Mitte Januar erschien die deutsche Übersetzung des tschuwaschischen Epos „Ylttanbik – der letzte Zar der Wolgabolgaren.“, Untertitel: „Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts“ auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Herausgeber Kai Ehlers zusammen mit Christoph Strässner und Eike Seidel, Verlag „Rhombos“, 39,80 €.

Mit dem Buch tritt eine Seite der eurasischen Geschichte hervor, die unter der heute herrschenden, das heißt konkret, unter der sowjetischen, davor russischen und, wenn wir noch weiter zurückgreifen wollen, unter der mongolischen Geschichtsschreibung verschüttet war. Als Geschichte von unten, die über Jahrhunderte nur in Legenden, Liedern und Gebräuchen überleben konnte, ist dieses Epos geeignet einen neuen Blick auf die Vielvölkergeschichte Russlands und deren heutige Realität zu öffnen.

Darüber hinaus kann es helfen den Blick auf das Problem ethnischer und nationaler Identitäten generell zu schärfen, zumal mit dem Epos um „Ylttanbik“ zugleich ein früheres Epos der Tschuwaschen, die epische Erzählung von “Attil und Krimkilte“, Untertitel „Das Tschuwaschische Epos zum Sagenkreis der Nibelungen“, das bereits seit 2011 in deutscher Sprache vorliegt, noch einmal mit ins Blickfeld rückt.

Das Epos über Attila erzählt die Gründungslegende des Wolga-Bolgarischen Reiches aus Sicht der heute in Russland lebenden Tschuwaschen. Die Tschuwaschen verstehen sich als Nachkommen der Teile der Hunnen, die sich nach dem Tode Attilas 451 ins Gebiet zwischen Wolga und Ural zurückzogen, wo sie, historisch sehr stark verkürzt gesagt, das Reich Wolga-Bolgarien bildeten. Im Epos über Ylttanbik, rund 700 Jahre weiter, wird der Untergang eben dieses Bolgarien im Mongolensturm in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschildert. Er führte zur Integration der um ihre eigene Reichsstaatlichkeit gebrachten Bolgaren in das russische Imperium. Heute leben die Bolgaren unter dem Namen Tschuwaschen in der nach ihnen benannten autonomen Republik Tschuwaschien an der Wolga in der Nachbarschaft von fünf weiteren, nach ihren führenden Ethnien benannten Republiken Tatarstan, El Mari, Utmurtien, Mordawien und Baschkirien.

 

Fragen an die Geschichte

Fragen tauchen auf, die in einem Diskurs, der sich für eine vorurteilslose Überprüfung bisheriger geschichtlicher Abläufe öffnet, zu einem erweiterten Verstehen der Dynamiken führen können, die den eurasischen Raum gestalteten und durch ihn die Welt, wie wir sie heute kennen. Zu nennen ist der Untergang Roms in der von den Hunnen angestoßenen Völkerwanderung im fünften, die Verschiebung der Mitte der Welt vom Islamischen Kulturraum nach Europa durch die mongolische Invasion im dreizehnten Jahrhundert, die Teilung der Welt in Ost und West. Mit den Nachwirkungen dieser Kulturbrüche leben wir bis heute.

Allem voran stehen jedoch zunächst Fragen zur Entstehung der Epen selbst, Fragen, die schon bei seinem Erscheinung schon an „Attil und Krimkilte“ gestellt und die durch die Vorlage von „Ylttanbik“ noch einmal aktualisiert wurden:

Die erste Frage lautet: Gibt es ausreichend historische Quellen, die die Existenz einer eigenständigen tschuwaschischen Überlieferung über Attila als Vorfahr der Bolgaren und von ihnen ausgehend der Tschuwaschen belegen? Gibt es belastbare Quellen zu einer Volkslegende über Ylttanbik? Oder sind sowohl „Attil und Krimkilte“ als auch „Ylttanbik“ als „letzter Zar“ Gestalten, die der individuellen Phantasie einer einzelnen Person, nämlich der des heutigen tschuwaschischen „Nationalschriftstellers“ Michail Juchma entsprungen sind, der diese Figuren im möglicherweise im Interesse einer Wiedergeburt tschuwaschischer Identität nach dem Zerfall der Sowjetunion geschaffen hat?

Kritiken dieser Art wurden in Tschuwaschien und in Russland durchaus laut, als die Texte nach der Auflösung der Sowjetunion vom „Tschuwaschischen Kulturzentrum“ in Tscheboksary in deren Zeitung „Herdfeuer“ und danach als Bücher erstmals veröffentlich wurden.

Und weiter: Sind die Übermittlungswege des Erzählstoffes zu „Attil und Krimkilte“ wie auch die zu „Ylttanbik“ nachweisbar und nachzuverfolgen? Gibt es nachprüfbare Quellen dafür, dass die Stoffe tatsächlich über lange Zeiträume in mündlicher Erzähltradition, in Legenden und Sagen bis ins heutige Tschuwaschien hinein weitergegeben wurden?

Michael Juchma hat umfangreiche Quellen und Berichte vorgelegt, die auf fremden und eigenen Forschungen in der russischen, darüber hinaus in der tschuwaschischen, sowie der turksprachigen und arabischen Literatur basieren, auf Erinnerungen, die in tschuwaschischen Dörfern leben und auf Briefen, die das Tschuwaschische Kulturzentrum zum Thema erreicht haben.

 

Legenden contra Gschichtsdaten?

Hier wird allerdings ein Problem sichtbar: Die Erinnerung aus den Volksliedern, den Legenden und Sagen widersprechen in Teilen den Daten, wie sie von der herrschenden Geschichtsschreibung weitergegeben und fixiert wurden – aus der Sicht der Sieger, der mongolischen, der russischen und schließlich auch der sowjetischen, insbesondere in ihrer nach-revolutionären stalinistischen Phase.

Die zuletzt genannte Einschränkung zum Stalinismus bedarf einer Erläuterung, weil sie die Verschriftungsgeschichte in besonderer Weise beleuchtet: Die 1991/2 zu beobachtende Bewegung zur tschuwaschischen Wiedergeburt (im Chor der diversen Wiedergeburtsgeschichten anderer Völker beim Zerfall der Sowjetunion), in deren Zuge die Epen in die tschuwaschische, russische Öffentlichkeit kamen, war bereits die zweite Welle tschuwaschischer Rückbesinnung auf die eigene Identität. Die erste erlebte Tschuwaschien mit der Krise des Zarentums am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts, geleitet durch den Aufklärer Iwan Jakowlew und die von ihm gegründete Simbirsker Schule, die durch ihre für die damalige Zeit fortschrittlichen Reformansätze berühmt war und auch von Lenin noch unterstützt wurde. Die ersten nachweisbaren Verschriftungsansätze der Erzählungen um Attila wie auch um Ylttanbik, auf die Juchma sich bei seiner Zusammenstellung der Texte gestützt hat, gehen auf diese Zeit zurück. In der Stalinzeit galt die Beschäftigung mit diesen Fragen dann jedoch als Nationalismus und stand unter staatlichem Verfolgungsdruck. Viele Tschuwaschische „Heimatforscher“ verloren ihr Leben. Die Texte verschwanden im Untergrund, von wo sie erst 91/92 stückweise, beschädigt, an verschiedenen Orten wieder auftauchten.

Es stellt sich – drittens – also die Frage, wie die in der tschuwaschischen Überlieferung genannten Fakten (Namen, Daten, Orte, Zusammenhänge zwischen Hunnen, Bolgaren und Tschuwaschen, die Bedeutung Bolgarstans uam.), da wo sie von der herrschenden Geschichtsschreibung abweichen, zu bewerten sind. Handelt es sich um Tatsachen, die von der Geschichtsschreibung der Sieger ins Vergessen verdrängt oder gar unterdrückt wurden, die also eine Korrektur, zumindest eine Erweiterung des bisher bekannten Geschichtsbildes verlangen, etwa die Version, die in jedem deutschen Schulbuch zu finden ist, dass die Russen das Abendland vor der Eroberung durch die Mongolen bewahrt hätten? War es nicht vielleicht doch anders, zumindest sehr viel differenzierter? Oder ist die Berufung auf Attila, auf ein großes Bolgarstan vom Ural bis zum kaspischen Meer, ist die Annahme der Tschuwaschen, sie hätten seinerzeit als Bolgaren die Hauptlast der Kämpfe gegen die Mongolen zu tragen gehabt, eine Überhöhung, die sich aus dem Drang zur Selbstvergewisserung eines „kleinen Volkes“ ergibt, das sich trotz zweimaliger Wiedergeburtswellen in seiner Identität heute bedroht sieht? Liegt das tatsächliche historische Geschehen, um nicht von Wahrheit zu sprechen, vielleicht irgendwo zwischen diesen Polen?

All diese Fragen werden durch die Übersetzung dieser beiden Epen ins Deutsche nun auch in den deutschen Sprachraum getragen, nachdem der wissenschaftliche Streit um ihre Gültigkeit und Bedeutung bis dahin im russischen und tschuwaschischen Sprachraum gefangen war. Daran haben auch Übersetzungen beider Epen ins Bulgarische und Turksprachige nichts Wesentliches geändert.

 

Ungehobene Schätze?

Sichtbar wird bei der Umschau durch die Zeit und durch den Raum, aus dem Attila und Ylttanbik kommen, auch, dass über die tschuwaschischen Epen und Legenden hinaus noch weitere, noch viele kleine und größere Epen und Legenden im Schatzhaus der eurasischen Vielvölkergeschichte auf ihre Entdeckung warten. Zwei Hände reichen nach Ansicht russischer Folkloristen nicht, um sie aufzuzählen. Jedes von ihnen wird, wenn eines Tages ebenfalls verschriftet, seine eigene Variante der Völkerbewegungen in der Widersprüchlichkeit darstellen, in der die Vielfalt der sich überkreuzenden Geschichten im Lauf der Völkerbewegungen dieses Raumes gewachsen ist. Jedes Epos, das noch erscheinen wird, wird die Frage nach der Gültigkeit der bis dahin geltenden geschichtlichen Wahrheit verändern – wird sie vervollkommnen oder auch bisherigen Annahmen widersprechen und damit zur Schärfung unseres Geschichtsbildes beitragen.

Eins aber ist sicher und wird durch solche Veröffentlichungen wie die zu „Ylttanbik“ oder zu „Attila“, die jetzt aus dem nach-sowjetischen Untergrund auftauchen, deutlich: Geschichte ist keine einmal gemauerte Größe, an der sich nichts mehr bewegt, Geschichte bewegt sich mit der Gegenwart, so wie sie ihrerseits die Gegenwart bewegt. Es macht ja einen Unterschied, ob die Tschuwaschen ihren Platz in der Geschichte auch jetzt behaupten oder ob sie sich spurlos in der russischen Dominanz auflösen. Und es macht einen weiteren, erheblichen Unterschied, mit welchen Mitteln und mit welchen Zielen die Auseinandersetzung um diesen Platz geführt wird – zur aggressiven Nationenbildung einschließlich restaurativer Ansprüche auf Wiederherstellung vermeintlicher oder tatsächlicher früherer Größe oder zur kulturellen Identitätsbildung, die der Stärkung der Dialogfähigkeit in einem gewachsenen Zusammenhang dienen soll. Für die Veröffentlichung der tschuwaschischen Epen gilt eindeutig das Zweite: Sie zielt auf den kulturellen Wettstreit um den Platz im russischen Vielvölkerorganismus. Die nächsten Partner in diesem Wettstreit sind gleich nebenan die Tataren, die ihrerseits Anspruch erheben, nach der mongolischen Invasion als neue ethnische Kraft aus der Völkermischung des Wolgaraumes hervorgegangen zu sein. In ihrem Institut für Geschichte haben sie mehrere Kilo umfassende Konvolute historischen Materials zu dieser Frage aufgearbeitet.

Die Reihe ließe sich mit den anderen Wolgavölkern sowie weiteren in den russländischen Organismus eingegangenen Völkern fortsetzen. In dieser Gemengelage eines friedlichen Wettstreits liegt zweifellos eine große Kraft, die über Russland, selbst über Eurasien auf zukünftige Möglichkeiten des Zusammenlebens hinausweist – wenn der Wettstreit nicht nationalistisch aufgeblasen wird. Nationalismus, wenn er auch noch von außen geschürt würde, müsste den Vielvölkerorganismus Russlands sprengen. Das bezieht den weiteren eurasischen Raum zwangsläufig mit ein. Die Ukraine, die einen eigenen aggressiven Nationalen Mythos verfolgt, ist dafür das aktuellste Beispiel. Ihre Kolonisierung durch die westliche Politik macht zugleich unübersehbar deutlich, dass das Prinzip der nationalen Souveränität, ob nationalistisch oder nur national, unter den Bedingungen der weltumspannenden Herrschaft der internationalen Monopole und der globalen Finanzoligarchie heute ein auslaufendes Modell ist.

So bleibt am Ende der Befassung mit den Tschuwaschischen Epen „Ylttanbik“ und „Attil“, abgesehen vom Lesegewinn, die Frage nach dem Sinn und der Form der „Nationalen Widergeburt“ in einer Zeit , in welcher der Nationalstaat als herrschendes Modell des Zusammenlebens auf dem Globus in die Krise gekommen ist.
Kai Ehlers: www.kai-ehlers.de

24.01.2016
Link zum Buch: