Johannes Heimrath: Kai, du bist einer der wenigen Autoren, denen in Bezug auf ein Grundeinkommen bewusst ist, dass man eine derart weitreichende neue soziale Technik nicht einführen kann, ohne insgesamt fundamental umzudenken. Wir können das Grundeinkommen nicht wie ein neues Organ in den bestehenden Gesellschaftskörper einpflanzen. Zuvor – oder wenigstens zugleich – muss sich die Gesellschaft wandeln.

Kai Ehlers: Stimmt! Mit seinem Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens bezieht der Unternehmer und Chef der dm-Drogeriemarktkette Götz Werner ja eine radikale Position. Für ihn darf die Auszahlung eines Grundeinkommens durch nichts begrenzt sein. Die Menschen sollen so viel Geld bekommen, dass sie davon leben können. Seine Begründung, der Mensch müsse frei sein, ist radikal. „Ihr seid alle Unternehmer“, sagt er den Zuhörerinnen und Zuhörern seiner Vorträge. Aber wie finden die Menschen zu diesem „Unternehmer-Sein“? Das werde sich dann schon entwickeln, meint Götz Werner. Ich denke, dass wir diese mögliche Entwicklung genauer unter die Lupe nehmen sollten.

JH: Mir scheint, die Frage ist, wie wir unser Mangeldenken– etwa dass Geld eine knappe Ressource sei – in ein „Fülle“-Denken verwandeln. Wie lernen wir, damit umzugehen, dass uns etwas geschenkt wird? Ein Grundeinkommenwäre ja kein Almosen. Unsere Gesellschaft ist reich genug, sie könnte sich das leisten. Aber welches Bewusstsein ist nötig, um mit einem solchen Geschenk sinnvoll umgehen zu können?

KE: Wir haben die Erde so verwandelt, dass sie uns mehr Ressourcen schenkt denn je. Hinzu kommt das Kapital als künstliche Ressource, die wir zusätzlich zu den natürlichen geschaffen haben. Aber unserer Gesellschaft
gelingt es nicht, diese Ressource frisch zu halten und für alle verfügbar zu machen. Sie müsste ihre Nutzungsbeziehungenzum Kapital hin neu definieren.

JH: Du sagst „künstliche“ Ressource? Ist das ein integrierender, zukunftsweisender Begriff oder ein Wort aus dem „alten Denken“? Sprechen wir doch lieber von einer „menschlichen“ Ressource. Wenn wir als MenschenAusdruck des Lebens unseres Planeten, von Gaia, sind, sollten wir uns auch mit unseren Begriffen nicht aus dem Lebensstrom der Erde ausschließen. Wir sprechen schnell von „künstlich“, wenn etwas das „natürlich Kreatürliche“ übersteigt, und damit unterstützen wir die Tendenz, das, was der Mensch tut, als von der Natur, vom All-Leben abgetrennt zu betrachten.

KE: Auch das „künstlich“ Erschaffene wäre in diesem Verständnis Teil der Natur. Es ist hilfreich, mit den Begriffen zu spielen. Sicherlich ist das Kapital eine menschliche Ressource, Menschen haben es geschaffen.

JH: Die Art und Weise, wie wir das Kapital nutzen, ist – in der Marxschen Definition – entfremdend und nicht lebensfördernd. Wäre unsere Wirtschaft hingegen von lebensfördernden Absichten beseelt, dürfte sich ein völlig anderes gesellschaftliches Bild ergeben.
Grünes Gras statt grauer Methoden

KE: Auch Götz Werner sagt: Wir brauchen ein anderes Menschenbild, das es uns erlaubt, uns gegenseitig die Freiheit zu gönnen, das Leben zu gönnen – auch das ist ein radikaler Grundansatz. Aber wenn man Werner ernstnehmen will und wirklich so denkt und handelt, erkennt man schnell, dass unsere heutigen gesellschaftlichenVerhältnisse für die Einführung des Grundeinkommensdenkbar ungeeignet sind. Unsere Gesellschaft lebt von kontrollierten und nicht von freien Menschen.

JH: Also geht es um eine Bildungsaufgabe. Ich schätze, dass 70 Prozent der Gesellschaft nicht der Ansicht sind, dass wir ein neues Menschenbild brauchen. Sie möchten nur die aktuellen Verhältnisse besser geregelt sehen.

KE: Selbst meine besten Freunde aus linkspolitischenKreisen argumentieren letztlich noch im alten Menschenbild. Man traut sich nicht, herauszutreten. Es herrscht dort immer noch derselbe Geist, dessentwegen ich schon Mitte der 80er-Jahre meine Arbeit als Redakteur
unseres linken Blattes hinter mir gelassen habe und in die damalige Sowjetunion gegangen bin. Ich wollte wissen, was dort jenseits von Sozialismus und Kapitalismus
neu entstand. Zu Hause war das kein Thema.

JH: Die Linke sitzt heute einklemmt zwischen den großen gesellschaftlichen Strömungen der Traditio-nalisten, die Autoritäten im Blick haben, und den Modernisten, die auf das Machbare, das Big Business fixiert sind. Ein Denken, das an Klassen und Autoritäten festhält oder das lediglich durch Maßnahmen und neue Methoden neue Lösungen herbeiführen will, wird uns nicht weiterbringen. Immer mehr Menschen bewegen sich jedoch aus diesen Feldern hinaus, sie verkörpern das kulturkreative Element. Sie wünschen und schaffen bereits gesellschaftliche Strukturen, in denen sich Kooperation,Selbstorganisation und Partizipation verwirklichen.Das sind wichtige Impulse für die Gesellschaft.

KE: Wie du sagst, dürfen wir das Grundeinkommen nicht als Rezept missverstehen. In Russland habe ich gelernt, dass positive Veränderungen nicht durch neu implantierte Modelle, sondern durch Werte entstehen.Und zwar dort durch den Rückgriff auf die alten Werte von nachbarschaftlicher Hilfe und Solidarität, die teilweise aus der Erinnerung an das vor-kommunistischedörfliche Leben, teilweise aus dem Kommunismus noch in den Menschen selbst lebendig waren. Den Zerfall,das Auseinandertreiben der sozialen Beziehungen, sieht man nicht nur in Russland, die Desintegration geschieht global. Wir müssen uns überall auf dem Planetendie Frage stellen: Was war von den alten Werten aus der vorindustriellen Zeit das Wesentliche, das Erhaltenswerte? Und was ist großartig an dem, was wir heute neu hinzugewonnen haben? Welche Mischung, in der sich der Mensch heute wiederfindet, entwickelt sich daraus? Das ist nicht einfach zu beantworten.

JH: Ich selbst habe eine Zeitlang gebraucht, um mich aus dem Denken in Maßnahmen und Handeln durch Rezepte zu verabschieden. Man ist so schnell geneigt, zu denken: Hier müsste man doch eingreifen – mit Bildungsmaßnahmen oder einem Sanierungsprogramm!Heute folge ich einer anderen Metapher: Mein Bild ist das grüne Gras im Frühling. Schon im Herbst, wenn das alte Gras braun wird und vertrocknet, ist es in zarten grünen Halmen unter dem braunen Teppich da. Es braucht keine Maßnahme, das grüne Gras hervorzubringen,und es braucht keine Methode, damit es den Übergang vom Herbst zum Frühling schafft. Das Neue ist schon da, und es kommt ganz allein über den Winter.

KE: Richtig, das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Aber du kannst es gießen.

JH: Wenn ich mich dem grünen Gras zugehörig fühle, kümmert mich das braune Gras wenig. Übertragen auf unser Thema des Grundeinkommens würde das heißen:Lasst es uns einfach tun, so wie Götz Werner sagt: „Es wird sich schon finden.“ Aber sind wir schon so viele, dass wir bereits einen zarten Teppich aus grünem Gras bilden?

Katalysator Subsistenzwirtschaft
KE: Ich weiß es nicht. Im Augenblick scheint es darum zu gehen, nach den Keimen zu suchen. In der Bundesrepubliksind viele Menschen beunruhigt und bereit, zu fühlen und zu denken, was anders sein könnte. Freilich ist die Zahl derer, die tatsächlich etwas tun, nach wie vor sehr klein. Aber das erschreckt mich nicht, das ist ein natürlicher Prozess. Das für die Bedeutung der Subsistenzwirtschafterwachende Bewusstsein ist für mich ein positiver Keim. In Russland etabliert sich beispielsweise unter der drückenden Decke der forcierten Kapitalisierungeine für viele Menschen lebensrettende Praxis der Subsistenzlandwirtschaft. Gemeinschaftliche Selbstversorgungund industrielle Modernisierung gehen eine Symbiose miteinander ein. Durch sie stillen die Menschennicht nur ihren Hunger, sie pflegen auch Nachbarschaftenintensiver als zuvor, entwickeln unternehmerischeEigeninitiative und werden unabhängig von der neoliberalen Fremdversorgung. In Deutschland wird Subsistenz-Landwirtschaft nach wie vor mit Rückschritt gleichgesetzt, obwohl manche schon zu begreifen beginnen,dass eine stärkere Eigenständigkeit von Regionen in ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nur positiv ist.Wir leben in einer Gesellschaft, die sich von der Subsistenz gelöst und sich in ein globales Netz der Fremdversorgung eingebunden hat. Das gilt als Fortschrittschlechthin. Mit dem Grundeinkommen, heißt es, würde jeder Mensch in die Lage versetzt, von dieser Fremdversorgung ohne Existenzängste zu profitieren. Es ist bezeichnend: Wenn man das Thema Subsistenz in den Diskussionsrunden zum Grundeinkommen einbringt,hört man oft Einwände wie: Willst du uns denn zum Tomatenzüchten zurückbringen?

JH: Ja, die Moderne hat uns davon „befreit“, eigene Tomaten ziehen zu müssen … Ich kenne Menschen, die sagen: „Wenn ich eine Milchtüte aufreiße, ist das für mich der Gipfel der Emanzipation. Ich habe einen Beruf, eine Familie – soll ich Kühe melken?“ Das ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist, dass die arbeitsteilige Gesellschaft sich in ihrer Extremform auch vom Menschen befreit. In den Industriestaaten heißt Arbeit lohnabhängige Beschäftigung – und da diese keinen inneren Wert hat, nicht mit Sinn erfüllt ist, kann sie nur immer billiger werden. Zugleich sind wir strukturell und faktisch von einer Lebensbasis in Form von Subsistenz-wirtschaft abgeschnitten. Das ist der Entfremdungs-aspekt der hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft. Die Idee des Grundeinkommens basiert aber auf der Annahme,dass jeder den Wunsch nach sinnerfüllter Arbeit in sich trägt und diesen ohne Existenzsorgen verwirklichen können soll. Was für Produkte würden wohl aus einem solchen Verständnis von Arbeit entstehen?

KE: Die Entfremdung ist die negative Seite der fortschrittlichenFremdversorgung: Die Kinder wissen nicht mehr, woher die Milch kommt.

JH: Ich habe die Hoffnung, dass durch das Grundeinkommender Subsistenzgedanke Auftrieb erhält, zumindestim ländlichen Bereich. Hier leiden viele Menschen darunter, dass sie aufgrund ihrer Lohnarbeitsbelastung nicht dazu kommen, ihren Garten zu bestellen und Hühnerzu halten. Dabei könnte man selbst in Städten mit „vertikalen Gärten“ die Eigenversorgung verwirklichen. Die Lust an solcher Arbeit könnte einen Selbstheilungsprozessdurch nicht-monetäre Wirtschaftskreisläufe einleiten. Aber vielleicht ist diese Hoffnung zu naiv …

KE: Ich fürchte, wenn nur eine finanzielle Grundversorgunggeboten wird und zugleich alle Produkte, die man zum Leben braucht, werden nur wenige den Impuls haben, ihren konsumorientierten Lebensstil zu ändern. Mit einer solchen Zuspitzung der Fremdversorgung bin ich nicht einverstanden.

JH: Vor zwei Wochen ging es auf der Sitzung des „Initiativkreises Regiogeld Mecklenburg-Vorpommern“ ebenfalls um das Themenfeld Fremdversorgung und Subsistenz. Dabei kristallisierte sich heraus: Alle wollen ein „natürliches Leben“. Was das sein könnte, ist seit der Alternativbewegung mit einem romantisch-rückwärtsgewandten. Blick betrachtet worden. Mir hat das nie gefallen, ich habe mich nie als rückwärtsgewandt verstanden. Wahrhafter Fortschritt heißt für mich WWW.HUMANTOUCH.DE„voraus zum natürlichen Leben“. Sich an Werten zu orientieren, ist kein Griff in die Mottenkiste, sondern man schaut: Dies hatte früher einmal Bedeutung, es hat zu Wohlsein und Wohlstand geführt – wie können wir das für die heutige Zeit neu interpretieren? Was ich bei Götz Werner als schwierig empfinde, ist: Die technisierte Fortschrittsgesellschaft ist für ihn die Voraussetzung für das bedingungslose Grundeinkommen. Aber das Verteilen des gemeinsamen Wohlstands scheint mir in jeder Gesellschaft möglich – wenn sie das entsprechende Bewusstsein dafür entwickelt. Das Beispiel der Ausgleichs-Ökonomie matriarchaler Gesellschaften zeigt das. Es ist das aufgeklärte, kritische, sich seiner Anhaftungen und Freiheiten gewahr werdende Bewusstsein, das die Voraussetzungen für ein Grundeinkommen schafft, und nicht der technische Fortschritt.

KE: Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem deutlich wird, welche Funktion die Debatte über das Grundeinkommen haben kann: Ein Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft zu sein, wie der Titel meines Buchs lautet, der sich bewusst nicht nur auf das Grundeinkommenbeschränkt. Unter „integriert“ verstehe ich die Verbindung von drei Aspekten: die Grundsicherung, die eigene Verantwortung für Soziales und ein Bewusstsein über das, was ich „wirklich, wirklich will“, wie Frithjof Bergmann sagt. Diese drei Ringe müssen ineinandergreifen. Es gilt nun, die Zusammenhänge zwischen ihnen deutlich zu machen: die Einsicht in die Notwendigkeit, sich trotz einer vorhandenen Grundsicherung in ein soziales Netz einzubringen, in dem alle wichtigen Aufgaben nach wie vor erfüllt werden – man denke nur an die Müllabfuhr. Es geht darum, trotz der materiellen Absicherung nicht in Apathie zu verfallen, sondern die Triebfeder in sich zu finden, das zu tun, was man im Kern seines Wesens wirklich, wirklich tun und in der Welt bewirken möchte. Im Zentrum dieser drei Ringe steht der Mensch. – Das klingt banal, aber es ist eben der Mensch, der sich neu definiert, sich neu ausrichtet. Ermutigungen und Zumutungen

JH: Mein Ansatz, diese Integration zu stärken, ist die Ermutigung des Einzelnen. Wir haben verlernt, uns zusammenzutun, als selbstbewusste Persönlichkeiten, ohne einem „Führer“ hinterherzulaufen. Wir brauchen ermutigende Beispiele dafür, dass wir mit all unseren Unterschiedlichkeiten gemeinsam stark sind. Immerhin gibt es in Europa an die 500 Gemeinschaften, die auch in ihre Umgebung ausstrahlen.

KE: Ja, das ist zwar noch keine Bewegung, aber es sind hoffnungsvolle Impulse. Wenn es um Ermutigung geht, dann meiner Meinung nach vor allem um den Mut, wieder ethische Beziehungen zu leben. Gerade in der Geschichte des Sozialismus ist die ethische Diskussion immer wieder ausgeklammert worden. Sozialismus galt als Ethik per se. Wie für dich liegt auch für mich Ermutigung darin, dass es kein „zurück zur Natur“, sondern ein „voraus zur Natur“ gibt. Ermutigend ist auch, dass wir heute neue Zusammenhänge herstellen können, beispielsweise zwischen politischen und geistigen Bereichen. Die Physiker drücken in ihren Formeln aus, dass alles mit allem verbunden ist, und wenn ich mich trauen kann, in der gesellschaftlichen Diskussion über diese Verbundenheit
zu sprechen, ohne als Esoteriker abgetan zu werden, ist das ermutigend. Das Entweder-Oder zwischen Materialismus und Spiritualität löst sich auf. Es gilt, Politik und Ethik miteinander zu verbinden und ständig über diese Brücke zu gehen. Mir persönlich hat es viel Mut abverlangt, diese Brücke zu beschreiten. Dazu gehört, dass ich mich zu mir als Mensch mit all meinen Dimensionen bekenne. Dann kann ich vielleicht auch so verrückte Dinge anerkennen wie die Tatsache, dass manche Menschen vom Licht-Essen leben können.

JH: Wir alle leben doch ausschließlich von Licht in seinen verschiedenen „Übersetzungen“ …

KE: Ja. Das ist keine Mystik. Aber das in einer politischen Diskussion auszusprechen, bewirkt Erstaunliches.

JH: Zur Ermutigung gehört auch die „Zumutung“. Das ist der Mut, dem anderen so viel zuzutrauen, ihn so stark werden zu lassen, dass er mich tragen kann. Die Idee des Grundeinkommens ist eine solche Zumutung – warum sollte unsere Gesellschaft dafür nicht stark genug sein?

KE: Richtig. Hinzu kommt, dass wir gerade in der Debatte um das Grundeinkommen mit positiven Beispielen aufwarten können. Es gibt Orte, an denen das Wirtschaftsprinzip, bedingungslos jedem den gleichen Anteil vom gemeinsamen Ertrag zu geben, seit Jahren erfolgreich praktiziert wird. Die Kommune Niederkaufungen gibt es seit 20 Jahren, die Kooperative Longo Mai seit über 30 Jahren, der Kern der Lebensgemeinschaft Klein Jasedow lebt seit 30 Jahren zusammen, und es gibt viele weitere. Gruppen von mehr als 50 Menschen schaffen es, eine gemeinsame Kasse zu haben. An realen Beispielen kann niemand vorbei, sie bringen Menschenbilder ins Wanken. Diese Beispiele muss man sammeln, vorstellen, man muss sie sich auch gegenseitig vorstellen. Die Tatsache, dass wir heute hier in Klein Jasedow sitzen, ermutigt mich ungeheuer. Ich frage mich, ob der Staat diese vielen ermutigenden Beispiele irgendwann als Bedrohung wahrnehmen wird. Wie kann beispielweise ein auf Euro und Dollar gestütztes Weltkapital eine Regionalwährung am Chiemsee zulassen? Ab wann beginnen Währungskomplemente, das herrschende Gesellschaftsmodell zu gefährden?

JH: Das Geld ist nicht so machtvoll, wie es scheint. Es sind nur wenige Dinge, die man in einer Subsistenz-wirtschaft von außen zukaufen muss, um glücklich zu leben. Das meiste Lebenswichtige ist vollkommen gratis: elterliche und partnerschaftliche Fürsorge, Mitgefühl, Liebe … Und Waren und Dienstleistungen kann man auch tauschen. Koppelt man die Idee der Tauschwirtschaft mit der des Grundeinkommens, und macht man das Geben aufgrund gemeinsamen Wohlstands bedingungslos, gelangt man zur Schenkökonomie. Alle geben, ohne das Gegebene zu bewerten, sondern entwickeln eine Kultur des Ausgleichs und des Maßhaltens. Geben und nehmen, ohne zu bewerten

KE: In Russland wird heute mit so etwas experimentiert. Im Süden gibt es eine Gruppe, die die Lohnarbeit abgeschafft hat. Man tauscht Leistungen oder Waren, ohne dass ihnen ein festgeschriebener Geldwert als Äquivalent beigemessen wird; man tauscht Gebrauchswerte. Das Ganze hat natürlich utopischen Charakter. Ein bestimmter Anteil von Gütern wird wohl immer über Geld vermittelt werden müssen. Das ist auch okay so.

JH: Auch diese Gruppe verwirklicht demnach ein Modell, das weltweit angewendet werden könnte. Wir müssten aus der bestehenden Wirtschaft lediglich eine Kleinigkeit wegkürzen, nämlich den nicht an Leistung geknüpften Geldwert, all die fiktiven „Werte“ der globa-len Börsenwetten. Dann würde das Geld das tun, was es eigentlich tun sollte: dort, wo Schenken und Tauschen nicht möglich sind, eine Leistung bestätigen und anders-wo wieder eine Leistung auslösen. Nicht mehr.

KE: In Russland bin ich auf den Fachbegriff für diese Art der Ökonomie gestoßen: „expolare Wirtschaft“. Sie funktioniert nicht dirigistisch, sondern jenseits der Pole Kapitalismus oder Sozialismus, „freiem Markt“ oder „Kommandowirtschaft“. Sie ist eine Art Gunstwirtschaft: Heute gebe ich deiner Tochter Nachhilfe-Unterricht für die Schule, morgen bringst du mir ein Pfund Zucker, weil ich es brauche. Das gleicht sich nicht materiell aus, hier werden nicht vergleichbare Dinge getauscht. Die Basis dieser Wirtschaft ist die Gunst. JH: Das ist das Wirtschaftsprinzip matriarchaler Ausgleichsgesellschaften. Man muss nicht weit suchen, um solche Ansätze auch bei uns zu finden, nur sind Solidarität, Nachbarschaftshilfe, Festkultur etc. bei uns nicht in Wert gesetzt. Das parasitäre Geldsystem beutet das Schenken aus. Was du expolare Wirtschaft nennst, bezieht sich auf die eigentlichen Lebenswerte, derer sich die Gesellschaft wieder bewusst werden muss.

KE: Ja, in der kapitalistischen Gesellschaft hat diese informelle, expolare Struktur nicht aufgehört zu existieren. Den Kapitalismus an sich gibt es nicht, er ist nur ein Denkmodell. Aber wenn alle ihn denken, wird alles andere in den Untergrund gedrückt. Mit dem Grundeinkommen sollten wir ein ganz neues Denken wagen und zuallererst eine soziale Struktur schaffen, die die Menschen dabei unterstützt, sich selbst versorgen zu können, und sie zugleich dazu einlädt, nach ihrer Lebensaufgabe zu suchen, nach sinnerfüllter Arbeit. ♠

Kai Ehlers ist Buchautor, Presse- und Rundfunkpublizist. Zuletzt von ihm erschien: „Grundeinkommen für alle. Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“, Pforte-Verlag 2006, www.kai-ehlers.de.
Johannes Heimrath, Herausgeber dieser Zeitschrift, ist Komponist und Medienunternehmer sowie Geschäftsführer des Club of Budapest

WorldShift Network.

Veröffentlich in: KursKontakte 155, Februar, März 2008

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