In einer russischen Kleinstadt geschah am 4. Juni 2009 ein Wunder, das die Gesetze außer Kraft zu setzen scheint, nach denen die Finanz- und Wirtschaftskrise bisher in der Welt verläuft. Während in St. Petersburg das russische Wirtschaftsforum mit ca. 3000 Gästen tagte, wo Präsident Medwedew den weltweiten Kampf gegen die Wirtschaftskrise mit dem Kampf gegen den Faschismus verglich, sah der russische Premierminister Wladimir Putin sich gezwungen, einem Feuerwehrmann gleich zu einem Kriseneinsatz in die Provinz zu eilen. In Pikaljewo, 300 km nördlich von St. Petersburg waren die verzweifelten Einwohner dazu übergegangen, Straßensperren zu errichten, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie – als ehemalige „Monostadt“ von der örtlichen Zementfabrik als einzigem Arbeitgeber abhängig – seit Monaten keine Löhne mehr erhielten.
Der Eigentümer der Fabrik Oleg Deripaska, dem Kreml nahestehender Oligarch, galt mit einem Vermögen von 43 Milliarden Dollar noch vor einem Jahr als reichster Mann Russlands; die Krise ließ sein Vermögen innerhalb eines Jahres auf 3 Milliarden schrumpfen. Die Stilllegung der Fabrik gehörte offenbar zu seinem Gesundungsprogramm.
Schon seit Monaten wurde in Pikaljewo gegen Lohnkürzzungen, Entlassungen und schließlich gegen die Zurückhaltung des Lohnes protestiert. Als Ende Mai selbst die Warmwasserversorgung des Ortes zusammenbrach, weil auch die Wasserwerke, ebenfalls Eigentum Deripaskas, ihre Arbeit einstellten, platzte den Einwohnern die Geduld.
Putin stellte sich hinter die Forderungen der Belegschaften: Er verdonnerte Deripaska vor laufenden Kameras, seine Unterschrift für eine sofortige Begleichung sämtlicher Löhne zu geben und verordnete die Wiederaufnahme der Produktion. Aber er rüffelte nicht nur Deripaska, sondern auch die Betriebsleitung, örtliche und regionale Beamte, die auf die Proteste der Bevölkerung nicht reagiert hatten, ermahnte zugleich auch die Bevölkerung, nunmehr die Arbeit wieder aufzunehmen und sich weiterer Proteste zu enthalten.
Im Ort wurde Putin wie ein Held gefeiert – der gute „Zar“, der sich um sein darbendes Volk kümmert. Das Echo der Medien war geteilt: „Pikaljewo ein Modell?“, fragen die einen, „Pikaljewo – der Anfang vom Ende?“, rätseln die anderen. Aus anderen Landesteilen melden sich bereits weitere „Monostädte, die auf ein gleiches Wunder wie in Pikaljewo hoffen – die Chemiestadt Baikalsk am Baikalsee, in der 20.000 Menschen von der Papierproduktion des einzigen Werkes abhängen, die Traktorenfabrik im Altai in der Stadt Rubzowsk, deren Belegschaft ebenfalls schon seit Monaten mit Protesten auf sich aufmerksam zu machen versucht. Jetzt ist man dort entschlossen, zu ähnlichen Maßnahmen überzugehen wie in Pikaljewo, damit Putin komme und ebenso durchgreife wie in Pikaljewo. Angst vor Repression habe man nicht, man habe ja nichts mehr zu verlieren. Die radikal-gewerkschaftliche russische Linke erwartet eine Bewegung. Weitere 500 ehemalige „Monostädte“ befinden sich in vergleichbarer Lage wie Pikaljewo. Im Ausland heißt es, halb hämisch, halb bewundernd, so etwas wie „Pikaljewo“ sei nur in Russland möglich.. Wofür steht Pikaljewo wirklich?
Der Reihe nach: Hinter den Ereignissen von Pikaljewo wird das Dilemma deutlich, das sich aus der zwiespältigen Natur der russischen Privatisierung ergibt. Entgegen vielen immer wieder vorgebrachten Einschätzungen muss sie nämlich nicht als neo-liberal, sondern treffender als semi-liberal beschrieben werden. Russische Soziologen sprechen deswegen heute nicht von einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern von einem Hybriden. Drei wesentliche Elemente gilt es darin zu unterscheiden, die in der allgemeinen Krise jetzt immer klarer hervortreten:
Das sind zum Einen die oligarchischen Konglomerate, die sich aus der Raubprivatisierung ergeben haben. Ihr Kern besteht aus einem, zwei oder drei hoch rentablen Betrieben, um die herum sich im Zuge der Expansion des Oligarchischen Kapitals ein auf Pump zusammengekauftes Finanz- und Produktionsimperium gruppiert.
Das sind zum Zweiten solche „Monostädte„ wie Pikaljewo, die solange attraktiv auch für die oligarchischen Zusammenhänge waren, wie sie auf dem alten Stand der Technik ohne Modernisierungskosten einigermaßen profitabel weiter betrieben werden konnten.
Das sind zum Dritten die agrarischen Strukturen, in denen die neu entstandenen Latifundien, weiter bestehende Gemeinschaftsbetriebe sowie Privatbauern zusammen mit den Gemeinden trotz Privatisierung nach wie vor einen Versorgungszusammenhang bilden, worin Geldverkehr nur ein Element unter anderen ist. Vieles läuft immer noch über persönliche Beziehungen, Tausch und direkte Vergütung.
Die Betriebe wurden privatisiert – die großen Staatsbetriebe wurden in einzeln geführte, aber voneinander abhängige Teile zerlegt und so ausgebeutet. Die landwirtschaftlichen Einheiten zerfielen. Praktisch bedeutete das: Das Dreieck von Produktion, Gemeinde und familiärer Zusatzwirtschaft wurde zerrissen, auf dem die lokale, bzw. auch regionale Versorgungsstruktur in sowjetischer Zeit beruhte. Es sollte durch einen Geldkreislauf ersetzt werden. Der „funktionierte“ aber nur, wenn und solange der Konsum durch aggressive Kreditkampagnen auf hoher Stufe angeheizt werden konnte. Durch die Krise bricht dieser „Geldkreislauf“ zusammen – was bleibt, ist ein zerstörtes Versorgungsnetz, wirtschaftlich, sozial, kulturell. Pikaljewo ist nur ein Beispiel.
Konsequenterweise hört man aus Pikaljewo jetzt nicht nur Forderungen nach Zahlung des ausstehenden Lohns, sondern auch solche nach „Nationalisierung von unten“ – Mitbestimmung, Mitentscheidung, soziale Leistungen, gemeinsame Führung der Betriebe unter Mitwirkung der Belegschaften. Das bedeutet nichts anderes als die Forderung nach Widerherstellung des verlorenen sozialen Zusammenhanges im Interesse der örtlichen Versorgung.
Die Finanzkrise verläuft in Russland nicht anders als anderswo: Zusammenbruch des Kreditflusses, Absinken des Konsums, Produktionsstillstand, Betriebsstilllegung, Entlassung, Lohnrückhalt, soziales Desaster. Das Gleiche gilt für die Gegenmaßnahmen: Stützung der „sozial relevanten“ Betriebe, Kreditförderung, Konsumspritzen. Deripaska und andere Oligarchen erhalten für ihre Firmen gewaltige Summen aus dem russischen Stabilitätsfonds. Bei Opel treffen sich deutsche und russische Unterstützer des Kapitals sogar unmittelbar. Vor dem Hintergrund der beschriebenen traditionellen Versorgungsstrukturen Russlands, die eine weitgehende Abkoppelung regionaler Versorgungskreisläufe von den Schwankungen des (Welt)Marktes ermöglichten, zeigt sich in Russland aber klarer als im Westen, worum es in der heutigen Krise geht: Boris Kagarlitzki, Chef des „Antiglobalisierungskomitees“ in Moskau bringt das Problem, möglicherweise gegen seinen Willen, auf den Punkt, wenn er erklärt, Russland sei nicht mehr Sowjet-Russland, das Krisen wie früher, selbst noch 1990 und auch noch 1998 durch Rückzug auf die „Kartoffeln“, also durch Rückzug auf einfache Selbstversorgung lösen könne. Die Menschen seien im Laufe der letzten Jahre aus ihren sozialen Bezügen gelöst worden, hingen nun im Netz der Kredite, des Konsums, der Abhängigkeit von Lohnzahlungen etc. – folglich könne es nur einen Weg aus der Krise geben: diesen Konsum auch tatsächlich zu ermöglichen, tatsächlich heißt für Kagarlitzki, ihn durch Kontrolle von unten am Bedarf zu orientieren.
Trotz gegenläufiger Intention – hier Stützung der Produktion, dort Stützung der Konsumption – laufen beide Ansätze zur Krisenbewältigung, die von unten wie die von oben, in der praktischen Konsequenz auf dasselbe hinaus: die Re-Animierung des halb zerstörten Versorgungsdreiecks von Produktion, familiärer Zusatzwirtschaft und Gemeinde unter heutigen Bedingungen, d.h., Schaffung eines bedarfsorientierten regulierten Marktes. Im Unterschied zum Westen werden die „systemrelevanten“ Großunternehmen in Russland ja nicht hauptsächlich über den „Arbeitsmarkt“ definiert, sondern darüber, ob sie nach wie vor – oder wieder – die soziale Infrastruktur eines Ortes oder einer Region oder vielleicht – wie Gasprom – ganz Russlands tragen. Putins Auftritt in Pikaljewo zeigt, dass sich die russische Regierung darüber hinaus im Zugzwang sieht, auch am unteren Ende der Leiter soziale Brüche zu verhindern.
Die Krise, heißt das, schafft in Russland die Bedingungen, unter denen aus der halben Transformation eine ganze werden könnte, die das Entweder-Oder von industrieller Modernisierung oder Eigenversorgung überwindet – wenn die Stützung von oben und die Forderung nach Selbstbeteiligung von unten sich so treffen, dass der konkrete Bedarf und das soziale Wachstum vor das Wachstum des Profites gestellt wird. Diese Botschaft ist allgemein, sie lässt sich jedoch in Russland besonders deutlich erkennen.
Erstveröffentlichung in russland.ru