De mortiis nihil nisi bene – über die Toten nichts als nur Gutes. Das haben wir in der Schule gelernt, gleich ob Russen, Deutsche oder Europäer. An diese Traditionen wollen wir uns halten, auch Boris Jelzin gegenüber, der am 23. April aus dem Leben schied. Wir halten uns daran, auch wenn er im Schatten, den sein Nachfolger Putin inzwischen wirft, in letzter Zeit nur noch schwer zu erkennen war, ja., für manche seiner Landsleute inzwischen vom Helden der von vielen so genannten demokratischen Revolution der 90er Jahre zum Inbegriff des Chaos geworden ist, das man lieber vergessen möchte.
Aber der der Aufstieg Jelzins vom Bauernjungen aus dem Dorf Butka im Bezirk Swerdlowsk der russischen Provinz zum Präsidenten des nachsowjetischen Russland ist aus der Geschichte des Übergangs von der Sowjetunion zum heutigen Russland ebenso wenig wegzudenken wie die amerikanische Story des Tellerwäschers, der zum Millionär aufstieg, nur dass Jelzin die Teller, die ihn an die Spitze führten, nicht wusch, sondern zerschlug.
Wenn irgendjemand das russische Sprichwort: „Der russische Muschik spannt lange an, aber wenn er losfährt, dann fährt er rasant“ verkörpert, dann Boris Jelzin. Und mehr noch, auf ihn trifft auch die Fortsetzung des Sprichwortes zu, die häufig vergessen wird, die aber doch wesentlich zum Verständnis dessen ist, warum viele Menschen in Russland selbst wie auch im Ausland, den „Bären Jelzin“ als einen typischen Russen erlebten. Dieser Zusatz, von Menschen, die ihr Land durchaus lieben bisweilen hinzugesetzt, lautet: Und wenn er dann rast, dann ist es ihm meisten gleich wohin, Hauptsache es bewegt sich.
Gemächlich sehen wir den kleinen Jelzin vom Bauernjungen aus Butka in der Provinz bei Swerdlowsk zum Baulöwen der Region aufsteigen, Stalin überleben, nach dessen Tod 1961 in die Partei eintreten, sich unter Chruschtschow, dann unter Breschnew ebenso gemächlich als Bezirkssekretär der Partei etablieren. Erst nachdem Michail Gorbatschow ihn 1985 aus der Provinz nach in die Moskauer Parteispitze holt, 54jährig, legt Boris Jelzin los.
Schon ein Jahr später, auf dem 27. Parteitag der KPdSU 196, hat Jelzin dazu angesetzt, den vorsichtigen Gorbatschow zu überholen. 1990 hat er seinen Gönner, der seinen Umsturzeifer zu bremsen versucht, bereits hinter sich gelassen. Als Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland gibt er demonstrativ seinen Austritt aus der Partei bekannt. Kurz darauf schafft er sämtliche Privilegien für Führungskader in seinem Machtbereich ab.
Ein letzter Versuch Gorbatschows, Jelzin in sein behutsames Reformtempo durch die Erarbeitung eines gemeinsamen Reformplanes für die nächsten Jahre einzubinden, scheitert 1990, als Jelzin für die sofortige Verwirklichung des „100 Tage-Programms“ plädiert, das die Kommission vorlegte. Statt mit Gorbatschow einen Kompromiss zu suchen, ließ Jelzin sich mit dem Programm nach Harvard einladen, um sich von dort Bestätigung und Unterstützung zu holen. Gorbatschow warb in London vergeblich um Unterstützung für langfristige, allmähliche Reformen.
Damit war der Bruch zwischen beiden perfekt. Der Machtverfall Gorbatschows, später als sog. Putschversuch der kommunistischen Alt-Kader bezeichnet, war vorprogrammiert. Mit seinem Aufruf zur Beschleunigung der Reformen, manifestiert in den von ihm ausgegebenen Slogans: „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“, konnte Jelzin sich als neuer starker Mann etablieren, der dem Putsch Einhalt gebot.
Alles Weitere lief im Galopp: Auflösung der Union, Ablösung Gorbatschows, Umsetzung der „Schocktherapie“ als Regierungsprogramm, das die Bevölkerung ins Elend stürzte und eine Schattenregierung aus IWF, Weltbank und russischen Privatisierungsgewinnlern entstehen ließ.
Hoch ist Boris Jelzin bei aller Überstürztheit indes anzurechnen, dass er den Übergang ohne Blutvergießen und ohne Säuberungen inszenierte. Das Verdienst dafür wird auch durch den späteren chaotischen Verlauf seiner Reformpolitik nicht geschmälert. Blut wurde erst vergossen, als Jelzin gezwungen war, die von ihm gerufenen Geister der Anarchie wieder einzugrenzen: 1993 Panzereinsatz gegen die Duma, 1994 Einmarsch in Tschetschenien, darüber hinaus immer wieder aufflackernde Kriege in Randgebieten wie Moldau, Abchasien, Südossetien, Berg Karabach usw. Nicht alles, heißt das, was Jelzin als Präsident tat, gereicht ihm zur Ehre. Er war Zerstörer einer sklerotisierten Ordnung. das wollen wir hier nicht weiter aufzählen; er war auch Verwalter einer großen Unordnung, sicher kein Demokrat westlichen Zuschnitts, aber ein Mensch, der sich von Spontaneität und Freiheitswillen leiten ließ.
Als genial werden seine Landsleute seinen letzten Schachzug in Erinnerung behalten und vermutlich in die Geschichtsbücher übernehmen wollen: Die Einführung eines unbekannten Mannes Namens, Putin, in das Zentrum der Macht, von dem Jelzin sich und seiner „Familie“, also dem Hofstaat seiner Verwandten, Ratgeber und reich gewordenen Günstlinge lebenslange Immunität zusichern ließ. Dies war gleichbedeutend mit einer Immunitätserklärung für die Generation der Umstürzler und damit Chance für die Einleitung einer relativen Stabilität. Auch hier gelang Jelzin ein bruchloser Übergang ohne Liquidation. Es ist zu hoffen, dass es dieses Erbe Jelzins ist, das weiter wirkt, wenn Russland jetzt wieder einen Machtwechsel zu bewältigen hat, und nicht die andere, chaotische Seite, die sein alter Mitkämpfer Boris Beresowski jetzt erneut zu aktivieren versucht, wenn er zum gewaltsamen Sturz Putins aufruft.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

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