Still war es im wilden Russland geworden. Wladimir Putins autoritäre Modernisierung schimmerte schon im Glanz des neuen russischen BOOMs. Erst vor einem Monat hatte die internationale Rating-Agentur Moody´s Russland unter die Kategorie der soliden Schuldner eingereiht. Noch vor zwei Wochen war Jukos der Liebling der russischen Börse; Jukos-Aktien hatten ihren Jahreshöchststand bei 650 Punkten erreicht.

In diese Stille platzte die Neuigkeit von der Verhaftung Michail Chodorkowskis hinein. Die Wellen schlagen hoch. Das Entsetzen ist groß. Man ist enttäuscht von Präsident Putin. Aber muss man denn überrascht sein? Klar ist doch: Putin ist nicht Russland – und überraschend ist diese Entwicklung auch nicht. Auch wenn davon in letzter Zeit viel geredet wird, so ist es doch eine Tatsache, dass es bisher weder einen allgemeinen Boom der russischen Wirtschaft, noch eine Normalisierung gibt – wenn darunter, wie es zweifellos gemeint ist, die Angleichung russischer Verhältnisse an europäische oder westliche Normen verstanden wird.

Die wirtschaftliche Stabilisierung, die unter Wladimir Putin zu beobachten war, ist durch einen Ausverkauf der Ressourcen im großen Maßstab bei gleichzeitiger Restauration autoritärer Strukturen erkauft worden. Die Absicherung der Privatisierung der ersten Stunde durch Wladimir Putin ist soweit abgeschlossen, dass die Frage nach der nächsten Runde ansteht. Hierzu gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen und Interessen. Von Seiten der liberalen Reformer, allen voran des ehemaligen Privatisierungsministers Anatoly Tschubajs, der jetzt auch als Kandidat der ultra-liberalen „Union rechter Kräfte“ in den Duma-Wahlkampf zieht, sodann des ersten Premiers Jelzins Gaidar, ebenso wie des in London lebenden Boris Beresowski – also von Seiten der Radikal-Reformer wird als der demnächst anstehende Schritt die sog. kommunale Reform angestrebt.

Inhalt dieser Reform wäre die Privatisierung der Reproduktionssphäre, das heißt, die Überführung der bisherigen kommunalen und /oder betrieblichen Versorgung in private Hände. Die idealtypische Annahme, von der seitens der Reformer für diese Pläne ausgegangen wird, beinhaltet, dass in Russland nach der Überführung der Produktion in private Hände inzwischen ein freier Markt entstanden sei, der nunmehr mit einer ebenfalls nach Marktgesetzen zu organisierenden Reproduktionssphäre zu einem funktionierenden Marktkreislauf einer marktwirtschaftlichen Ganzheit entwickelt werden könne. Privatisierung der „natürlichen Monopole“ lautet das Stichwort, unter dem diese Entwicklung stehen soll. Natürliche Monopole – das sind Giganten wie GASPROM, der russische Gas-Riese, der allrussische Energie Konzern RAOUES, die Eisenbahn, die Wasserversorgung etc.pp.

Diese neuen Privatisierungsschritte werden als Fortsetzung des Transformationsprozesses verstanden, der die Entwicklung Russlands in eine marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft vollenden soll. Tatsache ist allerdings, dass die Voraussetzungen für diese Entwicklung in Russland nicht gegeben sind und es fragt sich, ob es sie jemals geben wird: Es gibt bisher keinen freien Markt in Russland. Die Privatisierung der ersten Phase (von 1989/90 – bis heute) hat lediglich das Volksvermögen, das bis dahin in staatlichen Händen lag, in private Hände überführt, die miteinander und mit der Bürokratie eine Beziehungswirtschaft betreiben. Dabei ist die heimische Produktion auf mindestens 50% ihres Umfanges geschrumpft und existiert heute zu Bedingungen, unter denen sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig ist. Russlands Wirtschaft, sofern sie heute boomt und Wachstum verzeichnet, besteht schwerpunktmässig aus dem Geschäft mit Rohstoffen – Öl, Gas, Elektroenergie, Holz und Menschen, nicht zuletzt Frauen, die auf dem Weltmarkt verschoben werden.

An diese von der Legalität bürokratischer Geschäfte über den informellen Bereich bis ins Mafiotische hinein schillernden boomende Exportwirtschaft ist ein schmaler Dienstleistungssektor geknüpft, der Anspruch auf gehobenen Konsum stellt; das betrifft vor allem Westwaren; auch einige heimische Produkte können davon profitieren. Im Großen und Ganzen aber liegt die Produktion noch am Boden, von einem kapitalistischen Ware/Geld-Kreislauf kann nicht die Rede sein. Vielmehr leben die meisten Betriebe noch vom Speck der Sowjetzeit, einschließlich der Erhaltung rudimentärer Versorgungsstrukturen und dümpeln gerade eben über dem Niveau des Bankrottes vor sich hin.

Unter diesen Umständen käme eine Privatisierung in dem von Anatoly Tschubajs und seinen Freunden beabsichtigten Sinne einer endgültigen Zerstörung der bisher gewachsenen sozialen Strukturen, einer vollkommene Atomisierung der Gesellschaft Russlands gleich, nachdem die erste Welle der Privatisierung nur bis zur Entstaatlichung der Besitzverhältnisse und deren privater Aneignung vordrang, aber die sozialen Strukturen noch nicht wirklich antastete.

Der Widerstand gegen diesen zweiten Schritt der Privatisierung, der nach der privaten Umverteilung des Kollektivvermögens die Auflösung der gewachsenen sozial-ökonomischen Kollektivstrukturen selbst zum Gegenstand hätte, ist verständlicherweise groß –er speist sich aus den unterschiedlichsten Quellen. Er kommt zum einen aus den kommunalen und betrieblichen Strukturen, aus der einfachen Bevölkerung selbst. Die Menschen weigern sich, ihre letzten Sicherheiten aufzugeben. An ihrer stillen, massenhaften Verweigerung scheitert dieses Vorhaben der zweiten Privatisierungswelle bereits seit Mitte der 90er, als Boris Nemzow kurzfristig als Ministerpräsident für diese Reformen antrat. Er musste mit dem Ende seiner Karriere für deren Undurchsetzbarkeit bezahlen.

Auch von Oben gibt es Widerstand. Er speist sich aus miteinander nicht vermittelbaren Motiven, trifft aber darin zusammen, sich gegen die mit einer solchen zweiten Phase der Privatisierung untrennbar verbundene Entmonopolisierung und Dezentralisierung zu stemmen. Die einen sind dagegen, weil sie ihren neuen Reichtum nicht verlieren wollen, die anderen, um den alten Einfluss wiederherzustellen. Im Ergebnis geht die Auseinandersetzung in Russland zur Zeit nicht um die Fortsetzung der Privatisierung – was man ja immerhin, allen dadurch verursachten Problemen zum Trotz, noch als Versuch wahrnehmen könnte, die Transformation fortzusetzen – sondern um die schlichte Aufteilung der bisher eingebrachten Privatisierungsbeute unter die Wölfe der so genannten Eliten. Was man zur Zeit sieht und hört, ist ein Trampeln auf der Stelle. Dieser Sachverhalt erklärt auch so erstaunliche Koalitionen wie die Parteinahme des jetzt verhafteten Michail Chordorkowski für Liberale und Kommunisten gleichermaßen und umgekehrt die Symptahie-Bekundungen der Liberalen und Kommunisten für ihn und solche Erklärungen wie die der „Allrussischen Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen“, mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis werde die Entwicklung Russlands zu einer modernen zivilen Gesellschaft aufgehalten.

Mit dem gleichen Recht ließe sich sagen, dass die private Aneignung des russischen Staatsvermögens durch Michail Chodorkowski und andere Privatisierungsgewinnler wie Boris Beresowski, Wladimir Gussinski und andere die russische, von Gorbatschow gewollte Transformation der sowjetischen zu einer offenen, aber sozial gerechten modernen Gesellschaft rücksichtslos an die Wand gefahren hat. Für die Bevölkerung, die von den Brocken leben muss, die bei dem großen Schacher übrig blieben, ist die eine wie die andere Variante von Übel. Für sie gibt es zur Zeit nur die Hoffnung, dass die Kämpfe zwischen den Fraktionen der Herrschenden den Moskauer Ring nicht verlassen. Solange es Wladimir Putin gelingt, die Position des Schiedsrichters in diesem Ring glaubhaft zu vertreten, wird er Präsident bleiben. Was dann kommt, ist ungewiss.

©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

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