Der 11.9.2001 gilt inzwischen als historisches Fanal: Nichts werde mehr sein, wie es war, heißt es. Von neuer Zeitrechnung ist die Rede, von neuem Bewusstsein. Real hat sich allerdings bisher nichts Prinzipielles geändert, außer, dass nach den neuen Sicherheitsdoktrinen der USA Krieg in Zukunft wieder möglich sein soll. Auch der Terrorismus ist keine neue Erscheinung; es gab ihn vor dem Anschlag vom 11.9. 2001 und es gibt ihn jetzt. Krieg und Terror sind bedauerlicherweise ständige Begleiter der Geschichte. Es ist nur so: Wir – die Europäer und auch wir Deutschen – hatten uns daran gewöhnt, die Aufteilung der Welt in zwei Lager nach 1945 für normal und das Gleichgewicht des Schreckens für Frieden zu halten. Doch diese Ordnung ist schon lange passe´. Heute regt sich weltweit Widerstand gegen die Vorherrschaft der USA, gegen den westlich dominierten industriellen Spät-Kolonialismus unter Führung der Amerikaner. Die Anschläge vom 11.9.2001 waren bereits ein Ergebnis, nicht der Ausgangspunkt dieser Entwicklung.
Regie: Musik
Erste Anzeichen des Umbruchs zeigten sich schon mit der Krise der Sowjetunion. Das konnte man lange auf den “kranken Sozialismus “ schieben. Die kapitalistische Welt erschien als die eigentliche Gewinnerin; der Westen fühlte sich als Sieger. Der Japan-Amerikaner Francis Fukujama verstieg sich sogar dazu, den Sieg der USA als das “Ende der Geschichte” zu interpretieren. Inzwischen warnt er generell vor dem Ende jeglicher Entwicklung. Samuel Huntington dagegen erfand mit der islamischen Bedrohung einen neuen Feind. Tatsächlich hat der 11.9. 2001 lediglich offenbart, dass auch der Westen in der Krise ist. Die Supermacht USA hat sich übernommen. Je drohender sie heute in der Welt auftritt, umso klarer wird ihre innere Schwäche.
Die neuen Verhältnisse, die jetzt zum Durchbruch drängen, haben sich im Gewand der alten Ordnung entwickelt. Die bipolare Teilung der Welt in Ost und West war schon seit 1964, als sich das kommunistische Lager in die chinesische und die sowjetische Linie aufspaltete, eigentlich gar keine zweiseitige mehr. Im Grunde gab es bereits eine Dreiteilung: In der Konkurrenz zwischen den Sowjets und dem Westen spielte China zunehmend den Part des lachenden Dritten. Seit Deng Hsiao Ping 1978 die Liberalisierung der chinesischen Wirtschaft einleitete, beschleunigte sich diese Entwicklung. Heute ist China das Land mit dem am schnellsten wachsenden Bruttosozialprodukt der Welt, das sich anschickt, als Führer des asiatischen Entwicklungsraums zur neuen Weltmacht aufzusteigen.
Regie – Musik
Als Kernpunkt der heutigen Entwicklung ist festzuhalten: Die gegenwärtige globale Krise, die sich in dem von Amerika propagierten Krieg gegen den Terrorismus ausdrückt, ist eine Wachstumskrise. Sie markiert das Ende der Hegemonie der westlich geprägten Zivilisation vor dem Hintergrund eines globalen Entwicklungsdruckes der früheren Kolonien, die heute selbstständige Staaten sind und das Weltgeschehen mitgestalten wollen. Die Bedingungen für einen grundlegenden Wandel der nachkolonialen Verhältnisse haben sich verstärkt und drängen nach Verwirklichung. Das heißt, sie drängen auf Beseitigung der spät-kolonialen Ordnung, so wie seinerzeit die bürgerlichen Kräfte Frankreichs und Europas auf eine Beseitigung der Feudalordnung drängten. Die Frage ist, ob die herrschenden Kräfte, die sich eben zu neuer imperialer Größe aufschwingen, diese Umwandlung zulassen oder ob sie versuchen, sie zu verhindern.
Die jüngste Entwicklung lässt mehrere Phasen erkennen:
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach die Krise am schwächsten Glied der Kette der nach westlichem Muster entwickelten Industriestaaten aus. Dazu ist anzumerken: Natürlich war die Sowjetunion niemals, so wenig wie Russland, bloß ein Bestandteil Europas. Russland liegt zwischen Asien und Europa und definierte sich immer zwischen diesen Polen. Das ist heute – aller Globalisierung zum Trotz – nicht anders als vor tausend Jahren.
Die Industrialisierung Russlands, insbesondere die Zwangsindustrialisierung nach der Oktoberrevolution von 1917, vollzog sich aber nach europäisch-amerikanischen Vorgaben – als verspätete Industrialisierung unter sozialistischen Parolen, als Staatskapitalismus sowjetischen Typs. Auch als Kolonialmacht war Russland Bestandteil der europäischen Geschichte. Allerdings unterscheidet sich der russische Kolonialismus in wesentlichen Zügen vom zentraleuropäischen: Moskau kolonisierte territorial und integrativ statt maritim und aggressiv wie West-Europa und Amerika. In Russland verbanden sich Kernland und Kolonien zu einem vielgliedrigen Ganzen, während im europäischen Kolonialraum ebenso wie im amerikanischen die Trennung zwischen Mutterland und Kolonie immer gewahrt blieb.
Was so entstand, ist ein Industriegigant nach dem Muster des wissenschaftlich-technischen Weltbild des Westens – aber zu großen Teilen auf asiatischem Boden und mit asiatischen Methoden. Seit Mitte der siebziger Jahre wurde deutlich, dass dieser Gigant die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit erreicht hatte – wirtschaftlich und politisch. Die Planwirtschaft und –Tonnenideologie der sowjetischen Zwangs-Industrialisierung kam mit Eintreten der Computerrevolution an ihre Grenzen. Denn nun wurde der Übergang zu qualitativer und intensiver Produktion notwendig. Politisch markiert das Desaster von Afghanistan das Ende der russisch-sowjetischen Expansion. Weiter war der Ballon des russisch-sowjetischen Imperiums nicht mehr aufblasbar. Im Prinzip waren es somit keine speziellen “sozialistischen” Probleme, an denen die Krise ausbrach, es war die Notwendigkeit, von expansiven Entwicklungsmodellen zu intensiven, qualitativen überzugehen. Der sozialistische Überbau hat diese Probleme lediglich zugespitzt. Die sowjetische Nomenklatura unter Michail Gorbatschow erkannte die Unumgänglichkeit dieser Tatsachen und ließ sich auf einen Transformationsprozess ein. Der Slogan von der gewachsenen Bedeutung des “Faktors Mensch” gehört hierhin. Dezentralisierung, Demokratisierung, Befreiung der persönlichen Initiative sind die Stichworte, an deren Umsetzung Russland und andere nachsowjetische Staaten seitdem laborieren.
Mehr als fünfzehn Jahre lang galt angesichts dieser Entwicklung zunächst die Sowjetunion und dann Russland als der “kranke Mann” des Globus. Der Westen gefiel sich in der Rolle des Arztes, der Rezepte verschreibt: Aber die neo-liberale Gewaltkur, die Boris Jelzin zusammen mit dem IWF, der Weltbank und anderen seinem eigenen Lande aufdrängte, erwies sich als Krankheit, welche die USA – als die Führungsmacht dieses Prozesses – in den letzten Jahren zunehmend selbst in die Krise brachte. Der Wahlkampf zwischen George W. Busch und Al Gore Anfang 2001 stand bereits vollkommen im Schatten dieser Krise. Die Politik, die Busch vor dem 11. 9.2001 betrieb: Zinssenkung, außenpolitischer Protektionismus, Rückzug Amerikas aus internationalen Verpflichtungen – war ein Krisenmanagement, das von Bankrotterklärungen und Firmenzusammenbrüchen begleitet wurde. Gleich nach dem 11.9.2001 ist die US-Administration zu einer global angelegten Notstandsbewirtschaftung und -Politik übergegangen : Milliarden für das Militär, Zurückfahren der Sozialpolitik, Schutzzölle für die US-Stahlindustrie. Einen günstigeren Anlass für diesen Kurs als den Anschlag auf das World Trade Center vom 11.9. 2001 hätte niemand erfinden können.
Man beachte aber den Unterschied: Anders als die Sowjets, die auf die wirtschaftliche Krise und die Niederlage in Afghanistan mit der Überführung der expansiven in eine intensive Entwicklung antworteten, nutzten die US-Amerikaner die Gelegenheit zu weiterer Expansion: Von der sogenannten “allein übriggebliebenen Weltmacht” schritten sie nun zum Anspruch auf die globale Führungsmacht, die ihren Einfluss jetzt in das einzige von ihr bis dahin noch nicht beherrschte Gebiet ausdehnt : nämlich nach Zentralasien. Damit ist die Krise, die am schwächsten Glied losbrach, nunmehr auf die westliche Industriegesellschaft insgesamt übergegangen. Anders als sie es selbst verstehen, haben George W. Busch und seine Verbündeten recht, wenn sie von einer Bedrohung der Zivilisation sprechen: Es ist die Krise der westlich dominierten wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die von den Abfallprodukten ihrer eigenen Dynamik, Globalisierung genannt, eingeholt wird.
Es scheint, als ob die USA in dieser Situation die ganze Welt unterwerfen könnten; ihr Aufstieg zum Gipfel der einzigen Weltmacht, welche die übrige Welt unter ihre Bedingungen zwingt, ist jedoch schon die Voraussetzung ihres Abstieges: Die “Allianz gegen den Terror” ist auf begrenzten Interessen begründet. Sicher, Russland ist interessiert, unter dem Deckmantel der Allianz seinen Einfluss in Zentralasien wieder herzustellen, womöglich gar noch auszuweiten, und auch China in die Schranken zu weisen, um dessen Übergriff auf Sibirien und den fernen Osten zu verhindern. Aber die Amerikaner holen in Afghanistan nur die Kohlen aus d e m Feuer, das die Russen anschließend mit humanitärer Hilfe, mit Waffenlieferungen, mit Angeboten zum Wiederaufbau usf. zu löschen versuchen. Besser könnten die Russen die Wunden, die ihnen Afghanistan seinerzeit geschlagen hat, nicht heilen.
Ähnliches gilt für den Kaukasus und für die GUS-Länder: Eine begrenzte Präsenz der Amerikaner im Kampf gegen örtliche “Terroristen” schafft der russischen Regierung Spielraum für zivile und wirtschaftliche Aktivitäten in diesen Gebieten, wo die Russen als Kolonisatoren verhasst sind, aber dennoch gebraucht werden. Wenn die Amerikaner sich an den Tschetschenen in Georgien die Finger verbrennen, brauchen es die Russen nicht mehr zu tun. Das ist für Moskau allemal überschaubarer als die bis dahin vom Kreml beklagte klammheimliche Unterstützung kaukasischer Separatisten durch die CIA.
Langfristig dürfte das Kalkül, dass Russland und die USA sich den euroasiatischen Raum aufteilen könnten, allerdings auf Sand gebaut sein: Da ist zunächst China, da ist Indien, da ist der Iran, da sind die Interessen der zentralasiatischen GUS-Länder, die sich zwischen den Giganten einen neuen Lebensraum aufbauen wollen. Deutlich drückt sich das im Zusammenwachsen der Shanghai-Gruppe aus, dem regionalen Bündnis zwischen Russland, China und der Mehrheit der GUS-Staaten, das sich seit Mitte der 90er Jahre um den gemeinsamen Aufbau eines zentralasiatischen Wirtschaftsgebietes bemüht.
Zwar ist China wie Russland daran interessiert, unter dem Deckmantel der “Allianz gegen den Terror” separatistische Bestrebungen im eigenen Staatsgebiet niederzuschlagen. Noch wichtiger als das amerikanische Stillehalten aber ist den Chinesen die Ausweitung ihres Einflusses nach Sibirien und in den zentralasiatischen Raum. In diesem Spiel ist die Niederschlagung der islamischen Uiguren nur e i n Schachzug. Wichtiger ist der Bau von Trassen, Bahnen und Pipelines, die den zentralasiatischen Raum und den indischen Subkontinent für China öffnen. Ähnliches gilt für die lange nördliche Grenze mit Russland, über die China wirtschaftlich in den sibirischen Raum drängt. Es geht auch für China um den Zugriff auf Rohstoffe und um die Öffnung neuer Märkte für seine aufstrebende Produktion. Hier könnten die USA erhoffen, als lachender Dritter Nutzen aus einem Konflikt zwischen China und Russland zu ziehen. Tatsache ist allerdings, dass sowohl Russland als auch China in Zentralasien und Sibirien langfristig eher auf eine Abstimmung ihrer gegenseitigen Interessen als auf die Unterstützung der USA angewiesen sind.
Kommt hinzu, dass die USA kaum Interesse zeigen, in die infrastrukturelle und kulturelle Entwicklung des zentralasiatischen Raumes zu investieren. Ihr Interesse liegt in der Ausbeutung der Ressourcen und in der strategischen Besetzung des Raumes durch einen oder mehrere militärische Brückenköpfe. Nicht Entwicklung und kooperative Beziehungen, sondern Beherrschung und wirtschaftliche Ausbeutung des Raumes sind Ziel der dortigen US-Politik. Hier liegt auch der Dissens zwischen den USA und den Europäern begründet, der neuerdings wieder deutlicher hervortritt. Kurz gesagt: Europa hat ein konkretes wirtschaftliches Interesse an der durchgängigen und nachhaltigen Entwicklung des euroasiatischen Zentralraumes als Teil seiner eigenen geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität. Die USA haben dieses Interesse nicht. Sie sind an schnellen Gewinnen und leicht, bzw. verlässlich zu beziehenden Ressourcen interessiert. Nur das strategische Interesse, China und Russland in Schach zuhalten, könnte die USA und Europa verbinden. Aber selbst hier verfolgen die Europäer, durch infrastrukturelle Großraumgestaltung mit den Russen und Chinesen verbunden, andere Konzepte als die Amerikaner.
Kurz gesagt, die gegenwärtige “Allianz gegen den Terror” deckt nur vordergründige, kurzfristigste gemeinsame Ziele bei einander sonst widerstrebenden Interessen ab.
2.Sprecher :
Da ist zum Beispiel das Modell einer mono-, bzw. unipolaren Welt unter Führung der USA, kurz und klar “neues Empire” genannt. Dabei dürfte neben der Ablehnung des Konzepts einer multipolaren Welt die Stoßrichtung gegen China das stärkste Motiv sein.
Zu nennen ist auch der von russischen Nationalisten entwickelte Entwurf einer Widerherstellung der alten Machtaufteilung zwischen den USA und Russland. Dabei sollen die Amerikaner die Rolle der maritimen Kolonialmacht spielen, während die Russen sich als Führungsmacht des euroasiatischen Kontinents einschließlich Chinas präsentieren. Das liefe eindeutig auf Konfrontation hinaus.
Dann gibt es noch das Konzept einer “duopolaren” Konstellation, wo sich Russland und die USA gegen die “asiatische Gefahr”, speziell China , zusammentun. Dabei soll Russland die Versorgung der USA mit Ressourcen, und die USA die Weltsicherheit garantieren. Die gegenwärtige Politik scheint nach diesem Muster zu laufen. Diese Konzeption geht aber an den langfristigen Interessen Russlands und der gesamten südlichen Halbkugel des Globus vorbei.
1. Sprecher :
Jenseits all dieser Vorstellungen hat China in der Zeit, wo es seit der Spaltung der kommunistischen Welt von 1964 weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörte, die Strategie einer multipolaren Weltordnung entwickelt. Mit Beginn der Perestroika übernahm Michail Gorbatschow diese Option auch für Russland. 1997 legten Russland und China der UNO ein entsprechendes Papier zur Entwicklung der Weltordnung vor. Die wichtigsten ehemaligen Kolonien in der sogenannten dritten Welt, allen voran die Entwicklungsführer des euro-asiatischen Großraumes wie Indien, Iran, Pakistan fordern heute eine solche Ordnung, deren potentielle Träger sie dann wären, natürlich ausgenommen China und Russland.
Unter Wladimir Putin hat Russland zwar viele Aspekte des von Michail Gorbatschow propagierten “Neuen Denkens” im Zuge einer autoritären Restauration relativiert – nicht aber die Ausrichtung der Außenpolitik an den Grundzügen der multipolaren Strategie. Auch wenn es bei den Auftritten Wladimir Putins im Westen heute manchmal so scheint, als ob der russische Präsident ein Deutscher oder Amerikaner werden wolle, so sollte doch niemand übersehen, dass derselbe Wladimir Putin China, Korea, auch Indien, dem Irak und dem Iran mit denselben Gesten gegenübertritt: In Europa ist Wladimir Putin Bewohner des europäischen, in China des asiatischen Hauses. Für Indien, den Iran, Irak usf. ist er der beste Nachbar des euroasiatischen Subkontinents. Das ist kein falsches Spiel von Wladimir Putin, sondern das ist die reale Rolle, die Russland in der Welt hat, heute wie damals. Eine Rolle, die sich aus seiner geostrategischen Lage zwischen Asien und Europa, zwischen Eismeer und indischem Subkontinent, zwischen Ost-Rom, mongolisch-chinesischem Großreich und westlichem Abendland entwickelt hat und in deren Folge der russische Raum – auch nach dem Ausscheiden der GUS-Staaten – immer noch von mehr als 150 Völkern bewohnt wird. In seiner offenen euro-asiatischen Zentrallage ist Russland heute so etwas wie der natürliche Motor einer multipolaren politischen Orientierung. Mehr noch als China, das zwar auch ein Vielvölkerstaat ist, der sich aber in der Abgeschiedenheit einer pazifischen Randlage des euroasiatischen Kontinentes entwickelte. Russland dagegen ist offen nach allen Himmelsrichtungen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Position Europas: Kann man Russland als Herz einer spontan gewachsenen multipolaren Ordnung Euroasiens betrachten, so die Europäische Union, die aus einer Vielzahl von Stämmen, Völkern und Nationen in einer langen Geschichte der Kriege nun als multinationale Union heranwächst, als ein Modell. Gemeinsam können Russland und die Europäische Union Impulsgeber für eine kooperative Neuordnung werden, am besten mit China zusammen und gruppiert um den neutralen Raum der Mongolei – wenn sie nicht in Wiederholung unseliger Achsenbildungen in den Versuch abgleiten, die angeschlagene Hegemonialordnung mit Gewalt gegen die anstehenden Veränderungen, in dem Falle auch gegen China, zu halten.
Die Versuchung ist groß. Denn die Krise ist nicht nur eine politische, die durch Kabinettskompromisse an grünen Tischen entschieden werden könnte, sondern auch eine soziale: Der weitgehend verdrängte Klassenkampf kehrt in Form nationaler und nationalistischer Unabhängigkeitsbestrebungen wie auch als anti-westlicher religiöser Fundamentalismus aus den ehemaligen Kolonien in die Metropolen zurück. Es fehlt nur noch der organisierende Impuls. Zur Zeit flackert die Unzufriedenheit mit einer ungerechten globalen Ordnung in hilflosem Terrorismus auf. Langfristig aber ist die Revolte gegen die sozialen Folgen einer von den Metropolen ausgehenden Globalisierung weder aufzukaufen, noch als bloßer Terrorismus zu denunzieren, und schon gar nicht mit Gewalt zu unterdrücken, wie die USA es gegenwärtig versuchen. Sie ist aber auch nicht durch verbale Bekundungen zur “Bekämpfung der Armut in der Welt” wegzureden, wie man es von europäischer Seite, vor allem von der deutschen Bundesregierung zur Zeit hört. Der Kampf gegen die Armut muss als konkrete, langfristig angelegte Entwicklungsförderung auch gegen die kurzatmigen Ziele und gegen die technizistische und von militärischen Gesichtspunkten bestimmte Politik der USA durchgesetzt werden.
Die Auseinandersetzung um diese Fragen wird auch unsere eigene Situation hier in Europa transformieren. Sie wird zur Rückkehr sozialer Konflikte in unseren Alltag führen, zu einer Polarisierung zwischen denen, die Privilegien der Festung Europa gegen den Ansturm aus den ehemaligen Kolonien verteidigen und jenen, die sich als Partner in den weltweiten Kampf gegen Armut einbringen wollen.
Die Welt, die so entsteht, ist nicht mehr die Welt, in der die Forderungen aus den Tagen der französischen Revolution nach “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” auf Freiheit ODER Gleichheit verkürzt werden konnten. Wo Freiheit der einen zur Freiheit der Ausbeutung von anderen und Gleichheit bei den anderen zu Gleichmacherei verkam. Gleichheit und Freiheit werden in Zukunft durch das Prinzip einer Kooperation verbunden werden, die aus der Einsicht kommt, dass Überleben und Entwicklung heute nur noch in gegenseitiger Unterstützung möglich sind. Der Förderung dieses Impulses muss daher alles Bemühen gelten. Das ist die Moral einer anderen Globalisierung.
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Die Entwicklung dieser Moral hat heute oberste Priorität: Es ist, als hielte die Welt den Atem an. Wir befinden uns in einem Energieknoten, Wendepunkt: im Auge des Taifuns. Wir müssen den Ort neu bestimmen, an dem wir uns befinden. Die Dimensionen menschlicher Entwicklung werden neu ausgelotet: Zuende geht der Streit, ob Krieg oder Kooperation der Ursprung aller Dinge sei. Nach einer langen Geschichte der Kriege, insbesondere nach den letzten beiden Weltkriegen, wissen wir, dass die Wahrheit nicht in dem einen oder dem anderen Pol liegt, sondern in der Vermeidung von Einseitigkeiten, im Dialog, in der Beziehung. Das ist die Botschaft der französischen Revolution, die bisher n i c h t verwirklicht wurde: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Keines dieser Elemente ist ohne die anderen möglich: Freiheit ohne Gleichheit führt ins Asoziale, Gleichheit ohne Freiheit in den Terror; in beiden Fällen fehlt als verbindendes Element die Brüderlichkeit. Das ist: Gegenseitige Hilfe, Kooperation. Aber selbst Kooperation ist ohne Gleichheit nicht möglich und ohne Freiheit verkommt Brüderlichkeit zu Bruderschaften, Nationalismus und Terror.
Die Welt des zurückliegenden Jahrhunderts hatte sich in der Polarität von Gleichheit hier und Freiheit dort als zwei polaren gesellschaftlichen Modellen verfestigt. Die sowjetische Perestroika hat die Auflösung dieser Polarisierung von der Seite der Gleichheit her eingeleitet; der Krieg gegen den Terrorismus leitet, durch seinen Anspruch, Freiheit mit Gewalt durchsetzen zu wollen, die Auflösung des Freiheitsmodells ein. Was die zukunftsweisende Botschaft der “Neuen Welt” war, Demokratie und Menschenrechte, wird zu deren ideologischer Absicherung.
Zwei gegenläufige Bewegungen gehen daraus hervor: Globalisierung hier und Anarchisierung dort. Es geht um die Suche nach neuen Identitäten. Neue Identitäten sind aber nicht allein auf der Suche nach Freiheit oder Gleichheit zu finden, sondern nur in Verbindung mit dem bisher vernachlässigten Prinzip der gegenseitigen Hilfe, weil ein Überleben, ganz zu schweigen von einem erfüllten und menschenwürdigen Leben auf diesem enger gewordenen Planeten in Zukunft nur kooperativ möglich ist.
Diese Kooperation betrifft all drei Sphären: die menschlich-gesellschaftliche, die global- ökologische und die universale des Kosmos. In der gesellschaftlichen Sphäre beinhaltet sie ein multipolares Weltbild statt eines monopolaren. Völker, Regionen, Religionen sind darin wirtschaftliche und kulturelle, aber keine imperialen, nationalen Einheiten. Die Verwandlung der aus dem Zerfall der bipolaren Welt entsprungenen nationalen Ansprüche in solche wirtschaftlichen und kulturellen Einheiten einer multipolaren Ordnung erleben wir heute. Sie geht nur langsam vor sich und nicht ohne Konflikte. In der globalen, ökologischen Sphäre geht es um eine neue Beziehung unserer Industriegesellschaft zur belebten und unbelebten Natur. Unser Globus wird nur überleben, wenn wir ihn als lebendiges Ganzes wahrnehmen, dessen Teile in organischer Wechsel-Beziehung zueinander stehen. Wir müssen realisieren, dass wir nicht nur Kopf, sondern auch Leib dieses Planeten sind – und umgekehrt, daß Tiere, Pflanzen und die Substanz der Erde nicht nur Materie sind, sondern hochgeordnete, im homöopathischen Sinne hochgradig potenzierte Materie und darüber hinaus lebendiges, beseeltes Leben, das nur mit unserer Hilfe eine Zukunft hat. In der kosmisch-universalen Sphäre geht es um die Erkenntnis der Besonderheit unseres Planeten in einem grenzenlosen Universum, genauer, um die Frage, welche Kräfte unser lebendiger Planet aus dem unendlichen Kosmos zieht – und welche er abgibt. Es ist die Frage nach der Einzigartigkeit unserer Spezies, nach dem Sinn ihrer Existenz, nach Geburt und Tod, nach einer für den ganzen Planeten verbindenden Ethik.
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Dies alles bedeutet: Der Maßstab für Fortschritt liegt in Zukunft nicht mehr allein im wissenschaftlich-technischen, sondern im ethischen Bereich; Freiheit muss sich nicht mehr in der Aufblähung eines individualistischen Superego, Gleichheit nicht in einem über jeder Individualität stehenden Kollektivwohl beweisen, sondern darin, sich selbst und anderen ein Leben in Freiheit und Gleichheit zu ermöglichen. Von selbst wird diese Verwandlung sich nicht vollziehen. Der Mensch ist ja nicht nur Objekt, sondern auch bewusst handelndes Subjekt der Geschichte. Sich selbst überlassen, wird die anstehende Verwandlung mit dem Zerfall der alten Welt enden, ohne daß die neue entsteht.
Die alte Welt, das ist die Hegemonie des technisch-wissenschaftlichen Zivilisationstyps westlicher Prägung in seiner “kapitalistischen” wie auch in seiner “sozialistischen” Variante. Wie ihre Zerfallsprodukte aussehen könnten, das lassen die gegenwärtigen terroristischen Anschläge und Anti-Terror-Einsätze ahnen, die in einen Krieg aller gegen alle zu schliddern drohen, der, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, nur mit einer Zerstörung des Lebens auf unserem Planeten enden kann.
Das Wissen um diesen drohenden Gang der Dinge ist die Basis für die Einsicht in die Notwendigkeit der gegenseitigen Hilfe. Da Angst aber erfahrungsgemäß kein ausreichendes Motiv für eine Änderung eingefahrener Weltbilder ist, eher deren Verhärtung provoziert, stellt sich die Frage, woher die Kräfte kommen, die eine Orientierung auf den schöpferischen Teil der Verwandlung unserer altgewordenen Weltbilder möglich machen. Die Antwort drängt sich auf: In Russland und mit Varianten auch in China ist es die Dynamik der Individualisierung, die aus einer ins Extrem getriebenen Tradition des Kollektivismus herausschießt. Im Westen ist es umgekehrt die Sehnsucht nach sinnstiftender Gemeinschaft, die aus der Inflation des Individualismus hervorgeht. Beides treibt die Suche nach neuen Wegen des Lebens an. Wie steht es mit der übrigen Welt? Asien? Afrika? Südamerika? Australien? Neuseeland? Diese Länder, Völker und Kulturen wirken bereits durch ihre bloße Existenz als Impulsgeber. Der durch sie gegebene faktische Pluralismus bildet die materielle Grundlage zukünftiger Entwicklung. Nicht Huntingtons Krieg der Kulturen, sondern das demokratische Miteinander der Völker, der Kulturen und Religionen wird die Welt von morgen ermöglichen.