Anmerkungen zum Artikel
„Auf in die Post-Kollaps-Gesellschaft“ in („Oya“ 02/2010)
von Johannes Heimrat

Lieber Johannes, dies vorweg: Du weißt, ich teile Deine Besorgnis um den Bestand unserer Kultur, ich teile Deine Visionen wie auch Deine Sicht über deren Stellenwert für gesellschaftliche Veränderungen und ich schätze Deine langjährigen Erfahrungen im Versuch ihrer Verwirklichung. Ich teile auch Deinen Realismus, was die Schwierigkeiten ihrer Vermittelbarkeit betrifft. Dabei habe ich nicht nur die Isolation der heutigen „Insulaner“ vor Augen, sondern auch die Integration der 68er Kommunebewegung in die Mainstream-Gesellschaft, ebenso wie die der darauf folgenden Versuche, die durch die APO nicht erreichten Veränderungen durch Kaderorganisationen und Parteibildung erzwingen zu wollen. Tatsache ist sogar, dass  selbst dies alles schon der zweite Anlauf zur Rettung vor dem befürchteten technokratischen Kollaps war, nachdem die ersten Versuche dieser Art nach dem ersten Weltkrieg im Faschismus untergingen. Hinzu kommen heute die aktuellen Angriffe des  internationalen Monopole auf die bisher noch bestehenden Bastionen traditioneller Selbstversorgung und lokaler wie regionaler Wirtschaft. Also insgesamt wahrlich Grund genug, sich bedrängt zu fühlen!
Dennoch springt mich, wenn ich dein Werben für eine Post-Kollaps-Orientierung lese,  ein ganz großes ABER an: Den von Dir aufgezählten Problemen ließen sich ja mit Leichtigkeit noch weitere hinzufügen, so etwa die demographische Verzerrung in China durch die dortige Ein-Kind-Politik. Wohin gehen die Aggressionspotentiale, die durch diesen Männlichkeitsstau entstehen? Hochgerechnet führen sie klar in die Katastrophe – die innere oder eine nach außen gekehrte. Die historische Erfahrung zeigt aber, dass Entwicklungen nie entlang einfacher Hochrechnungen verlaufen. – Ja, Probleme, Bedrohungen, katastrophale Tendenzen wie diese und viele andere bestehen! Aber sie zu festen Daten für „den Kollaps“ zusammenzuziehen, ist nicht möglich. Der „Kollaps“ ist seiner inneren Gesetzmäßigkeit nach kein punktueller Vorgang, sondern ein sich zwar eskalierender, aber in sich widersprüchlicher Prozess des Umbruchs, in dem es kein genau zu bestimmendes „Davor“ und „Danach“ gibt, sondern ein andauerndes „Jetzt“, die tägliche Herausforderung, hier und jetzt das Richtige zu tun, damit Leben sich entwickeln kann, und erkennbare Fehlentwicklung vermieden werden. Nichts anderes kann ja die auch von Dir gebrauchte Formulierung der lebensförderlichen Praxis bedeuten.
Zugespitzt formuliert, lieber Johannes, müssen wir uns wohl eher auf das von Dir so gefürchtete „Siechtum“, also die lang andauernde Transformation, als auf einen punktuellen Kollaps einstellen. Genauer gesagt, befinden wir uns ja bereits mitten in dieser Bewegung. Es gibt weder ein Warten auf Godot, denke ich, noch eine Zeit „danach“. In der Verkürzung der Krise auf einen durch Jahreszahlen definierten Kollaps sehe ich vielmehr die Gefahr, die Menschen in Kaninchen zu verwandeln, die voller Angst auf diese Schlange starren.
Hier bin ich beim zentralen Punkt meines Widerspruchs zu Deinem Post-Kollaps-Modell: Der Mensch, meine ich, lernt nicht nur durch Fehler, nicht nur dadurch also, dass der Fall in den Kollaps als möglichst tief dargestellt wird, damit jene, die überleben wollen, sich für die Zeit danach vorbereiten. Nein, der Mensch lernt – das erleben wir alle doch täglich – auch durch Einsicht, sogar durch Einsicht aus Liebe. Und das gilt zudem nicht nur für „Insulaner“, das gilt für alle Menschen. Diese Tatsache führt mich auch zu dem Schmetterling, den Du am Schluss Deines Textes trotz allem voller Hoffnung noch aus dem Kollaps aufsteigen lässt: Aber auch wenn dieses Bild von dem verehrten Nicolas Perlas stammt, so führt es hier doch in die Irre, denn die Raupe kollabiert nicht, sie krepiert nicht vor Hunger, nicht an Gift, nicht an Immunschwäche, Klimaüberhitzung oder dergleichen. Sie lebt! Und dies auch noch, wenn sie sich verpuppt! Und nur aus einer lebendigen Raupe geht ein lebendiger Schmetterling hervor. Anders gesagt, nur aus einer lebendigen Gegenwart, um die wir uns kümmern, geht eine lebendige Zukunft hervor. Wir wissen doch alle: Die Zukunft beginnt immer jetzt. Und sie beginnt mit jedem einzelnen Menschen. Wäre es nicht besser, auf diese Kraft zu setzen als auf die Angst, vielleicht gar, unbeabsichtigt, auf den Egoismus derer, die überleben wollen? Du glaubst doch schließlich auch an die Kraft der Visionen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert