Man mag den deutschen Bundespräsidenten Gauck dafür kritisieren, daß er unfähig sei, sein Trauma als Ostdeutscher aus seinen politischen Aufgaben als Vertreter des ganzen deutschen Volkes herauszuhalten. Man mag den Präsidenten auch dafür kritisieren, daß er der an der Spitze der expansiven Europäischen Union nach Osten strebenden deutschen Avantgarde ein menschenrechtliches Mäntelchen umhängen wollte. Beides trifft zu. Der aus der DDR-Geschichte stammende Präsident repräsentiert ja geradezu deren unbewältigte Dynamik. Und über die expansiven Ziele der EU, insbesondere über die Einmischung der deutschen Politik in die inneren Auseinandersetzungen der Ukraine ist in den zurückliegenden Wochen auch reichlich bis dahin in der Öffentlichkeit nicht Wahrgenommenes hochgespült worden. Das betrifft vor allem die Interventionen der Bundesregierung, mit denen sie, gestützt auf die Aktivitäten der Adenauerstiftung in der Ukraine selbst, über den Boxweltmeister Klitschko auf einen Umsturz der Regierung Janukowytsch hinarbeitet. Bei wem ruft das keine Erinnerungen aus der Vergangenheit wach? Vor diesem Hintergrund erscheint die Erklärung des Bundespräsidenten zu Sotschi als pure Ablenkung.

      Ins Schwarze jedoch dürfte ein Kommentar treffen – in seiner hintergründigen Bedeutung nicht unbedingt absichtlich –, der wenige Tage nach der Erklärung Gaucks unter der Überschrift „Die falsche Strategie“ in der „FAZ“ erschien. In ihm wird kritisiert, daß der Präsident keine „klare Begründung“ für seine Erklärung abgegeben habe. „Dies wäre allerdings das Mindeste“, heißt es dann weiter, „wenn seine berechtigte Kritik in Rußland auch vernommen werden soll. Am besten hätte sich Gauck vermutlich vor den Kameras des russischen Staatsfernsehens Gehör verschaffen können, bei einem Auftritt in Sotschi.“

      Im Klartext: Gaucks Richtung wird zugestimmt – aber Russland so frontal anzugehen, wie er es getan hat, sei falsch. Etwas, scheint es, hat Gauck nicht verstanden.

      Wer der Frage nachgeht, was Gauck nicht verstanden haben könnte, trifft auf das Problem des Strategiewechsels, der sich in der US-Politik seit Beginn der zweiten Amtszeit Barak Obamas vollzieht, nachzulesen am Besten in der neuesten Veröffentlichung des bekannten US-Strategen Zbigniew Brzezinski, der nach einer Pause während der Präsidentschaft G.W. Bush`s heute wieder als Berater der US-Politik wirkt. Manche meinen, er sei in der Zeit nach Bush vom Saulus zum Paulus geworden: Nicht mehr Ausweitung der US-Hegemonie unter Einschluß der Europäer als Junior-Partner sei heute die Aufgabe, erklärt er unter dem Titel „America and the Crisis of Global Power“, sondern deren Erhalt und Verteidigung unter den Vorzeichen einer Machtverschiebung von West nach Ost. Klingt nach einer Wende; nach wie vor ist Russland für Brzezinski allerdings das größte Problem, nur soll die Eindämmung Rußlands in Zukunft nicht mehr durch Ausgrenzung, sondern durch Einhegung in einen „größeren Westen“  erfolgen, der China und den asiatischen Staaten entgegentreten könne.

       Diese Vision, so Brzezinksi, gebe der Ausdehnung der „Europäischen Union“ eine neue Dynamik. In seinem neuen Buch klingt das so: „Eine systematisch gepflegte engere Beziehung zwischen Russland und dem Atlantischen Westen (ökonomisch mit der EU, in Sicherheitsfragen mit der NATO und genereller mit den USA) könnte durch eine allmähliche russische Azeptanz einer wirklich unabhängigen Ukraine beschleunigt werden, die dringender als Russland eng bei Europa und vielleicht ein Mitglied der Europäischen Union sein möchte … Eine Ukraine, die nicht feindlich gegenüber Russland ist, aber etwas weiter voraus ist in ihrem Zugang zum Westen, hilft Rußlands Bewegung nach Westen in Richtung einer potentiell lohnenden Europäischen Zukunft wirklich zu ermutigen. Eine vom Westen isolierte, in wachsendem Maße Russland untergeordnete Ukraine würde dagegen Russlands unkluge Wahl zugunsten seiner imperialen Vergangenheit ermutigen.“ (Strategic Vision, S. 150)

      ‚Neuer Wein in alten Schläuchen’ oder auch ‚Wolf im Schafspelz’ möchte man meinen:   Die Ukraine als Fliegenfänger zum Einfangen Rußlands, statt wie bisher laut schreiend mit der Fliegenpatsche auf Putin zu schlagen. Wenn das keine strategische Neuorientierung ist! Der deutsche Bundespräsident scheint das neue Spiel jedoch noch nicht so recht verstanden zu haben. Es fragt sich natürlich auch, was daran wirklich neu ist. Die russische Regierung zumindest hat ihre Zweifel. Anders ist das „eisige Schweigen“, das Wladimir Putin zu Gaucks Erklärung einhält, nicht zu verstehen. Klar, eine „lohnende“ Zukunft sieht anders aus.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de