Gedanken
erstmals vorgelegt
anlässlich eines Seminars der Europäischen Akademie Waren/Müritz
über „Religiöse Erneuerung in Russland“ im Dezember 2001
1. Russland, die nachsowjetische Entwicklung, steht exemplarisch für einen Prozess der religiösen Erneuerung, der überall in der heutigen Welt zu beobachten ist. In Russland ist dieser Prozess auf Grund der besonderen Bedingungen der russisch-sowjetischen Geschichte besonders deutlich. Die besonderen Bedingungen liegen in dem gleichzeitigen Nebeneinander der unterschiedlichsten religiösen Traditionen und Entwicklungsstadien wie auch in der Forcierung einer nachholenden Industrialisierung auf dieser Grundlage, was extreme Polarisierungen und immer wieder extreme Wendungen geistiger Orientierungen nach sich zog, in denen allgemeine globale Entwicklung sich exemplarisch zuspitzten.
2. In Russland war sehr deutlich und ist noch heute exemplarisch zu beobachten, wie sich Menschen von ursprünglichen kreatürlichen Bindungen an die – Mutter – Natur und ihre unmittelbare Aufgehobenheit in kosmische Abläufe entfernen. Dies gilt vor allem für die nomadischen Völkerschaften Mittel- und Ost-Sibirienes, aber auch für einige Völker Mittelrusslands. Die ursprüngliche kreatürliche Einbindung in die natürlichen Lebensprozesse und kosmischen Abläufe wurde und wird durch deren rituelle Beschwörung, durch einen schamanischen Geisterbeschwörer ersetzt.
3. Im zweiten Schritt trennen Menschen sich auch von der rituellen schamanischen Beschwörung, indem Gott nun außerhalb des Menschen und seines lebendigen Naturzusammenhanges gesucht wird und sich besondere Institutionen absondern, die stellvertretend für den Menschen die Verbindung zu diesem einen Gott herstellen und halten: Erde und Himmel trennen sich; der Himmel wird zum Ersatz für eine als unvollkommen erlebte Erde – das Paradies. Christentum, Islam und Judentum nehmen diese Stellung ein.
4. Mit dem Wachstum der Menschen auf geistigem und physischem Gebiet erwies sich auch das durch die Kirchen repräsentierte Versprechen auf das jenseitige Paradies als unfähig, die Mühsal der irdischen Realität zu ersetzen und Fragen nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Wissenschaft und Industrie traten an die Stelle; statt Vertröstungen auf ein jenseitiges Paradies versprachen sie dessen Verwirklichung hier auf der Erde – und dies im Laufe eines menschlichen Lebens. Religiöse Ideen verwandelten sich in soziale und intellektuelle, allerdings ohne die ursprüngliche natürliche Einbindung in die natürlichen und kosmischen Kreisläufe und in die institutionalisierte Religion ganz verdrängen zu können. Der sowjetische Sozialismus wurde auf diese Weise zur Ersatzreligion.
5. Der Versuch, das Paradies auf Erden wissenschaftlich-technisch und industriell hier und jetzt verwirklichen zu können, scheiterte jedoch ebenso wie vorher das Paradiesversprechen der Kirche. Dies zeigte sich zunächst im Heimatlande der sozialistischen Utopie – der Sowjetunion und im sozialistischen Lager parallel dazu aber auch als auch bei seinem kapitalistischen Gegenpol.
6. Viele Menschen schauen deshalb heute zurück – zu kirchlichen Glaubensformen eines stellvertretenden Monotheismus – sei es Christentum, Islam oder auch das Judentum. Diese fundamentalistischen Bewegungen tragen starke konservative, anti-modernistische Züge. Solche Entwicklungen lassen sich nicht nur in Russland, sondern global beobachten. Der islamische Fundamentalismus ist ein Teil davon, aber keineswegs die einzige Erscheinungsform des Fumdamentalismus. Vergleichbare anti-modernistische Reflexe sind ebenso im sog. Westen, vor allem in den USA zu beobachten. Die Rückwendung zu schamanistischen Ritualen dagegen trägt eher anarchischen, pluralistischen, tendenziell demokratischen Charakter. Auch diese ist nicht nur in Russland, sondern global zu erkennen.
7. Zurzeit suchen Menschen überall auf der Welt einen Weg, die ursprüngliche, die verlorene Einheit von Natur, Mensch und Kosmos auf neue Weise herzustellen. In anti-modernistischer Rückwendung ist dies aber nicht möglich, sondern nur in einer bewussten Erkenntnis der Eingebundenheit des Menschen in einen vielfältig gestalteten und belebten Kosmos und deren wissenschaftlich-technischer Umsetzung in eine praktische individuelle Lebensführung und eine entsprechende globale ökologische Politik.
8. Diese Erkenntnis bedingt die Einsicht in die individuelle Eingebundenheit des einzelnen Menschen in die Gemeinschaft der Menschen, der Menschen in die Gemeinschaft der Tiere und der Pflanzen, des Lebens in die Bewegungen und Gesetze eines offenen, sich bewegenden sich stetig verändernden Kosmos. Es ist eine Bewegung, die sich nicht unter dem Motto „Zurück“, sondern „Vorwärts zur Natur“ vollzieht. In Ihr verwirklicht sich eine Modernisierung, die über den bloß technischen Fortschritt zu dessen moralischer ethischer und moralischer Einbindung in die ökologischen und kosmischen Zusammenhänge führt.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de