Russland – Ende des Dialoges?
„Rache“ schwor Präsident Medwedew bei der Trauerfeier für die Opfer der Anschläge in der Moskauer Metro und erklärte, ab sofort „Krieg gegen den Terror“ führen zu wollen. Aus der Kanalisation werde man die Verbrecher herauszerren und sie vernichten, drohte Wladimir Putin. KP-Chef Gennadij Szuganow forderte die Todesstrafe für Terroristen.
Weitere Anschläge kündigte indes Doku Umarow an, der die Verantwortung für die Anschläge übernahm. Seit 2007 ist er als selbst ernannter Emir eines „Kaukasus-Emirates“ bestrebt, einen unabhängigen kaukasischen Gottesstaat zu errichten. „Der Krieg wird in ihre Städte kommen“, hatte er bereits im Februar dieses Jahres gedroht, als er sich zu einem Anschlag im November 2009 bekannte. In Dagestan, einer der südlichsten Provinzen des Kaukasus, folgten nur einen Tag nach den Moskauer Bomben zwei weitere blutige Explosionen; mit zukünftigen Anschlägen ist zu rechnen.
Sind die die russischen Staatsorgane dabei, sich auf diese Eskalationsstrategie einzulassen? Befürchtungen darf man haben. Allerdings hat Medwedew in derselben Ansprache auch gesagt, der Krieg gegen die Terroristen dürfe nicht dazu führen, dass die Menschenrechte verletzt würden. Russlands Politologen warnen davor – nahezu unisono –, jetzt eine „Gewaltspirale“ loszutreten. Spontan-Umfragen auf Moskaus Straßen zeigen, dass die Bevölkerung entgegen allen Erwartungen nicht in Hasstiraden gegen Kaukasier ausbricht. Zu unklar ist – trotz des Bekennerschreibens von Umarow – wer letztlich für die entstandene Situation verantwortlich zu machen ist und zu stark ist offenbar der Wunsch, nach Jahren der autoritären Restauration endlich in den Genuss der Reformen zu kommen, die Medwedew bei Amtsantritt versprochen hatte – Wachstum über 7%, soziale Reformen durch „nationale Projekte“, Freiheit der Selbstverwirklichung.
Wenig davon wurde bisher verwirklicht; das Reformprogramm schrumpfte mit der Krise. Seit die Öl- und Gaspreise jedoch wieder anziehen, erlebte auch die Modernisierungsdebatte in Russland eine neue Auflage. Allen voran durch den Präsidenten. Seit Ende 2009 ging er dazu über, die „Primitivität“ der russischen Wirtschaft zu beklagen, die Förderung von Hochtechnologie, sowie Unterstützung des Auslands, besonders der EU dafür zu fordern, um Russlands Abhängigkeit von Rohstoff-exporten zu mindern.
Ergänzend dazu lässt er eine Reformverordnung auf die andere folgen. Das sind, um nur die wichtigsten kurz zu nennen: Die Beschleunigung der Militärreform im Zuge der Neuausrichtung der russischen Militärstrategie; die „Schocktherapie“ zur „Reinigung“ von Polizei und Innenbehörden, die personell und strukturell durchgeforstet werden sollen; eine Verwaltungsreform, die darauf zielt, die bisherige „außerparlamentarische Opposition“ und die nicht in der Duma vertretenen Parteien in die Politik zu integrieren; eine neue Linie in der Kaukasuspolitik, dokumentiert in der Ablösung des bisher amtierenden Putin-Vertrauten durch einen neuen Verantwortlichen, der den repressiven Kurs durch wirtschaftlichem Aufbau, Bildungsmaßnahmen und Dialogangebote ersetzen soll.
Im März folgte dann die Veröffentlichung eines semi-offiziellen Modernisierungs-Programms durch ein eigens zu diesem Zweck gegründetes „Institut für moderne Entwicklung“ – unabhängig, aber dem Präsidenten sehr nahe stehend. Unter der Überschrift „Russland im 21. Jahrhundert: Modell einer wünschenswerten Zukunft“ werden von dem Institut neue Anstrengungen für die Modernisierung Russlands gefordert.
Neu ist in diesem Papier, das mit großem Getöse auf den Markt kam, zwar wenig; es werden die bereits bekannten Statements des Präsidenten ein wenig dramatisiert und mit neuen Vokabeln angereichert. Es gehe darum, einen „Wertekonflikt zu bewältigen“ von einer „Ressourcengesellschaft“ zu einer „vollwertigen Urbanisierung in der industriellen Epoche“ überzugehen – sonst sei ein „Rückstand“ unvermeidlich. Einen Rückstand aber könne sich Russland nicht leisten, wenn es Großmacht bleiben wolle. Ohne „Erneuerung des politischen Systems“, die den Bürgern mehr Entwicklungsmöglichkeit gegenüber einer „Überbetonung der Rolle des Staates“ gebe sei eine Modernisierung aber nicht möglich. Modernisierung stütze sich auf „Humankapital“ und brauche „Instrumente für eine Reproduktion des Humankapitals – Bildung, Pflege, Dialog mit den Verbrauchern, Abbau administrativer Barrieren usw.
Dies alles sind Gedankenfiguren, in denen sich das russische Denken seit den letzten Tagen der KPdSU bewegt, von der „beschleunigten Modernisierung“ und dem „Faktor Mensch“ bei Gorbatschow über Jelzin, Putin bis hin zu Medwedew. „Wünschenswert“, soweit sie das Leben der Bevölkerung verbessern, doch nichts wesentlich Neues.
Aufhorchen aber ließ doch, als Igor Jürgens, der Leiter des „Institutes für moderne Entwicklung“ Beamten und Mandatsträgern vorwarf, ihr Verhalten gegenüber der Anordnungen des Präsidenten „grenze an Sabotage“ und dass Präsident Medwedew solchen Leuten selbst damit droht, sie zu entlassen – und auch bereits Taten folgen ließ. Diese Vorgänge wecken in der Bevölkerung Hoffnung auf mehr, wie die Regionalwahlen vom März 2010 unmissverständlich zeigten, in denen die „Partei der Macht“ im Schnitt von 60% auf 40% Prozent der Stimmen reduziert wurde. Solche Hoffnungen will sich niemand durch Überreaktion gegen einen Gegner zerschlagen lassen, von dem klar ist, dass er eben von solchen Überreaktionen lebt.
Man kann nur hoffen, dass Medwedew sich von guten Leuten beraten lässt.
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