Die Dumawahlen brachten es an den Tag: Russland ist veränderungsmüde. Der Sieg ging an „Russlands Einheit“, die Partei der Macht, die für die Zementierung der Verhältnisse steht, die aus der Überführung der Sowjetunion in eine marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaft entstanden sind. Verlierer sind die Kräfte, die nach wie vor auf Veränderung drängen. Das sind zum einen die Liberalen der Partei „Jabloko“ und die Ultra-Liberalen der „Union rechter Kräfte“, die weitere Privatisierungen fordern, das ist zum anderen die KPRF, die auf Wiederherstellung alter Größe und alter Werte orientiert. Die KPRF schrumpfte auf die Hälfte ihrer Stimmen, die Liberalen scheiterten gleich ganz an der 5%-Klausel. „Einheitliches Russland“; die Kreml-nahe Partei erhielt 37,1 % der abgegebenen Stimmen. Das ist, ob es einem gefällt oder nicht, eine überwältigende Stärkung für Wladimir Putins Kurs der „autoritären Modernisierung“. Damit sind auch die Weichen für die bevorstehende Wahl des Präsidenten am 14. März 2004 gestellt.

Überraschend ist dieses Ergebnis nicht: Wer den Wahlkampf beobachtet hat, in dem die Putin-nahe Partei „Einheitliches Russland“ skrupellos von ihrem Medienmonopol Gebrauch machte, um ihre Konkurrenten, allen voran die KPRF als Oligarchenknechte zu diffamieren, ohne dass jene die Mittel hatten, sich dagegen öffentlich zur Wehr zu setzen, wer die Wahlprognosen gelesen, noch mehr, wer sich vorher im Lande aufgehalten hat, musste mit diesem Ausgang rechnen.

Das schließt die Tatsache ein, dass gut 6% der Stimmberechtigten die Partei „Gegen alle“ ankreuzte und gut die Hälfte der Wahlberechtigten erst gar nicht zu Wahl erschien. Von diesem Protest-Effekt dürfte auch der ewige Provokateur Wladimir Schirinowski profitiert haben, dessen Partei dieses mal 11,6 % der Stimmen erhielt. Er wird in der Bevölkerung – selbst von Gegnern – dafür honoriert, dass er ausspricht, was andere nur denken, obwohl er praktisch in der zurückliegenden Legislaturperiode der Duma als Mehrheitsbeschaffer für „Einheitliches Russland“ agiert hat.

Auch der Niedergang der Liberalen kann nicht überraschen. Wer nach zehn Jahren Privatisierung, welche die Mehrheit der Bevölkerung ins soziale Desaster trieb, einen Anatoly Tschubajs als Spitzenkandidaten aufstellt, muss sich nicht wundern, dass er ins Abseits gerät. Anatoly Tschubajs ist nicht nur das meist gehasste Symbol der zurückliegenden Raub-Privatisierung; als Chef des Energie-Monoplos RAOUES tritt er auch aktuell für eine weitere Welle der Privatisierung ein, in deren Verlauf bisher noch bestehende kommunale Versorgungsleistungen in Zukunft privat getragen werden sollen. Die Verwirklichung dieses Programms liefe auf eine endgültige Zerrüttung der gewachsenen sozialen Strukturen Russlands hinaus.

Ebenso wenig verwunderlich ist das Abgleiten Grigori Jawlinskis und seiner Partei „Jabloko“; ihn hat das Image des ewigen Nein-Sagers eingeholt, ganz zu schweigen davon, dass eine Partei unglaubhaft wird, die sich von Michail Chodorkowski finanzieren lässt und erste Listenplätze für seine Leute frei macht, den Wahlkampf aber gegen die Oligarchen führt.

Ganz zu schweigen ist hier von den politischen Eitelkeiten, die ein Zusammengehen der beiden liberalen Parteien verhindert haben.

Auch nicht unerwartet, lange überfällig sogar, jetzt aber doch überraschend in seiner Plötzlichkeit und von strategischer Bedeutung – darin ist dem Moskauer Analytiker Boris Kagarlitzki zuzustimmen – ist der Niedergang der KPRF, genauer, die Spaltung ihrer Wählerschaft in die 12,7 % KP-Getreuen und die 10%, die der Newcomer Sergej Glasjew für seine Wählervereinigung „Heimatland“ abzweigen konnte. Praktisch zerfällt mit diesem Wahlergebnis die bisherige Einheit der „vaterländischen“ „linken“ Opposition in einen traditionalistischen und einen modernistischen Flügel. Man könnte von einer zweiten, einer inneren, einer ideologischen Auflösung der Kommunistischen Partei sprechen, die sich bis heute immer noch als monströses Bündnis national-bolschewistischer „vaterländischer“ Kräfte konservieren konnte. Auf welcher Linie sich diese Spaltung letztlich verfestigen wird, ist offen. Zur Zeit sieht es so aus, als ob der Block Vaterland die KPRF in vaterländischen Positionen überbietet, kommt Sergej Glasjew doch aus der Dynamik des „Kongresses russischer Gemeinden“, der extrem nationalistischen Interessenvertretung russischer Minderheiten in den ehemaligen Sowjetgebieten und den von dort nach Russland geflüchteten russischen Eliten. Wohin die KPRF sich wenden wird, wenn sie mehr sein will als ein Traditionsverband, wird zu beobachten sein.

Wenig ist allerdings von gegenwärtig geäußerten Kommentaren westlicher Beobachter/innen zu halten, nach denen das Wahlergebnis Anzeiger für einen allgemeinen Rechtsruck, gar für die Entwicklung national-sozialistischer Stimmungen in Russland sei. Tatsache ist vielmehr, dass das bisherige vermischte Erbe aus imperialer, real-sozialistischer, antisemitischer und einfach elitärer Ideologie, das die KPRF in den letzten Jahren immer erneut wiederkauen und konservieren konnte, nunmehr offensichtlich in seine Bestandteile zerfällt. Nicht das Potential nationalistischer, „vaterländischer“ oder auch antisemitischer Positionen in der russischen Bevölkerung hat sich vergrößert, sondern ein schon seit längerem untergründig stattfindender Prozess der ideologischen Entmischung tritt in die politische Wirklichkeit. Das ist aber nicht der Beginn national-sozialistischer, bzw. national-bolschewistischer Ideologie, sondern deren Zerfallsprodukt, der Beginn parteilicher Differenzierung.

Zweifellos wird Wladimir Putin es mit einer Duma, in der es keine einheitliche Opposition und kein einheitliches Bündnis „vaterländisch-sozialistischer“ Kräfte mehr gibt, sondern stattdessen mögliche Zwei-Drittel-Mehrheiten aus Wladimir Schirinowskis LDPR und Sergej Glasjew „Heimatland“ leichter haben, seine Vorgaben über die Kreml-Administration umzusetzen.

Andererseits werden mögliche Konfrontationen weniger kalkulierbar, als in der Vergangenheit mit der KPRF als einziger starker, aber durch und durch berechenbarer Opposition. Wohin ein Sergeij Glasjew, wohin ein Wladimir Schirinowski sich wenden, mit wem sie Bündnisse einzugehen bereit sind, wenn sie nicht mit Wladimir Putins Politik übereinstimmen und kein Gegner mehr vorhanden ist, den man gemeinsam klein halten will, ist noch nicht ausgemacht. Der Ring für die nächste Runde, heißt das, in der Wladimir Putin zeigen muss, ob er seine Parteigänger auch ohne Zwang halten kann, ist eröffnet.

©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

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