Am Donnerstag der letzten Aprilwoche, wegen der Begräbnisfeierlichkeiten für Boris Jelzin um einen Tag verschoben, lud Wladimir Putin zur Jahresbotschaft in den Kreml. Versammelt waren Duma-Abgeordnete, Mitglieder des Föderationsrates, alle Minister, die Spitzen der Justiz, der Wahlkommission, des Rechnungshofes, die Mitglieder des Staatsrates und die Führer der größeren Konfessionen. Anwesend waren auch die Mitglieder der Gesellschaftskammer, die als Hüterin der Presse- und der Meinungsfreiheit agiert. Es war Putins letzte Rede an die Nation. Die nächste Rede werde, so der Noch-Präsident, ein anderes Staatsoberhaupt halten, da seine Dienstzeit zu Ende gehe. Damit ist allen Spekulationen über eine mögliche dritte Amtszeit Putins endgültig ein Riegel vorgeschoben.
Putins trat, entgegen anderslautender Kommentare, klar und moderat auf, konzentrierte sich auf innenpolitische Fragen. Er eröffnete mit einer Schweigeminute für Jelzin, erinnerte an dessen Verdienste, kam dann jedoch zügig auf die heutige Situation, die sich gegenüber den „schweren Zeiten“ unter Jelzin zum Guten entwickelt habe. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich seit dem Jahre 2000 verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. Aber man stehe dennoch erst am Anfang einer „lange währenden Wiedergeburt des Landes“, habe noch viel zu tun, politisch wie auch sozial. Die „geistig-seelische Einheit des Volkes, sowie die uns vereinenden moralischen Werte“, betonte Putin, seien daher ein „ebenso wichtiger Faktor der Entwicklung wie die politische und die ökonomische Stabilität.“
Bei manchen ausländischen Zuhörern rief diese Einleitung den Verdacht hervor, Putin wolle sich für den Rest seiner Amtszeit an den aktuellen Widersprüchen vorbei stehlen, indem er die „nationale Karte“ ausspiele. Der moralische Einstieg war jedoch nur der Leitfaden, an dem entlang Putin seine strategischen Schwerpunkte setzte.
Die wichtigsten seien hier kurz vorgestellt:
Die zurückliegenden Korrekturen der Wahlverfahren trügen dazu bei, so Putin, die Wahlen demokratischer zu machen, sie von störenden „ungünstigen Methoden“ zu entschlacken. In der zukünftigen Duma werde es dadurch stärkere Oppositionskräfte der „Fraktionen“ geben.
Ob die hinter diesen Ausführungen stehende Hoffnung Putins aufgeht, ein stabiles Parteiensystem, vielleicht gar Zweiparteienwahlsystem nach US-Muster von oben initiieren zu können, werden die Wahlergebnisse zeigen.
Nicht allen gefalle die stabile Entwicklung des Landes, so Putin weiter. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei.
Beresowski war graue Eminenz der oligarchischen Herrschaft während der Zeit Jelzins; seit seiner Flucht vor Verfolgung wegen Steuerhinterziehung usw. betreibt er von London aus, gestützt auf die exportierten Milliarden, seine Rückkehr an die Macht. Kasparow, der von westlichen Medien als „Führer der russischen Opposition“ herausgestellt wird, ist aktives Mitglied des „National Security Advisory Council“ (NSAC) in Washington, einer Neben-Organisation des „US-Centers for Security Policy.“ Diese Organisation ist einer der aktivsten „Think-Tanks“ der US-Neo-Konservativen. Das sind jene US-Kräfte, die ihre Aufgabe darin sehen, weltweit „bunte Revolutionen“ zu exportieren. Man darf sich wundern, wie verhalten, ohne Namen und Länder zu nennen, Wladimir Putin über all diese Aktivitäten spricht; ob Extremistengesetze allerdings das richtige Mittel gegen interventionistische Provokationen sind, wird man bezweifeln müssen.
Eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung des Landes, so Putin weiter, spiele die Entwicklung bürgerlicher, ziviler Vereinigungen. Im letzten Jahr habe sich die Zahl gesellschaftlicher Vereinigungen und der Einsatz von Freiwilligen erhöht, die sich am gesellschaftlichen Aufbau in Russland beteiligten. In demselben Zeitraum seien auch wichtige Vollmachten an örtliche Verwaltungsorgane abgegeben worden, so im Städtebau, im Wald-, Boden- und Wasserwesen, im Tierschutz und in allgemeinen Beschäftigungsfragen der Bevölkerung. Ergänzend dazu sei zudem ein neues Gesetz der örtlichen Selbstverwaltung in Kraft getreten. Er hoffe, dass dies alles zur Entwicklung von Basiskräften beitrage, die Russland dringend brauche.
Nach sieben Jahren putinscher Re-Zentralisierung, in deren Verlauf die Wahl örtlicher Selbstverwaltungsorgane bis hinauf zu den Gouverneuren der Provinzen durch Ernennungen seitens des Präsidenten, bzw. seines präsidialen Verwaltungsapparates ersetzt wurden, wäre dies ein bemerkenswerter neuer Akzent in der russischen Politik. Zu bezweifeln ist allerdings auch hier wieder, ob dies von oben her zu verwirklichen sein kann.
Es stellt sich zudem die weitere Frage, in welchem Verhältnis die von Putin angegebene Entwicklung russischer nicht-staatlicher Vereinigungen zur Verschärfung der Zulassungs-Bedingungen für die Tätigkeit von NGOs steht. Tatsache ist, dass die Aktivität nicht-staatlicher Organisationen durch die gegenwärtige Gesetzeslage nicht nur für ausländische Organisationen, sondern allgemein sehr erschwert worden ist und, sollte nunmehr Extremismus im oben genannten Sinne schärfer verfolgt werden, auch noch weiter erschwert werden wird. Für eine freie Entfaltung von Basisaktivitäten auf kommunaler Ebene ist das mit Sicherheit Gift, auch wenn sie nicht ausländisch, sondern einheimisch sind. Insofern muss man befürchten, dass diese Hoffnungen Wladimir Putins, wenn man denn bereit ist sie ernst zunehmen, Hoffnungen bleiben.
Bleibt noch der außenpolitische Aspekt, der in den westlichen Medien besondere Beachtung fand, obwohl er in Putins Rede eher am Rande auftaucht: Putin beklagt, die EU halte die Verträge der KSE über konventionelle Streitkräfte in Europa nicht ein. Deshalb will er die Verträge zu erneuter Verhandlung in den NATO-Russland-Rat einbringen. Sollte dies nicht akzeptiert werden, dann werde Russland einen einseitigen Ausstieg aus den Verträgen in Erwägung ziehen.
Für westliche Medien ist damit der Tatbestand putinscher Aggression erfüllt. Tatsächlich kündigt Putin nur an, dass Russland über Fragen der Rüstung offene Verhandlungen fordert. Damit knüpft er an den Vorschlägen an, die er kürzlich auf der NATO-Sicherheitskonferenz vortrug: Ende der von den USA betriebenen Militarisierung internationaler Beziehungen, stattdessen Eintritt in Verhandlungen zu Abrüstung auf allen Ebenen, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraumes.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.