So wie es vom Gipfel aus abwärts geht – oder im hohen Flug in ungesicherte Gefilde, so geht es vom Krieg in Syrien aus in die endgültige Beseitigung des Prinzips des souveränen Nationalstaats – oder zu deren grundlegender Neubestimmung.

Schauen wir, was da auf dem syrischen Schlachtfeld zusammenläuft:

Die westlichen Alliierten intervenieren in Syrien mit dem Ziel den gewählten Präsidenten zu stürzen. Nach der Souveränität des Landes wird nicht gefragt. Aber mit Baschar al-Assads politischem und physischen Überleben erreicht die Interventionspolitik des westlichen Blocks ihren erkennbaren Höhen- und Wendepunkt.

Die Türkei, Syrien, Iran, der Irak verhindern im Namen ihrer jeweiligen nationalen Souveränität eine kurdische souveräne Nationenbildung. Das ist Inanspruchnahme und Zerstörung des nationalen Souveränitätsprinzips in einem Zug.

Israel, Palästina, der Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten, Libyen, Tunesien und weite Gebiete Afrikas bilden ein wildes Gewürfel von Staaten, deren Souveränität als Nationalstaat von innen und von außen in Frage steht oder schon zerstört ist.
Saudi Arabien, Quatar und Kuwait, auch die Türkei dulden die Expansion eines „IS“, der sich ausdrücklich nicht als Nationalstaat, sondern als nicht durch Grenzen zu definierenden Gottesstaat versteht, fördern ihn gar unter der Hand. Hier entsteht ein rechtsfreier, an keinerlei völkerrechtliche Kodifizierung gebundener Raum.

Die Europäische Union schließlich, um das Problem auch von der Seite der herrschenden Kräfte her anzuschauen, fällt angesichts der Auswirkungen des syrischen Krieges und vor dem Hintergrund des eingefrorenen Ukrainischen Kriegsgeschehens in die nicht überwundenen nationalen Sonderinteressen ihrer Mitglieder zurück. Diese Entwicklung konterkariert alle öffentlichen Einheitsbeteuerungen aus der Europäischen Union. Es scheint, dass die „klassische“ Politik-Regel, nach der eine äußere Bedrohung den inneren Zusammenhalt festigt, im Fall der EU ins Gegenteil umschlägt.

Allein Russland besteht auf diesem Kampffeld darauf, dass das Grundprinzip der nationalen Souveränität gewahrt werden müsse. Für den Einsatz seiner Bomber auf syrischem Gebiet holte Russland sich das Einverständnis Assads.

 

Nachkoloniale Grundkategorien brechen ein

Es könnte einem schwindelig werden, so heftig stürzen die politischen Grundkategorien des 20./21. Jahrhunderts auf dem syrischen Schlachtfeld übereinander. Hier offenbart sich – in Ergänzung zur Ukraine – der nicht mehr zu übersehende Bruch der nach dem ersten Weltkrieg aus der Kolonialzeit hervorgegangenen, nach dem zweiten Weltkrieg noch einmal bestätigten völkerrechtlichen Ordnung souveräner Nationalstaaten.

1921 wurde der Nationalstaat mit Einführung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung in den Völkerrechtskodex zur globalen Norm erklärt. Heute entstehen aus der Erbmasse der zerfallenen Sowjetunion, genauer jener der systemgeteilten Welt neue Nationalstaaten, deren Nationenbildung in einem extrem verkürzten Prozess des Nachholens solche kruden nationalistischen Formen annimmt wie in der Ukraine; gleichzeitig wird das Modell der nationalen Souveränität von den Großmächten, mehr noch von den global organisierten Korporationen als Behinderung ihres Weltmonopols zusehends beiseitegeschoben, besten Falles werden die Nationalstaaten von den global agierenden Mächten als Dienstleister benutzt, um lokale oder regionale Ressourcen, Märkte und Bevölkerungen zu kontrollieren, Steuern zu umgehen usw. Neue Formen der Souveränität, die nicht nur die Nationalstaaten erhalten, sondern die Völker vor dem Zugriff der Globalgrößen schützen, sind bisher nicht gefunden.

 

Neues Verständnis von Souveränität

Ein neues Verständnis von Souveränität, das den Nationalstaat nicht in der bisherigen zentralisierten Form als Instrument der Großen erhält, sondern die Völker vor deren Zugriff schützt, könnte jetzt durch einen gewagten Sprung aus der in Syrien sichtbar gewordenen Krise des Nationalstaates hervorgehen.

Die neue Form der Souveränität kann allerdings nicht mehr von oben implantiert werden, sie wird direkt aus den Interessen der Menschen hervorgehen müssen, die sich als perspektiv- und gesetzgebende Großgemeinschaften für die Art von Staat miteinander verbinden, der ihrem Wollen und ihren Bedürfnissen entspricht.

Genau dies wurde ja seinerzeit – 1921 in Wilsons 14 Punkten der Selbstbestimmung der Völker wie auch in Lenins zeitgleicher Deklaration – postuliert, jedoch eben n i c h t aus dem Wollen der Völker, nicht aus der Verschiedenheit der Kulturen und der wirtschaftlichen Entwicklungsstände heraus selbstbestimmt durch die Menschen an der Basis ihrer Lebensräume gestaltet, sondern aus der Willkür der Herrschenden heraus von oben diktiert. In der willkürlichen Grenzziehung der nachkolonialen Nationalstaaten (analog zu den Republiken in der späten Sowjetunion) fand diese Verkehrung ihren Ausdruck.

Auch das deutsche Grundgesetz folgt noch diesem Muster, wenn es in seinen Eingangssätzen zwar erklärt, alle Macht gehe vom Volke aus, dann jedoch keine Bestimmungen formuliert, wie das Volk seine Interessen als Souverän im Konkreten bestimmen und auf Dauer immer wieder erneuern kann, sondern einen Verfassungsbau darüber setzt, innerhalb dessen dieses Volk sich fortan zu bewegen hat. Bestenfalles darf es im Rahmen der Verfassung Widerstand leisten. Damit ging die gesetzgeberische und Perspektiven setzende Souveränität des Volkes an den Staat, das heißt, an die Verfassung, an die Justiz, an die Exekutive, an die Parteien über, die durch Wahlgänge, in denen das Volk rituell seine Stimme abgibt, legitimiert werden. Aus dem Souveränitätsprinzip des Volkes wurde so ein Hoheitsprinzip des Staates gegenüber dem Volk. Beschlüsse der deutschen Bundesregierung wie der jüngste zur Beteilugung der deutschen Bundeswehr am französischen „Krieg gegen den Terror“ sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.

Diese Verkehrung des Souveränitätsprinzips gilt im Übrigen nicht nur für die ehemaligen Kolonien (bzw. sowjetischen Republiken, speziell unter Stalin) und nicht nur für das deutsche Grundgesetz, es gilt auch für die Gründung der Europäischen Union. Als „Eliteprojekt“ ging die Bildung der EU in gleicher Weise über gewachsene Lebens-, Kultur und Wirtschafsräume hinweg und tut dies mit wachsender Zentralisierung in zunehmendem Maße, ja, mehr noch, zerstört durch den Druck ihrer zentralistischen Finanzbürokratie die trotz dieser Politik immer noch bestehende kulturelle Vielfalt innerhalb ihrer Grenzen und darum herum.

 

Russland spielt nicht mit

Nur Russland spielt dieses Spiel heute nicht mit, schwimmt erkennbar gegen diesen Zeitstrom. Warum? Die Antwort ist relativ einfach. Zwar wurden in der Sowjetunion, insbesondere unter Stalin, Grenzen, wie oben bereits gesagt, ebenfalls mit dem Lineal gezogen, das heutige Russland ist jedoch auf den Teil des ehemaligen sowjetischen Imperiums geschrumpft – territorial, strukturell und mental –, in dem die unterschiedlichen Kulturen einen miteinander zusammengewachsenen Organismus bilden, ohne ihre Eigenständigkeit vollkommen aufgeben zu müssen.

Das ist selbstverständlich auch noch keine vollkommene Souveränität im Sinne einer realisierten basisbezogenen Selbstbestimmung der in Russland lebenden Völker. Aus dieser Realität der Interessen- und Völkervielfalt heraus ist Russland jedoch unter den heutigen Großmächten noch am ehesten in der Lage und willens, sich für die Achtung des gegenwärtig geltenden Prinzips des souveränen Nationalstaats einzusetzen, sozusagen als einen seiner eigenen Vielvölker-Organisation entsprechenden Minimalkonsens des aktuellen Krisenmanagements einer in Wandlung begriffenen Welt – wenn auch nicht widerspruchsfrei, wo es um radikale Selbstbestimmung vor Ort geht, wie sich im Fall der Ukraine beobachten lässt, wo Russland die Ansätze räte-demokratischer Selbstbestimmung seinem Staatsinteresse untergeordnet hat.

Angesichts der russischen Entwicklung lohnt es sich jedoch darüber nachzudenken, welche Kräfte mit der Zerschlagung der Vielvölkerreiche Österreich-Ungarns wie auch des Osmanischen Reiches durch den ersten Weltkrieg verloren gingen und welche Impulse aus dem noch existierenden, sozusagen überlebenden russischen Vielvölkerstaat – ungeachtet formal-demokratischer Mängel – möglicherweise gewonnen werden können. Nicht ohne Konflikte haben die russländischen Völker gelernt miteinander in Vielfalt zu leben, aber sie haben es gelernt. Das ist die Botschaft, die vielleicht auch noch über den Minimalkonsens der bloßen Bewahrung bisher gültiger Formen der nationalen Souveränität hinausweist.

Solche Fragen stellen sich, wenn man den syrischen Krieg nicht nur aus der Perspektive des heillosen Gemetzels betrachtet, das dort zur Zeit stattfindet, sondern fragt, wohin die dort erkennbare Krise des heutigen Nationalstaats weisen könnte. Versuchen wir es.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
Mittwoch, 9. Dezember 2015