Ukraine:

Die andere Wahl

Am Sonntag, dem 2.November 2014 wurde im Osten der Ukraine gewählt, nachdem eine Woche vorher die von Kiew durchgeführte Westwahl über die Bühne gegangen ist. Viele Aspekte sind zu beleuchten, um eine Vorstellung zu gewinnen, worauf die ganze Situation hinausläuft.  Betrachten wir zunächst die Ergebnisse, bevor wir die Hintergründe  sortieren.

Obwohl weiter geschossen wurde, wurde gewählt. Das von den Veranstaltern der Wahl anvisierte Ziel wurde erreicht: Die Führungsspitzen der bisher nicht anerkannten Volksrepubliken, die Republikchefs Alexander Sachartchenko in Donezk und Igor Plotnizki in Lugansk  sowie ihre Volksräte in ihren bisher informellen, nur aus den Kämpfen hervorgegangenen Funktionen, wurden mit erkennbarem Zuspruch der Bevölkerung bestätigt. Sachartchenko mit  ca. 80%, Plotznizki mit ca. 65%. Auch die Parlamente von Donezk und Lugansk wurden legitimiert. Große Auswahl zwischen Parteien gab es nicht. Nicht alle Parteien durften teilnehmen. Zur Wahl standen keine Programme, sondern Personen. Praktisch diente die Wahl der Festigung der entstandenen Machtstrukturen in den Gebieten Donezk und Lugansk.

Es ist, darf man sagen, eine Legitimation der besonderen Art, nämlich ein Zuspruch durch jene Menschen, die trotz fortdauernder Kämpfe, trotz Bombardierungen, trotz der damit verbundenen Chaotisierung, Brutalisierung und sogar kriminellen Bedrohung des Alltags in ihren Wohnorten Donezk, Lugansk und Umgebung geblieben sind. Nicht wenige sind sogar gerade deswegen geblieben. Mit dieser Abstimmung zeigen sie, dass sie nicht bereit sind, sich dem von Kiew ausgehenden Druck zu beugen. Nicht bei wenigen nahm das am Wahltag die etwas holzschnitzartige Form eines „Widerstandes gegen die Faschisten“ an. Das zeugt nicht unbedingt von viel Differenzierung in der Wahlpropaganda und auch nicht innerhalb Bevölkerung; nichtsdestoweniger kennzeichnet es die Grundmotivation der zu dieser Wahl gehenden Menschen. Eindeutiger könnte das Signal nicht sein. Es zeigt unmissverständlich, wo die Mehrheit der Menschen in diesen beiden Wahlgebieten sich zuhause fühlt – mit Sicherheit NICHT in einer von Kiew dominierten Ukraine. Alles andere ist nicht so eindeutig: „heim nach Russland“, in die Autonomie oder in die Selbstständigkeit.

Die Regierungen von Kiew, den USA, der EU und auch die Deutschlands erklärten, die Wahl störe den  in Minsk begonnenen „Friedensprozess“. Sie lehnen eine Anerkennung des Ergebnisses ab und bestehen weiter auf der Einheit der Ukraine, für die sich Moskau einsetzen müsse. Moskau dagegen erkennt die Wahl als Faktor an, der dem Friedensprozess und der Stabilität dienen könne.

Damit wäre eigentlich schon das Wichtigste gesagt: Die generelle Konfrontation zwischen den Atlantikern und Russland wird fortgeschrieben. Einiges muss aber noch nachgezeichnet werden, wenn man verstehen will, was sich aus der Doppelwahl, jener am 25.10.2014 und dieser am 2.11. 2014 ergibt.

 

Verstoß gegen den Frieden?

Wenn von Störung des Friedensprozesses die Rede ist, der in Minsk vereinbart worden sei, dann muss zunächst festgestellt werden, dass die in Minsk vereinbarte Waffenruhe bisher von keiner der beiden Seiten eingehalten wurde. Der in Minsk vereinbarte Puffer zwischen den Fronten existiert faktisch nicht, zumal die ukrainische Seite ihre Unterschrift zu diesem konkreten Punkt wieder zurückgezogen hat.  Die Zahl der täglichen Toten ist in den letzten Tagen vor der  Wahl beständig angewachsen. Allein in der letzten Woche wurde sie von den UN mit 300 angegeben. Es ist offensichtlich, dass der Druck Kiews auf die Regionen Donezk und Lugansk in den Tagen kurz vor der Wahl am 2. November erheblich zugenommen hat.

Politisch hat die Westwahl klar gemacht, das Pjotr Poroschenkos „Friedensplan“ das Papier nicht mehr wert ist, auf dem er steht, dass Arsenij Jazenjuks antirussische und offen auf Fortsetzung des Bügerkriegs orientierte  Politik, der Poroschenko sich wird beugen müssen, keineswegs auf Dialog mit den aufständischen Regionen zielt, sondern auf gewaltsame Wiedereingliederung und Unterordnung der Aufständischen. Die Ankündigung aus dem Verteidigungsministerium in Kiew, die Teilnahme an den Wahlen im Donbas vom 2.11. strafrechtlich verfolgen zu wollen, ist nur der aktuellste Ausdruck dieser Linie. Vor diesem Hintergrund sind die Wahlen – wie sollte es anders sein – ein klare Aktion der Gegenwehr aus dem Donbas.

 

Nicht demokratisch…?

Wenn davon die Rede ist, dass die Wahl nicht demokratisch gewesen sei, dann ist dem zweifellos zuzustimmen. Es gab nur zwei Parteien,  die „Volksrepublik Donezk“ von Sachartschenko  und die „Bewegung für den Frieden“ von Plotnizki. Andere waren nicht zugelassen, auch die kommunistische Partei nicht. Zwischen Personen gab es allerdings Wahlmöglichkeiten. Die Wahlen hatten die Funktion, die in den Kämpfen des letzten halben Jahres gewachsene Ordnung zu festigen, das Chaos widerstreitender Kompetenzen einzuschränken, willkürlich handelnde Feldkommandeure zu disziplinieren usw. Einige Nachrichten aus den letzten Wochen haben ein ziemlich chaotisches Bild der Zustände entstehen lassen, die unter den Bedingungen der sich zersetzenden ukrainischen und einer noch nicht wieder legitimierten neuen Staatlichkeit entstanden sind. Etwa das über You tube verbreitete Video von einer Sitzung des „Volksgerichtshofs“, bei dem unter Missachtung menschenrechtlicher Maßstäbe Todesurteile per Akklamation des teilnehmenden Publikums bestätigt werden.

Unter solchen Bedingungen ging es bei dieser Wahl eindeutig nicht um Demokratie, schon gar nicht um formale, sondern um die Wiederherstellung von Mindestregeln einer zivilen Ordnung. Nicht als Parteien anerkannt wurden Gruppen, nicht auf die Listen gelassen wurden Personen, bei denen die Organisatoren offenbar davon ausgingen, dass sie bei der Wahl zu der gewünschten Strukturierung von zivilen Verhaltensregeln nichts hätten beitragen können.

Darin unterscheiden sich die Ost-Wahlen in ihrer Grundausrichtung diametral von den vorhergehenden  von Kiew durchgeführten, bei denen die diversen nationalistischen Parteien den berüchtigten Milizenführern und offenen Faschisten reihenweise ihre Listen geöffnet und so den Einzug von Nationalisten und Faschisten ins Parlament ermöglicht haben. Die Ost-Wahl  diente im Gegensatz dazu, eine zivilisierende Konsolidierung erst einmal wieder zu ermöglichen. Sie dient dem Versuch eine Staatenbildung zu fördern, in erklärter Abkehr vom Bürgerkriegschaos. Paradox gefasst, kann man sagen: Demokratisches Reinholen nationalistischer bis faschistischer Kräfte ins Parlament bei der Kiewer Wahl, autoritäres Ausgrenzen militaristischer, nationalistischer oder auch einfach radikalistischer Abenteurer bei der Wahl im Osten – polarer könnten die Grundimpulse dieser beiden Wahlen kaum noch sein.

Und noch ein weiteres: Hätten die Ost-Wahlen, wie in Minsk vereinbart, am 7. November auf der Grundlage ukrainischer Gesetze, konkret des von Poroschenko angekündigten Gesetzes über die Einrichtung einer Sonderzone für Donezk und Lugansk, demokratischer sein können? Ja, hätten sie, wenn es diese Sonderzone gäbe.  Aber es gibt sie nicht! Das angekündigte Gesetz wurde im Parlament noch nicht verabschiedet. Was es gibt, ist eine Zentralmacht in Kiew, die ihren Herrschaftsanspruch mit Gewalt durchsetzen will, nach der Wahl vom 25.11. mehr als zuvor. Demgegenüber ist jede lokale Ordnungsmacht, die die Interessen der Menschen vor Ort zu organisieren versucht, für diese Menschen ganz offensichtlich das kleinere Übel, selbst wenn sie wie in den gegenwärtigen Donezker und Lugansker Republiken mit ursprünglichen Grobheiten einer noch willkürlich brodelnden entstaatlichten Realität belastet ist.

 

Ideologische Verhärtungen?

Diese Tatsachen führen am Ende zu der Frage, wofür diese Volksrepubliken eigentlich langfristig stehen. Denken wir kurz an die Vorgänge dieses Jahres zurück: Volksabstimmung für eine Autonomie des Donbas im Mai dieses Jahres, nachdem die Krim sich im Protest gegen den Versuch einer gewaltsamen Ukrainisierung durch die Umsturzregierung aus der Ukraine gelöst hatte. Sehr schnell trat neben die Forderung nach Autonomie die weiter gehende nach Anlehnung an Russland und schon im Juni die nach Eigenstaatlichkeit von „Novorossija“.  Russische Nationalisten mischten sich aktiv ein.

Noch im Juli jedoch fanden Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Städten des Südens, des Ostens, sogar einzelne aus Kiew und aus dem Karpatischen Teil der Ukraine auf einer Konferenz in Jalta zusammen, wo sie nach intensiver Auseinandersetzung ein gemeinsames „Manifest“ zu ihren  Zielen verabschiedeten. Es war ausdrücklich auf die ganze Ukraine gerichtet. Darin definierten sie die Ukraine als „ein Territorium zwischen der Europäischen Union und Russland mit einer starken christlichen Tradition (vor allem orthodox), besiedelt von verschiedenen Völkern (Ukrainern, Russen, Weißrussen, Moldawiern, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen, Juden, Armeniern, Griechen, Tataren, Rusinen, Huzulen und anderen),  das eine Jahrhunderte alte Tradition der Selbstverwaltung des Volkes und des politischen Kampfes für seine Freiheit hat.“ Und ausdrücklich hieß es auf die selbst gestellt Frage, ob der Kampf im Südosten Separatismus sei: „Nein, das Territorium des Kampfes ist die ganze Ukraine. Die Aufständischen des Südostens (Neurussland) strecken die Hand den Brüdern und den Schwestern in allen Regionen der Ukraine mit dem Aufruf entgegen: «Steht auf gegen den gemeinsamen Feind! Wir werden die neue, freie, sozial verantwortliche Volksmacht auf dem ganzen Territorium der Ukraine und Neurussland´s schaffen.“

Gemeinsamer Grundtenor war: Protest gegen oligarchische Willkür, Forderung nach  rätedemokratischer Selbstorganisation und Widerstand gegen die von Kiew ausgehende Absicht der gewaltsamen Ukrainisierung, eine basisdemokratische Vision  ausgehend vom  Gemeinderat über autonome Regionen bis in eine Föderalisierung des Landes. Das Ziel: „Aufbau einer gerechten sozialen Volksrepublik ohne Oligarchen und ohne korrumpierte Bürokratie auf dem Territorium der Ukraine.“

Vom 10. Juli des Jahres 2014 bis zum 2. November 2014 verengte sich der Tenor der Befreiungsbewegung unter dem sich eskalierenden  Feuer des Bürgerkrieges erkennbar auf zu erreichende Kriegsziele, Kampfhandlungen und auf die Organisation des Überlebens in den umkämpfen Gebieten.

Die Ost-Wahlen vom zurückliegenden Wochenende sind der Versuch der Aktivisten der Donezker und Lugansker Bewegung sich aus dieser Verengung wieder zu befreien. Die Frage ist, welches der ursprünglichen Ziele – lokale Selbstorganisation, regionale Autonomie, Föderalisierung, Kampf den Oligarchen  – unter dem Druck der Verhältnisse auf der Strecke bleibt.

Der Druck der Verhältnisse, das muss gesagt werden, hängt nicht nur von Kiew und nicht nur von dessen westlichen Unterstützern ab, sondern auch davon, wie sich Russland verhält. Nach dem gegenwärtigen Verlauf der Dinge sieht es so aus, als ob Russland sich die Republiken  Donezk und Lugansk als „eingefrorene Konflikte“ vorstellen kann. Das ist natürlich keine Lösung auf Dauer. Aber es wäre, vorausgesetzt Kiew und besonders seine kriegswütigen Nationalisten und auch der Westen ließe das geschehen, für die Bevölkerung der Ukraine – und zwar in Ost wie in West – zur Zeit vermutlich die annehmbarste Entwicklung des Konfliktes, bei der die Menschen erst einmal dazu übergehen könnten, ihren Alltag zu reorganisieren – und dann vielleicht auch wieder miteinander  zu reden.

Die im Anfangsstadium der Autonomiebewegung angedachten radikalen Perspektiven einer rätedemokratisch organisierten autonomen Gesellschaft werden in einem solchen Klima allerdings vermutlich erstarren und eher vom Reif einer Sowjet-Nostalgie überzogen werden, denn verengt haben sich auch die Perspektiven in der Donezker und Lugansker Führung. Beispielhaft dafür sind die Vorstellungen von Boris Litwinow, ehemaliger Funktionär der Kommunistischen Partei der Ukraine, jetzt Vorsitzender des Obersten Sowjet der Donezker Volksrepublik und verantwortlich für die“ zivile Gestaltung der zukünftigen Lebens“. Er stellt sich für die Zukunft eine „kollektivistische“ Gesellschaft auf der Grundlage von Staatseigentum vor, das klingt wie ein Revival sowjetischer Strukturen – nur aufgelockert durch die Zulassung von Privateigentum, das er „selbstverständlich“ gut findet. Mit solchen Vorstellungen vom Staat, wenn sie nicht noch korrigiert werden, reduziert sich der revolutionäre Impuls der Republiken Donezk und Lugansk dann doch auf Separatismus, d.h. auf eine Kopie des Großen russischen Bruders im Kleinformat. Dieser Zustand könnte als Status quo lange Zeit konserviert werden, länger jedenfalls als die revolutionäre Unruhe des anfänglichen Maidan und Anti-Maidan. Man mag es nicht mögen, aber auf so eine „eingefrorene“ Situation  könnten sich vermutlich sogar die großen „Player“ einigen, vorausgesetzt es ginge um eine Beilegung der ukrainischen Konflikte und nicht um andere Ziele, für welche die Ukraine nur das Aufmarschgebiet ist.

 

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

04.November 2014