Die Serie der Überraschungen der Nach-Bush-Ära geht weiter: Nichts Angenehmes war vom EU-Russlandgipfel in Stockholm vom 18. November zu erwarten gewesen, nachdem das letzte EU-Russland-Treffen in Chabarowsk im Mai 2009 praktisch ergebnislos geendet hatte und nachdem Schweden, das zur Zeit die Ratspräsidentschaft der EU hält, den Vorschlag einer „östlichen Partnerschaft“ vorgelegt hatte, der die ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbeidschan, Armenien, Georgien, Ukraine, Moldawien und Weißrussland als besonderes Interessengebiet der EU definiert. Darin sind die zukünftigen Auseinandersetzungen um die Ukrainie, um Georgien, um die „eingefrorenen Konflikte“ Moldawien, Prednestrowien, Berg Karabach, um Ossetien und Abchasien mit eingeschlossen.
Der schwedische Vorschlag doppelt die bisherige Politik des „Ost-West-Korridors“, mit dem die EU und USA Russland seit dem Ende der Sowjetunion Russland von seinen früheren südlichen Einflusszonen abzuschnüren bemüht waren und immer noch sind, nunmehr durch den Versuch, dem Ost-West-Korridor einen Nord-Süd-Korridor hinzuzufügen, der vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee reicht. Faktisch sind die neuen EU-Mitglieder, insbesondere Polen und die die baltischen Staaten als nördliche Verlängerung dieses Korridors ein Bestandteil dieses Korridors, zudem ein sehr aktiver. Russlands Außenminister Lawrow wies den Vorstoß der „östlichen Partnerschaft“ denn auch scharf als „nicht hinnehmbar“ zurück.
Nichts Gutes hatte sich auch im Pipeline-Krieg angekündigt, nachdem in Chabarowsk Anfang des Jahres keinerlei Einigung erzielt werden konnte. Unvermittelt stand: Nabucco contra South-Stream im Süden, Ostseepipeline ja oder nein im Norden. Anfang Mai feierte die EU auf ihrem Gipfel in Prag den erfolgreichen Abschluss von Lieferverträgen mit Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan, ohne deren Zuleitungen an Gas, die Nabucco-Linie eine Totgeburt bliebe. Im Mai schloss Gazprom im Gegenzug in Sotschi neue Abkommen mit Energiefirmen in Bulgarien, Serbien, Rumänien und Italien über deren Beteiligung am Bau der South-Stream-Pipeline. Schweden forcierte noch einmal seine Einwände gegen die Osteepipeline. Im März vereinbarte die EU mit der Ukraine einen Masterplan zur Modernisierung des ukrainischen Pipelinnetzes, der Russland umging.
Sollten die Interessen Russlands nicht berücksichtigt werden, erklärte Putin daraufhin , müsse die Führung in Moskau ihre Beziehungen zur Europäischen Union überdenken. Für ihn sei der Plan „gelinde gesagt fehlgeleitet und unprofessionell“, wenn er ohne Russland als Hauptliefereant diskutiert werde. Wenige Wochen darauf sah man Putin mit Frau Timoschenko verhandeln.
Das Europäische Parlament legte eine Woche vor dem Treffen in Stockholm eine Entschließung vor, in der es nach zahllosen „“Hinweisen“, „Erwägungen“ und „Kenntnisnahmen“ zu Problemen in den Beziehungen zwischen EU und Russland und Forderungen zu deren Lösung u.a. erklärte, dass die vom 18. 9 – 5.10.2009 von Russland und Weißrussland durchgeführten strategischen Manöver „ernsthafte Besorgnisse darüber auslösten, ob dies auch dem Geist der guten Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respektes zwischen Russland und der Europäischen Union gerecht wird.“
Gemeint waren Manöver, die im Rahmen der „Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit“ (ODKB) im September 2009 durchgeführt wurden, nachdem sich Lukaschenko noch im März dagegen gesperrt hatte. Der ODKB gehören Armenien, Kasachstan, Kirgisien, Russland, Tadschikistan und Weißrussland an. Die Organisation galt lange als politisch tot; seit dem Krieg erlebt sie offenbar eine Renaissance.
Nur wenige Tage vor dem Gipfel war scheinbar alles wieder im Fluss: Schweden hatte seinen Widerspruch zur Ostseepipeline zurückgezogen, EU, Ukraine und Russland hatten die Einrichtung eines „Frühwarnsystems“ zur Sicherung der Energieversorgung rechtzeitig zum Gipfel unter Dach und Fach gebracht. „Entwicklung von Infrastrukturverbindungen zwischen der EU und der Russischen Förderation“, gab das EU-Parlament in seiner Entschließung seinen Gipfel-Vertretern vorsichtig mit auf den Weg, sei „vorteilhaft für beide Seiten“ müsse deshalb mit einer „Minimierung der ökonomischen und umweltbezogenen Kosten“ gefördert werden. Gemeint war der Ausbau der Pipelinenetze. Tief blicken jedoch ließ die „Erwägung“, die den EU-Vertretern vom Parlament mit auf den Weggegeben wurde, „dass es für die Europäische Union wichtig ist mit einer Stimme zu sprechen, eine starke interne Solidarität zu zeigen, eine gemeinsame Haltung einzunehmen und Russlands Angebote zur Intensivierung der bilateralen Beziehungen mit Mitgliedstaaten, die dazu bereit sind, n i c h t (Hervorh. Verf.) zu akzeptieren.“
Angesichts der Alleingänge Bulgariens, Serbiens, Rumäniens und Italiens in Sachen South-Stream, mit denen ja nur frühere Alleingänge aktualisiert werden, wird deutlich, worum es geht: Die Politik der EU gegenüber Russland ist alles andere als kohärent. Sie schwankt zwischen der immer wieder beschworenen strategischen Partnerschaft und offener Konkurrenz im Kampf um die Grenzräume zwischen Russland und EU – im Westen, Süden und im Osten. Der Entwurf einer „Zentralasienpolitik der EU“ hat auch hier soeben neue Ansprüche formuliert, die in Konkurrenz zu russischen Interessen stehen. Auch Medwedews Vorschlag einer „Sicherheitspartnerschaft von Vancouver bis Wladiwostok“, blieb von der EU bisher unbeachtet, ganz zu schweigen von einer aktiven Aufnahme der prinzipiellen russischen Vorschläge zur Entwicklung einer multipolaren Weltordnung.
Umso verblüffter durfte man sein, als Präsident Medwedew den EU nun anbot, die von ihr propagierten Klimaziele zu unterstützen, indem Russland seinen CO2-Aussstoß gemessen an 1990 um 25% zu senken bereit sei. Verblüffend auch, die Erklärung, Russland wolle nun auf dem schnellsten Wege der WTO beitreten: „Kriegsbeil begraben“, „Neuanfang“, „klarer Modernisierungskurs Russlands“ und so ähnlich lauteten die Kommentare. Die Erklärungen Medwedews sind allerdings wohl eher Gesten: Faktisch hat Russlands CO2-Aussstoss sich durch den Rückgang seiner industriellen Produktion seit 1990 ohnehin um fast den Betrag verringert, den Medwedew jetzt angeboten hat. Und was „so schnell wie möglich“ im Bezug auf den WTO-Beitritt bedeutet, ist nach wie vor offen. Nahezu vollkommen übersehen wurde, dass nicht eines der fundamentalen Probleme gelöst wurde – die sich zwischen den Integrationsräumen von EU und Russland stellen, ganz zu schweigen davon, dass politische Impulse erkennbar geworden wären, die über die gegenwärtige Konfrontation der Interessen auf eine Neuordnung dieser Räume hinausliefen, die den neuen Kräfteverhältnissen in der Welt entspricht. Eher schon kann man Medwedews Vorstoß, einschließlich seiner Rede zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, bei der er Russlands Verdienste für die nachsowjetischen Öffnungen herausstellte, als Korrekturversuch gegenüber einer überschwänglichen Obama-Verehrung verstehen. Gelöst wurde erst einmal nichts, versteckt dagegen sehr viel. Man wird sich auf weitere Überraschungen einstellen müssen.