von oben geregeltes Zuteilungssystem zum Prinzip erhoben. Was könnte deutlicher machen als dieses Modell, dass die russische Entwicklung auch heute anderen Wegen folgt als denen der westlichen Marktwirtschaft? Hier werden nicht in erster Linie wirtschaftliche, sondern nach wie vor politische Lösungen gesucht, und zwar auf der Basis einer patriarchalen Grundorganisation des Lebens. Sie ist durch die neu entstandenen Verhältnisse nicht geschwächt, sondern eher verstärkt worden. Welche Regierungsform das annehmen wird, ist zurzeit offen.
Bitte denken Sie auch dieses mal an mein Buch, das in diesen Tagen erscheint:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.