Das Schießen auf dem Kiewer Majdan wurde eingestellt. Ein Fahrplan wurde vereinbart, der vom bewaffneten Konflikt zurück in die politische Lösung der ukrainischen Krise führen soll: Bildung einer vorläufigen Regierung der nationalen Rettung binnen zehn Tagen. Rückkehr zur Verfassung von 2004,  das heißt, Rückführung von Kompetenzen des Staatspräsidenten zugunsten parlamentarischer Strukturen. Vorgezogene Neuwahlen zum Dezember 2014, statt März 2015.

Unterschrieben wurde der Fahrplan  vom Staatspräsidenten Viktor Janukowytsch, den Oppositionellen Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleg Tiagnibog. Vom Majdan-Rat wurde er gebilligt. Die Rada schritt sofort zur Tat: Sie beschloss die sofortige Rückkehr zur Verfassung von 2004 und nahm ein Gesetz an, das alle Verfahren gegen Demonstrationsteilnehmer annullieren soll.  Bei diesem Tempo ist zu erwarten, dass auch die Übergangsregierung sehr bald  zustande kommen wird. Die politische Welt gratuliert.

So weit, so erfreulich und aus vollem Herzen zu begrüßen, bis auf eine Kleinigkeit, die dem Tagesticker des ARD nur wenige Stunden nach Bekanntgabe des Fahrplans zu entnehmen war, nämlich, dass die durch ihre Militanz auf dem Majdan hervorgetretene Gruppe „Rechter Sektor“ die Vereinbarung mit der Regierung als  Betrug betrachte. Sie fordert den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und will die „nationale Revolution“ bis zum kompletten Sturz der Regierung fortsetzen.   

Diese Meldung lässt für eine zukünftige Regierung, genereller gesprochen für die gesamte Verfasstheit der Ukrainischen Gesellschaft, eine Reihe von Fragen deutlich werden:  Sind die Majdan-Proteste in die Gesellschaft integrierbar? Und wenn, dann in welcher Form? Wohin führt die Verfassungsreform? Wie kann sich eine zukünftige Regierung zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union positionieren? Und schließlich: Können und wollen die „global player“ zukünftig eine souveräne Ukraine akzeptieren?

Betrachten wir zuerst den Majdan: Wenn man einem von der Böllstiftung auf der Höhe der Eskalation veröffentlichen Aufruf ukrainischer und internationaler WissenschaftlerInnen glauben will, die sich ausdrücklich als Spezialisten in Fragen faschistischer, antisemitischer oder sonstiger rechter Bewegungen ausweisen, dann wird der Einfluss rechtsextremer Kräfte auf die Majdan-Bewegung in der öffentlichen, vor allem internationalen  Wahrnehmung überbewertet.  Mehr noch, die UnterzeichnerInnen des Aufrufes „vermuten sogar, dass in einigen Berichten, insbesondere solcher kremlnaher Massenmedien, die übermäßige Betonung der rechtsradikalen Elemente auf dem Kiewer Euromajdan nicht auf antifaschistischen Motiven“ beruhe, sondern im Gegenteil eine derartige Berichterstattung „paradoxerweise womöglich selbst Ausdruck von imperialistischem Nationalismus, in diesem Falle von dessen russischer Variation“ sei. Mit ihrer „gezielten Diskreditierung  einer der größten Massenbewegungen   zivilen Gehorsams in der Geschichte Europas liefern die russischen Medienberichte einen Vorwand für die politische Einmischung Moskaus, ja womöglich sogar  für eine künftige militärische Intervention  Russlands in der Ukraine, ähnlich derjenigen in Georgien 2008.“

Zweifellos ist diese Erklärung in ihrer Grundforderung nach Differenzierung der Vorgänge auf dem Majdan und der Zusammensetzung der Proteste ein ehrlicher Versuch der UnterzeichnerInnen oberflächlichen Übertreibungen entgegen zu treten. Aber  bezeichnend für die Grundbotschaft, die von der Erklärung ausgeht: Schon einen Tag nach Veröffentlichung der Erklärung konnte man im Leitkommentar der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“  lesen,  „der Kampf zwischen dem Janukowitsch-Regime und der Opposition in der Ukraine hat das Zeug, sich zum schwersten Konflikt zwischen Ost und West seit dem Untergang der Sowjetunion zu entwickeln. Das ist, wenn man so will, ein Georgien im geopolitischen Maßstab.“

 Mit solchen politischen Funktionalisierungen wird sich der politische Dialog zwischen etablierter parlamentarischer Macht und außerparlamentarischen Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation der Bevölkerung nicht entwickeln lassen. Zweifellos ist die Bewegung des „Euromajdan“  eine starke Massenbewegung des zivilen Ungehorsams, aber sie ist nicht die größte in der Geschichte Europas und sie ist erkennbar für Russland auch kein Vorwand für eine russische Intervention – schon gar nicht  „ähnlich derjenigen in Georgien 2008“. Man wird sich hoffentlich noch erinnern, dass die EU seinerzeit im Nachherein einräumen musste, dass Russland auf georgische Provokationen reagiert habe. Sinnvoller also als mit solchen Verdrehungen Vorurteile gegen Russland zu schüren, wäre es, einen realistischen Blick in die Bewegung zu tun, um deren Dynamik, Potential und Zusammensetzung vor dem Hintergrund der politischen Kultur der Ukraine, deren widersprüchliche Beziehung  zu Russland transparent und verstehbar zu machen.  Das betrifft insbesondere die anarchische Tradition des Landes von den freien Kosakendörfern am Rande des Zarenreiches über die breite revolutionäre anarchistische Machno-Bewegung vor und während  der Oktoberrevolution bis hin zu den Unruhen während der Sowjetzeit . Es ist eine Tradition, die einem Zentralstaatsmodell diametral entgegenläuft – gleich, wie der Präsident  heißt.

Damit erhebt sich die zweite Frage: In welche Staatsform kann eine solche Tradition münden? Dass ein zentralistischer National-Staat unter der Parole „Ukraine für die Ukrainer“ dem nicht entspricht, liegt auf der Hand. Umso verblüffender und erklärungsbedürftiger ist die Tatsache, woher der Zuspruch der ukrainischen Gesellschaft und großer Teile des Majdan für die nationalistischen Parolen der Opposition von Klitschko über Timoschenko bis zu den radikalen Sprüchen Tiagnibogs und seinem rechten Anhang kommt. Angesichts des realen Pluralismus des Landes könnte eine nationalistische Politik vom Zuschnitt Tiagnibogs nur zu einer Zwangs-Ukrainisierung führen. Was das Land tatsächlich braucht, ist das genaue Gegenteil:  einen kooperativen Pluralismus von Regionen mit weitgehenden Selbstverwaltungsrechten. Die Rückführung der Verfassung auf ihre Form von 2004 drängt zweifellos in diese Richtung. Am Ende dieses Weges taucht die Vision einer Föderation Ukraine auf. Dass eine solche Vision vor allem in den westlichen Medien als Spaltungsversuch denunziert wird, nur,  weil sie von der Kommunistischen Partei und auch von russischen Politikern aus der Nähe Putins vorgebracht wird, kennzeichnet das unproduktive, nicht an den Problemen der Ukraine orientierte Niveau dieser Beiträge. Wem, bitte sehr, würde es einfallen, Deutschland vor seinem Föderalismus zu warnen!? Klar ist aber, dass auf diesem Weg der Verfassungstransformation noch schwere Konflikte zwischen Traditionen anarchischer Selbstverwaltung, nationalistischen Zentralstaatsideen und Befürwortern eines nach Regionen gegliederten Föderalstaates auftreten werden. Wie sich diese Kräfte treffen werden, ganz zu schweigen von den militanten Radikalen, ist zur Zeit offen.

Offen ist natürlich auch, an welchen kulturellen Modellen diese Auseinandersetzungen sich weiterhin orientieren können. Da sind, zurzeit allen voran,  die demokratischen Werte des nachkolonialen Europa: Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus. Nie wieder Nationalismus. Nie wieder Selektion. Nie wieder Auschwitz. Das ist der europäische Traum von einer Politik für Menschen, die sich selbst bestimmen, statt einer Politik für Konzerne. Dieser seinerzeit im vereinigten Europa verkörperte Anspruch lässt sich im ersten Paragraphen des deutschen Grundgesetztes „Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ in seiner klarsten Form lesen. Das ist Versprechen, Vision und Botschaft zugleich. Der Geist dieser Botschaft, verbunden mit der Warmherzigkeit  der eigenen Tradition freier Gemeinschaftlichkeit, die sich vom Druck des Kollektivzwanges der letzten Jahrzehnte befreien will, beflügelte zweifellos die Proteste auf dem Majdan. Das ist wunderbar. Das ist der Traum einer guten, vielleicht sogar einer besseren Welt. Aber ist die Europäische Union, so wie sie heute als Großmacht in Spe auftritt, konkret, wie sie in ihrer „Nachbarschaftspolitik“ und in den Verhandlungen zum „Assoziierungsabkommen“ in den letzten Jahren und aktuell gegenüber der Ukraine auftrat, noch Botschafter dieser Werte? Es sieht doch eher so aus, dass der nachkoloniale Europäische Geist und die heutige EU-Politik, in deren Zuge ihre Anrainer in neo-kolonialer Manier in Billiglohnländer verwandelt werden, nicht deckungsgleich sind.

Es ist niemanden vorzuwerfen, dass es ihm oder ihr schwerfällt, den Unterschied zwischen Europa und EU zu erkennen, zumal die EU nicht nur mit der Propagierung der europäischen Werte, sondern auch mit dem Traum vom besseren Leben lockt. Nicht anders erging es seinerzeit vielen Ostdeutschen, die erst im Nachhinein erkannten, in welche Falle sie mit der schnellen deutsch-deutschen Vereinigung gelaufen waren. Nicht anders erging es den meisten Newcomern im Zuge des Erweiterungsprozesses der EU, nicht anders der russischen Bevölkerung. Aber so sicher wie seinerzeit für die Ostdeutschen, für die russische Bevölkerung, für die Mehrheit der ost-europäischen Staaten, am Ende auch für Griechenland, für Spanien, für Portugal ist auch für die Ukraine, wenn sie sich der EU assoziiert, der Tag absehbar, an dem das Auseinanderklaffen der Botschaft EUROPA und der Realität EU erkennbar wird.  Für Klitschko, Timoschenko, Tiagnibog, die heute diese EU als europäischen Traum verkaufen, obwohl sie es besser wissen müssten, ist diese Perspektive eine Hypothek, die sie in die bevorstehende Regierungsumbildung mitnehmen. Sagen wir es so: Der Majdan ist nicht unbedingt identisch mit EU oder Europa. Der Majdan, insbesondere sein nationalistischer Flügel, ist eine potentielle außerparlamentarische, spontane Kraft, mit der jede Regierung der Ukraine jederzeit rechnen muss.

Erhebt sich die Frage wie die „global player“ mit einer Ukraine umzugehen beabsichtigen, die ihren eigenen, unverwechselbaren Weg sucht. Wie es in den zurückliegenden Jahren seit dem Ende der Sowjetunion war, kann man mit Gewinn immer wieder bei Brzezinski Sbigniew in seinem Buch „The grand chessboard“ nachlesen: Wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt. Um Eurasien zu beherrschen, muss die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich herausgebrochen werden, damit Russland sich als Imperium nicht wieder erholen kann. Diese Strategie galt bis 2008, als Russland der NATO- und der EU-Erweiterung in der Zurückweisung der Georgischen Provokationen ein unmissverständliches Njet entgegensetzte. Der Versuch der „orangenen Revolution“ 2004 folgte noch diesem Muster.

Inzwischen sind die Figuren neu ausgegeben, nachzulesen in Brzezinskis neuem Buch „Strategic Vision“. Angesichts der Verschiebung des globalen Machtzentrums von Westen nach Osten, so Brzezinski, und dem tendenziellen Niedergang der US-Vormacht gehe es nun darum, das Bündnis zur Aufrechterhaltung der westlichen Ordnung durch die Einbeziehung von Russland zu erweitern. Erreichen möchte er das, indem er Russland über seine untrennbare Verbindung zur Ukraine in Abhängigkeit vom atlantischen Bündnis bringt. Der Außenminister der USA, John Kerry, nannte das auf der Münchner Sicherheitskonferenz die „Transatlantische Renaissance“.

Pech nur für die US-Strategen, dass die Europäische Union, allen voran Deutschland, die neue US-Strategie  erst noch begreifen muss. Anders ist die widersprüchliche Politik der EU nicht zu verstehen. Das gilt insbesondere für das Agieren der deutschen Politik, die einen Klitschko erst öffentlich zum Umsturz-Kandidaten aufbaut, um ihn dann wieder zu demontieren, die die Proteste durch Teilnahme von Regierungsmitgliedern anfeuert, um am Ende per Feuerwehreinsatz die aus dem Ruder gelaufene Radikalisierung vor Ort einzudämmen. Mit „fuck the EU“ hat US-Diplomatin Victoria Nuland diese Tatsache klar auf den Punkt gebracht. Für die Zukunft , das ist offensichtlich,  erwartet die US-Regierung, dass die EU ihre Sache geschickter anfasst, wenn sie es mit den Russen und den Chinesen aufnehmen will, die sich – ganz im Gegensatz zu den von den Medien verbreiteten Märchen – mit offenen Interventionen zurückhalten, aber selbstverständlich auch Einfluss nehmen.   

Die Ukraine wird vor diesem Hintergrund zum Treffpunkt der under-cover Agenten aus Ost und West, Europa, Amerika, Russland und Asien. Salopp formuliert, der innere Pluralismus des Landes setzt sich in einem Stelldichein der „global player“ fort, von denen keiner aus seiner jeweiligen imperialen Logik heraus zulassen kann, dass die anderen sich dort festsetzen. Für die Ukraine, wenn ihre Regierung geschickt ist, d.h., wenn sie den Pluralismus des eigenen Landes zur Stärke zu machen versteht, liegt darin eine Chance zu einem Übungsfeld der heranwachsenden multipolaren Ordnung zu werden. Was geschieht, wenn sie nicht geschickt ist, darüber muss jetzt nicht spekuliert werden.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de