Der Gedanke eines bedingungslosen Grundeinkommens ist keine neue Erfindung. Schon unsere Vorfahren kannten es: Wer Mitglied des Clans, des Stammes, der Dorfgemeinschaft war, der war schon dadurch grundversorgt, allerdings nicht ohne die Verpflichtung, sich irgendwie nützlich in die Gemeinschaft einzubringen und sei es als Hirte für die auf der Almende gemeinschaftlich gehaltenen Tiere. Nur wer – aus welchen Gründen auch immer – für vogelfrei erklärt wurde, ging damit seiner Grundrechte auf Versorgung verlustig. Die Entwicklung der westlichen bürgerlichen Gesellschaft löste diese Grundordnung zugunsten einer privatrechtlichen Eigenversorgung auf, die den Einzelnen zum Schmied seines Glückes erklärte. Egoismus wurde als Triebkraft des Wirtschaftslebens definiert; das Streben nach persönlicher Bereicherung wurde zum herrschenden Prinzip.
Anders verlief die Geschichte in Russland. Dort wurde die ursprüngliche Grundversorgung der Almende nicht aufgelöst, sondern in der Entwicklung der gemeinwirtschaftlich organisierten Dorfgemeinschaften, in der der einzelne nicht Eigentums-, sondern Nutzungsrechte am Gemeinschaftsvermögen besitzt, zur Grundorganisation der zaristischen und nach deren Sturz der sowjetischen Gesellschaft: In der dorfgemeinschaftlich organisierten, zu Sowjetzeiten dann in der auf Sowchosen, Kolchosen, Betriebs- und Wissenschaftskollektiven aufgebauten Gesellschaft war das Prinzip des Grundeinkommens praktisch verwirklicht, nur lief es nicht über Geldauszahlungen seitens des Staates, sondern über die Grundversorgung, die als geldlose Vergütung auf der Grundlage der agrarischen oder wissenschaftlichen Betriebsfonds ausgegeben wurde. Über die Zugehörigkeit zu einem Betrieb oder auch einem Institut waren die Menschen grundversorgt, zeitweise auf niedrigem Niveau, aber niemand fiel durch dieses Netz.
Wesentlicher Bestandteil dieser Organisation war die familiäre Zusatzversorgung durch den eigenen Hofgarten im Rahmen der Sowchose oder Kolchose, war die eigene Datscha auf dem vom Betrieb gestellten und mit Infrastruktur versorgten Gelände, zumindest das eigene, persönlich bewirtschaftete Stück Land, auf dem man eine familiäre Zusatzwirtschaft für die Abdeckung von Grundbedürfnissen betreiben konnte. Dazu kam die Bereitstellung von Wasser, Strom und Gas, der Betrieb von Kindergärten, die Freizeitmöglichkeiten, der Kulturpalast, die medizinische Versorgung usw. Alles dies war nicht „umsonst“, wie es in der westlichen Diktion immer wieder heißt, sondern unentgeltlich, also vergütet auf der Grundlage der betrieblichen oder institutseigenen Fonds. Kurz, das wirtschaftliche Leben war rundum abgesichert. Niemand musste sich sorgen aus diesem sozialen Netz zu fallen, wie tief es auch zeitweilig und in einzelnen Fällen gehängt sein mochte. Eine andere Sache ist, dass diese aus langer russischer Tradition gewachsene Grundorganisation zur Sowjetzeit vom Staat usurpiert wurde, was bei anwachsenden Produktivkräften sowie wachsender persönlicher Qualifikation und damit verbundenem zunehmendem Freiheitsbedürfnis der Menschen zu der Explosion führen musste, die wir schließlich als Perestroika und als Auseinanderbrechen der Union erlebt haben.
Selbst in den USA war das Thema eines allgemeinen Grundeinkommens soweit herangereift, dass es Mitte der 60er bereits die Form von Kongressvorlagen annahm, bevor die ganze Bewegung für ein Grundeinkommen von der Politik Reagans beiseite gewischt wurde.
Heute erlebt der Gedanke einer allgemeinen Grundversorgung in den Zentren der Industriegesellschaft eine Neuauflage, weil offensichtlich wird, dass die bisherigen Sozialversicherungssysteme, weit entfernt davon, für die in die Krise gekommenen sowjetischen Verhältnisse eine lebensfähige Alternative zu bieten, selbst gewaltig ins Trudeln gekommen sind und weiter kommen: Die Ursache ist in beiden Fällen ein und dieselbe: Das Wachstum der Produktivkräfte, die Steigerung der Produktivität, verlangt mit Macht nach einer Veränderung der veralteten Produktionsverhältnisse, im Besonderen nach einer Veränderung der aus dem letzten Jahrhundert überkommenen Sozialsysteme, in denen die Wohlfahrtsleistungen der Gesellschaften unmittelbar an die Lohnarbeit gekoppelt waren: Der Anteil der zur unmittelbaren stofflichen Versorgung eines Menschen notwendigen Arbeit wird immer geringer während der Anteil frei verfügbarerer Arbeitskraft wächst, die für anderes als den bloßen Lebenserhalt eingesetzt werden kann. Hieraus folgt, dass immer weniger Menschen innerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses tätig sein müssen, um die gleiche oder gar höhere Produktivität zu erreichen. Die übrigen werden aus dem Produktionsprozess ausgestoßen und können, bzw. müssen sich anderen Tätigkeiten zuwenden. Die Abkoppelung der Kosten für eine Grundversorgung der Gesellschaft von der Lohnarbeit und die Einführung eines Grundeinkommens, das die Früchte der Produktivität unabhängig von der Lohnarbeit des Einzelnen, vielmehr abhängig von der Wertschöpfung in der Produktion selbst oder auch über den Konsum auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen verteilt, ist nur konsequent.
Anders gesagt: Was wir heute erleben, ist eine globale Wachstumskrise, die uns neue Möglichkeiten beschert: Ihr erstes Opfer, wenn man es so sagen will, war die festgefahrene Bürokratie der Sowjetunion, die unter dem Stichwort der notwendigen Intensivierung, der Befreiung von Initiative usw. von unten, aus der Peripherie gesprengt wurde. Jetzt ringt man in Russland um neue Formen zwischen den sowjetisierten Strukturen traditionellen gemeineigentümlichen Lebens und dem „kapitalistischen Weg“. Etwas Neues wird dabei heraus kommen, bei dem es mit Sicherheit nicht dabei bleibt, dass die staatliche Bevormundung zerschlagen und durch eine Hyperprivatisierung und Privatversorgung nach westlichem Muster ersetzt werden wird; es wird vielmehr, schon jetzt erkennbar, eine Kombination, eine Symbiose von Industriearbeit und Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung entstehen, die die Grundversorgung auf eine neue, freiwillige, selbst bestimmtere Stufe hebt.
Im Westen entwickelt sich die Wachstumskrise unter anderen Bedingungen: Hier sind die Strukturen traditioneller Grundversorgung, einschließlich der darin enthaltenen Strukturen der Selbstversorgung, so gut wie vernichtet. Die Grundversorgung ist als Arbeitslosengeld, Krankengeld, Sozialhilfe, Rente usw. vollkommen an den Staat übergegangen und dies im Unterschied zur russischen, bzw. sowjetischen Entwicklung nicht über Vergütung, die an unmittelbare Arbeit gekoppelt ist, sondern als individuelle Zuwendung vom Staat. Eine unmittelbare Beziehung der Empfänger oder Empfängerinnen von Sozialleistungen zu einer Gemeinschaft, aus deren Tätigkeit und aus deren Fonds sie ihre Leistungen erhalten, besteht nicht mehr. Das bedeutet, die Einführung eines Grundeinkommens, das den Menschen ohne Bedingungen von staatswegen ausgezahlt wird, entlässt die Menschen in eine Freiheit, die allein durch den Staat als Organisator definiert und kontrolliert wird. Hier sehe ich ein Problem, wenn die Einführung eines Grundeinkommens nicht mit der Entwicklung von neuen Gemeinschaftsstrukturen verbunden wird, die den Einzelnen davor schützen, zum manipulierbaren Objekt eines Staates zu werden, der nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich alle Kräfte der Gesellschaft auf sich konzentriert.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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