Ein unpassender Begriff für Russland?
Seit dem NTW-Skandal des Jahres 2001 gilt Russlands Pressefreiheit als erledigt. Die Abdrängung der NTW-Redaktion auf den Regionalsender TW-6, die Schließung der Zeitungen „Sewodnja“ und Itogi“, die Einschüchterung von „Radio Moskau“ und die Disziplinierung der Medien-Oligarchen Wladimir Gussinski und Boris Beresowski fügen sich in eine Reihe von Maßnahmen ein, die Russland unter Wladimir Putin heute bestimmen: Das ist zunächst der Krieg in Tschetschenien; für diesen Krieg arbeitet eine eigene Informations-Leitzentrale am Präsidialamt, die jegliche sachliche Berichterstattung über die Vorgänge in Tschetschenien als angebliche Parteinahme für den Terrorismus unterbindet. Das sind die unter Wladimir Putin verabschiedeten neuen Doktrinen der Militär- und Sicherheitspolitik, denen zufolge Veröffentlichungen, die dem Interesse Russlands zuwiderlaufen, mit Strafe bedroht werden.
Darüber hinaus machen Justiz-, Steuer- und Lizenzbehörden wirtschaftlichen Druck auf Sender, Verlage und Redaktionen. Einzelne Journalisten wie seinerzeit der Kriegsberichterstatter Andrej Babizki, der Militärjournalist Grigori Pasko werden exemplarisch unter Druck gesetzt, Redakteure mit berufsschädigenden Anklagen überzogen, Redaktionen von maskierten Kommandos durchwühlt, Journalisten von anonymen Auftragsmördern umgebracht.
Inzwischen ist auch TW-6 geschlossen, im Juni 2003 stellte dessen Nachfolger TWS seinen Sendebetrieb ein, im Februar warf die liberale Zeitung „Nowaja Istwestija“ resigniert das Handtuch. Im Vorfeld der für den Jahreswechsel 2003/2004 bevorstehenden Wahlen wurde ein Wahlgesetz beschlossen, das den Medien eine aktive Parteinahme untersagt und sie zur Selbstbeschränkung verpflichtet. Im August 2003 wurde das halbstaatliche „Allrussische Zentrum zur Meinungsforschung“ (WZIOM), ein für Wladimir Putin zunehmend unbequemer Mahner freier Meinungsbildung, durch Privatisierungstricks abgewickelt, sein langjähriger Leiter Juri Lewada durch einen Vertrauten Wladimir Putins ersetzt.
Dies alles, wie beunruhigend auch immer, wird mit Klagen über ein Ende der Pressefreiheit in Russland jedoch nicht erfasst. Der Grund dafür liegt darin, so Alexej Simonow von der Moskauer „Stiftung Glasnost“, dass es in Russland bisher keine Pressefreiheit im westlichen Verständnis gab. Es fehlen die einfachsten Voraussetzungen: Es gibt keine Gewaltenteilung auf der Basis eines freien Marktes, in der die Presse die Rolle einer unabhängigen, selbst finanzierten vierten Macht übernehmen könnte. Es gibt so gut wie keine Fernseh- oder Rundfunksender, keine Zeitungen, die sich selbst finanzieren könnten. Sender, Zeitungen, Zeitschriften werden von Finanzclans oder von staatlichen Organen unterhalten. Journalismus in Russland ist Auftragsjournalismus. „Käuflicher Journalismus“, so Alexej Simonow weniger freundlich, „ist unser größtes Problem.“ Nicht Zensur ist der Kern Putinscher Pressepolitik, sondern die wirtschaftliche Disziplinierung. Ziel ist, die Clans und über sie die Medien zur Selbstzensur im Interesse eines starken Russland zu veranlassen. Nicht im Abbau der Rechte, sondern im Durchbrechen dieser Selbstzensur liegt das Problem. Erfolgreiche Versuche dazu werden daher von Organisationen wie der „Stiftung Glasnost“ jährlich prämiiert.
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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist
www.kai-ehlers.de