Flammarion
Camille Flammarion

Die ‚Überflüssigen‘
Ich, Du und Wir.

Entwurf eines Programms
für geistige, soziale und politische Autonomie
in kooperativer kommunaler, regionaler und globaler Gemeinschaft.
Perspektiven für eine nach-sozialistische und nach-kapitalistische Gesellschaft,

Das gesellschaftliche Leben wird heute von drei grundlegenden Transformationsdynamiken bestimmt. In ihrem Zusammenfließen lassen sie eine Situation entstehen, die auf den Übergang in eine neue Phase des Zusammenlebens der Menschen vor Ort und im globalen Zusammenhang drängt, wenn die Welt nicht im globalen Crash enden soll.

 

Bestandsaufnahme:
Die drei wichtigsten Krisenströmungen der gegenwärtigen Übergangssituation sind:

Das nachsowjetische Trauma – wie wollen wir leben?
Die Welt lebt immer noch mit den Folgen, die die Auflösung der Sowjetunion, das heißt, das Ende des Versuchs, eine weltweite sozialistische Zukunft aufzubauen, hinterlassen hat. An die Stelle der sozialistischen Utopie und ihres Einflussraumes ist ein entfesselter Kapitalismus getreten. Er setzt die Krise des Sozialismus aber nur unter anderen Vorzeichen fort und lässt sie als grundsätzliche Krise des, nach kapitalistischen Prinzipien der Profitmaximierung organisierten, Industrialismus erkennen. Dieser Industrialismus produziert immer mehr Waren, die keiner mehr kaufen kann, bringt immer mehr „Überflüssige“ hervor, die keinen Ort der Verwirklichung als Mensch mehr finden. Hinzu kommt die absolut wachsende Zahl der Weltbevölkerung, deren Anwachsen neue Wege des Zusammenlebens erfordert.

Die Frage stellt sich also, wenn wir nicht so leben können, wie es der traditionelle Sozialismus versprach, aber auch nicht so, wie der entgrenzte Kapitalismus es heute mit sich bringt – dann also wie?

Die Krise des Nationalstaats – wie wollen wir uns organisieren?
Der Nationalstaat als herrschendes Ordnungsprinzip der zivilisierten Gesellschaft degeneriert heute zum Kontroll- und Überwachungsorgan. Es entwickelt sich ein scharfer Widerspruch von nachholender Nationenbildung und gleichzeitiger Entwertung des Nationalstaates. Die nachholende Nationenbildung, die mit dem Zerfall der bipolaren Ordnung des letzten Jahrhunderts einsetzte, bringt Tendenzen zu fundamentalen und brutalen Formen des Nationalismus hervor. (Extrem: die Ukraine, der <Anti>Islamische Staat) Zugleich wird die Souveränität von gewachsenen Nationalstaaten durch den Machtzuwachs globaler Interessengruppen und deren Organisationsstrukturen ausgehebelt, werden die Nationalstaaten für Zwecke funktionalisiert, die den Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerungen entgegenlaufen, sie ausbeuten, werden die Menschen über die nationalen Regierungen zugleich manipuliert (TTIP, TTP, „Multis“ aller Art).

Die Krise des Expansionismus – wie kann die Welt überleben?
Im Zuge der, ebenfalls aus dem Zerfall der bipolaren Welt des letzten Jahrhunderts hervorgehenden, neo-kolonialen Herrschaftsentfaltung führt eine, auf ungebremster Wachstumsideologie aufgebaute, globale Hegemonialordnung zu einer weiter zunehmenden, sich rapide verschärfenden Lähmung und Unterdrückung lokaler, kommunaler und regionaler Entwicklungskräfte. Diese globale Tendenz trägt inzwischen den Keim eines eskalierenden Dauerkrieges in sich, der die menschliche Kultur und die Lebensfähigkeit des gesamten Planeten zu vernichten, zumindest an einer gesunden Entwicklung zu hindern droht.
Perspektiven:

In Anbetracht dieser heutigen Situation ist eine Politik zu entwickeln und zu fordern, welche die Zuspitzung der gegenwärtigen Krise als Aufforderung versteht, den Übergang der menschlichen Gesellschaft in die erkennbar anstehende neue Etappe ihrer Entwicklung zu organisieren.

Es geht um die Botschaft einer epochalen Systemtransformation, und – um es unmissverständlich auszusprechen – um die Überwindung des bisherigen Entweder-Oder von Sozialismus oder Kapitalismus, also darum, einen Weg in eine nach-sozialistische und nach-kapitalistische Welt zu finden.

Das ist nicht zu verwechseln mit einem „dritten Weg“ zwischen weiter existierenden Scheinalternativen von Kapitalismus oder den traditionellen Formen des Sozialismus. Beide, Kapitalismus wie auch der traditionelle Sozialismus haben sich historisch als zwei Seiten einer Medaille, eben des profitorientierten, kapitalistisch organisierten Industrialismus, erwiesen.

Die Botschaft der Systemtransformation stellt nicht mehr das Kapital, auch nicht seine Reform, und zwar weder unter staatlicher, noch unter privater Führung, sondern die geistige, die soziale und die politische Autonomie des einzelnen Menschen und der sozialen Organismen ins Zentrum der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung, allerdings ohne das Kapital dabei zu verteufeln.

Allein – die Prioritäten werden umgepolt: Kapital ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Kapital. Die Botschaft lautet: der Mensch, seine Gesellschaft und seine Kultur können sich weiterentwickeln, die Evolution muss nicht im großen Crash enden, wenn der Mensch es schafft, die jetzige Krise in soziale, politische und empathische Energie für einen Übergang in die mögliche neue Phase der Entwicklung der Gesellschaft und des Planeten zu verwandeln.

Man könnte auch sagen, ohne diesen Vergleich überziehen zu wollen: In der Biographie der Menschheit geht es heute darum, vom physischen, quantitativen, wesentlich ökonomisch bestimmten, zum mentalen und kulturellen, eher qualitativ bestimmten, geistigen und seelischen Wachstum überzugehen.
Was zu tun ist:

Entscheidende Veränderungen sind also – den drei großen Transformationsdynamiken Rechnung tragend – auf sozialem, regionalem und globalem Gebiet anzustreben, ohne dabei den Anspruch zu stellen, hier und jetzt endgültige Lösungen festschreiben zu können oder zu wollen.

Die notwendige und auch die mögliche Transformation kann nur als Prozess, nicht als einmaliger, gar gewaltsamer Akt real werden. Auch Rom wurde bekanntlich nicht an einem Tag erbaut und die Französische Revolution fand nicht nur als Sturm auf die Bastille statt – zumal auch Ablehnung und Widerstand aus dem herrschenden Bewusstsein, aus den bestehenden Verhältnissen, sowie auch unverhohlene, direkte Repression von Seiten der heute regierenden Kräfte mit einzubeziehen sind.

Das zeigt nicht nur die Geschichte, sondern auch die gegenwärtige politische Landschaft, in der soziale Revolten, lokal wie global, manipulativ betäubt, verfälscht, missbraucht oder, wenn für nötig erachtet, brutal niedergeschlagen werden. Man schaue auf die Ukraine oder auf Griechenland, wo diese Vorgänge auch in Europa bereits in offene Aufstandsbekämpfung überzugehen beginnen, ganz zu schweigen von Vorgängen auf der Südhälfte des Globus. Weitere Länder, auch des EU-Raumes, können dem sehr bald folgen.

Dass dies für die herrschenden Kräfte nicht immer zu dem von ihnen erhofften Erfolg führt, steht zurzeit nur im Kleingedruckten der globalen Nachrichten. Für die Überwindung des Systems kommt es darauf an, dieses Kleingedruckte in eine große Ermutigung zu verwandeln.

In großen Linien lassen sich die Perspektiven dazu wie folgt beschreiben:

• Unter der Frage ‚Wie wollen wir leben, wenn nicht nach den Vorgaben des traditionellen Sozialismus oder des jetzigen entfesselten globalen Kapitalismus?‘ geht es um die Wiedergeburt des Sozialen jenseits der jetzt herrschenden kapitalistischen Produktionsweise von Lohnarbeit und Kapital. Wie gesagt: es geht nicht um einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern um einen Schritt über die kapitalistische, auch die traditionelle staats-sozialistische Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialordnung hinaus.

Anzustreben ist eine Transformation der jetzt herrschenden Lohnarbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft der Kooperation zum gegenseitigen Nutzen auf der Basis von Teilungs- und Nutzungsverträgen zwischen selbstbestimmten Individuen in kooperativer Gemeinschaft und autonomer Selbstverwaltung der so gebildeten Wirtschaftsorganismen.

Dabei gilt die Priorität lokaler, kommunaler, regionaler Wirtschaftsabläufe vor globalen, ohne globale Zusammenhänge auszuschließen. Im Gegenteil werden die Unternehmen und sozialen Organismen vor Ort über globale Netze informationell und wo nötig auch materiell noch enger als bisher miteinander verkoppelt sein müssen, jedoch das lokale Leben fördernd, statt es auszubeuten und zu erdrücken.

Die diversen ökonomischen, sozialen und strukturellen Einrichtungen wie etwa ein Grundeinkommen für alle, die Rolle des Geldes, die Regeln der Wirtschaftsführung, die Strukturen der sozialen Versorgung, der allgemeinen Verwaltung, der Bildung etc. pp. werden unter den Bedingungen einer solchen kooperativen Organisation von Arbeit und Leben andere Formen annehmen können als unter den Bedingungen der heute bestehenden Konkurrenz-Gesellschaft. Jetzt verfassungsmäßige Konkretisierungen auszudenken, macht jedoch keinen Sinn. Konkrete Formen werden in einem Prozess von Versuch und Irrtum entstehen, bei dem es sicherlich auch in Zukunft nicht ohne Konflikte abgehen wird.

Absehbar ist aber so viel, dass eine kooperative, am gegenseitigen Nutzen ausgerichtete Arbeitsorganisation eine andere Alltagsstruktur des Lebens und des allgemeinen sozialen Organismus hervorbringen wird – Bereitschaft dazu vorausgesetzt – als die gegenwärtig unter den Bedingungen der Profitkonkurrenz mögliche.

Fast selbstverständlich ist auch, dass Schritte zur Entwicklung anderer als konkurrenzbasierter Arbeits- und Lebensweisen nicht bis zum Tag X zurückgehalten werden müssen, sondern schon jetzt als Experimente gesetzt werden können – und vielerorts in vielfältiger Weise auch bereits werden. Eine wichtige aktuelle Aufgabe besteht deshalb darin, die Ergebnisse solcher Versuche selbstbestimmten und kooperativen Lebens als Anregung und Ermutigung für die allgemeine Entwicklung zusammenzutragen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

• Unter der Frage nach der Krise des Nationalstaats geht es im Kern um die Wiedergeburt von Heimat im Zuge der Entwicklung lokaler, kommunaler und regionaler Autonomie. Es geht um die Überwindung des Nationalstaates als vermeintlich einziger, quasi als naturgegeben hingenommener Form zivilisierten Lebens und um den in Kritik am Nationalstaat zu fördernden Übergang in föderale Kooperationsbeziehungen zwischen selbstbestimmten Kommunen und Regionen. Es geht um die Stärkung aller Formen direkter Demokratie – von familiären Zusammenhängen, über selbstgewählte Gemeinschaften bis hin zu öffentlichen Vertretungs-Strukturen, die auf der Basis von Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft entwickelbar sind.

Diese Entwicklung zielt über den jetzt erreichten Stand parlamentarisch gefasster Formaldemokratien von im übrigen pluralisierten und individualisierten „entwickelten“ Gesellschaften hinaus, aber ohne den heutigen Stand demokratischer Kultur zu missachten oder deren Missachtung oder Einschränkung zu akzeptieren, gleich wo, ob vor europäischen Haustüren oder anderswo in der Welt.

Im Gegenteil geht es darum, die bisher entwickelte demokratische Kultur auf der Basis von Selbstbestimmung und Autonomie in kooperativer Gemeinschaft zu verteidigen und zu erweitern.

Aktuelles politisches Ziel ist, die heutigen zentral- und nationalstaatlichen Hegemonialstrukturen der EU zu einem föderalen Bund autonomer Kommunen und Regionen Europas zu transformieren. Gespräche und Beziehungen zur Schaffung eines föderalen Netzes mit allen Kräften Europas, die ähnliche Ziele anstreben, sind unverzichtbarer Bestandteil dieser Politik. Die föderalen Strukturen können nur aus dem Willen einer sich um ihre Basisinteressen scharenden Bevölkerung wachsen.
• Unter der Frage nach der Krise des Expansionismus geht es um die Entwicklung einer kultur-ökologischen Globalperspektive anstelle der gegenwärtigen Expansionskonkurrenz, die als Ziel nur ökonomisches Wachstum und in der Folge kriegstreibende Ressourcenjagd kennt.

Es geht um partnerschaftliche Kooperation in einer ökologisch fundierten kooperativen Bewirtschaftung der globalen Ressourcen. Nicht zuletzt geht es darum, lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe zu fördern, um den Verbrauch von Ressourcen zu minimieren und zugleich die sozialen Strukturen vor Ort zu stärken – und so die Verödung des Lebens außerhalb der Städte umzukehren, zu der der Industrialismus geführt hat.

Es ist wohl eine der dringendsten Aufgaben der Zeit, globale und lokale Entwicklung so zusammenzuführen, dass die Menschen sich in ihren Tätigkeiten wieder vor Ort verwirklichen können, statt als entwurzelte Migranten in die explodierenden Zentren gezogen zu werden.

Schließlich geht es auch um die Öffnung einer globalen Kommunikationstechnik, die der Kommunalisierung und Regionalisierung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens in Zukunft ihren lebensnotwendigen globalen Zusammenhang gibt.

Zu fördern und zu fordern ist für all dies eine Kooperation der Weltregionen auf gleicher Augenhöhe, in die sich das föderale Europa ebenso wie andere Weltregionen partnerschaftlich eingliedern kann.

Für Deutschland und die EU ist der Ausstieg Europas (tendenziell des angestrebten föderalen Bundes Europa) aus polaren Blockbildungen, konkret aus der Polarisierung zwischen von USA und Russland und damit insbesondere aus dem Kriegsbündnis NATO zu fordern.

 

Arbeit mit dem Programm

In der Staffelung seiner Ziele entlang der Hauptdynamiken der gegenwärtigen Krisenentwicklung weist der vorliegende Programmentwurf klar und eindeutig über die herrschenden Verhältnisse als zu überwindende hinaus. Er beinhaltet eine eindeutige Alternative zu den bestehenden kapitalistischen Arbeits-, Lebens, und Denkmustern und selbst zu dessen vom Alltag abgetrennter Religion und Spiritualität.

Mit seiner Botschaft der geistigen, sozialen und politischen Autonomie des Einzelnen, die Pflanzen, Tiere und die geistig-seelische Um- und Mitwelt als Ganzheit emphatisch umfasst, geht der Entwurf von einem anderen Menschenbild als dem gegenwärtig herrschenden des „homo ökonomicus“ aus, der angeblich nur konsumieren will.

Mit einem aus diesem Entwurf entstehenden Programm sind zweifellos keine schnellen Mehrheiten zu gewinnen. Er ist nicht populistisch orientiert, sondern zielt auf die gärende Revolte der Ausgegrenzten, der „Überflüssigen“ und der Ratlosen, auf die nach grundsätzlichen Systemtransalternativen zu den heutigen Verhältnisse Suchenden aller Länder. Er ist, um es so zuzuspitzen, ein Versuch, das revolutionäre Ziel der sich abzeichnenden globalen Revolte zu beschreiben
und denen, die sich auf diesem Weg befinden, einen Sammelpunkt anzubieten.

Er erklärt seine Solidarität mit allen Bewegungen in Deutschland, Europa und der Welt, die – wie keimhaft auch immer – ebenfalls ein solches Ziel verfolgen.

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Nachtrag des Autors:

Ich lade Interessierte, ähnlich denkende und ähnlich fühlende Menschen, durchaus auch Skeptiker und Skeptikerinnen zu einer Kommentierung und Konkretisierung des vorliegenden Entwurfes ein. Wünschenswert wäre ein konstruktiver Diskurs mit Blick auf gemeinsames Tun. Bitte wenden Sie sich an mich. Dann sehen wir weiter.
Kai Ehlers, 20.08.2015

Bitte lesen Sie zu dem Aufruf:

Kai Ehlers, die Kraft der „Überflüssigen“, Pahl Rugenstein, Bonn, März 2013
Zu bestellen im Buchhandel oder beim Autor

Ausserdem:
Charta für ein Europa der Regionen, vorgelegt vom Arbeitskreis Demokratie und Europa sowie vom Initiativkreis Demokratiekonferenzen im Januar 2015 (einzusehen auf der Website www.demokratiekonferenzen.de oder zu beziehen über Kai Ehlers, Adresse wie oben.)

Kontakt zu Kai Ehlers: