Die Ereignisse seit dem 11.9.2001 geben nicht nur der Weltpolik neue Impulse, sie verlangen von jedem Einzelnen neue Entscheidungen. Es reicht nicht für oder gegen Terror zu sein, für oder gegen militärische Reaktionen der USA und ihrer Verbündeten: Über berechtigtes Mitleidens für die Opfer des Terrors, wie auch des jetzt einsetzenden Gegenterrors hinaus, stellt sich die Frage nach Alternativen. Die können nur in der Herausbildung einer neuen Weltordnung liegen, die aus einer gerechteren, auch effektiveren, Sozialordnung, Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensweise hervorgeht.
Voraussetzungen für eine solche Entwicklung haben sich längst herausgebildet. Sie sind das Ergebnis zweier Weltkriege und wuchsen heran, während die Welt in zwei Systempole geteilt war. Nach dem Ende des kalten Krieges treten sie nun klar hervor: Sie zielen auf eine multipolare Weltordnung unterschiedlicher Kulturen, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme. Die unipolare Ordnung, in der die USA nach dem Ende der Sowjetunion und ihres sozialen Modells als „einzig übriggebliebene Supermacht“ das gesamte Geschehen auf dem Globus mit ihrem Verständnis von Globalisierung bestimmten, war nur eine Übergangserscheinung,
Von einem Motor des industriellen Fortschritts durch Entwicklung des Weltmarktes, heute Globalisierung genannt, ist die USA dabei, sich zu einer Bremse zu wandeln, die zudem zunehmend mit Gewalt betätigt wird und entsprechende Gegengewalt hervorruft. Das ist der Kern des Konflikts, der sich in den Anschlägen vom 11.9.2001, ebenso wie in der militärischen Antwort der USA und ihrer westlichen Verbündeten auf diesen Terror Luft gemacht hat und weiter machen wird, wenn nicht eine andere Politik eingeschlagen wird, die den herangereiften Verhältnissen zum Durchbruch verhilft.
Alternativen zu entwickeln bedeutet daher, die Aufmerksamkeit auf diesen globalen Wachstumsprozess zu lenken, der im Wesen ein Prozess der Entkolonialisierung und der weltweiten Emanzipation bisher unterentwickelter und unterdrückter Nationen und Völker und ihrer Lebens- und Wirtschaftsweisen ist. Es bedeutet sich zu bemühen, die Ansätze neuer sozialer und politischer Strukturen herauszuarbeiten, welche Alleingültigkeit des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in Frage stellen, sie praktisch zu fördern und den theoretischen Dialog mit ihnen aufzunehmen.
Eine solche öffentliche Debatte muss notwendigerweise, man kann auch sagen, sie kann glücklicherweise, an den soeben gemachten Erfahrungen der nachsowjetischen Entwicklung ansetzen, in deren Verlauf der westlich geprägte Kapitalismus sich immerhin anschickte, das sowjet-sozialistische Modell auf Dauer und für alle Zeiten abzulösen, dies aber – wie inzwischen offensichtlich – nicht kann.
Am deutlichsten zeigt sich das heute natürlich im Stammland des sozialistischen Modells selbst, in Russland also, sowie in den Ländern der GUS und jenen in Ländern, die im zurückliegenden Jahrhundert unter sowjetischem Einfluss standen.
In Russland entstehen heute, nach zehn (bis 15) Jahren einer forcierten Privatisierung Wirtschafts- und Lebensformen, die nicht mehr sowjet-sozialistisch, aber auch nicht liberal kapitalistisch sind. Vielmehr bilden sich die unterschiedlichsten Mischformen von industrieller Produktionsweise und kollektiver bis familiärer Selbstversorgungsstrukturen heraus, die sich gegenseitig stützen und durchdringen. Die so entstehenden Lebensformen sind in vielen Fällen durch die Not, vom nackten Überlebensinteresse diktiert, sind eine Antwort auf die Krise. Das ist klar. Darüber hinaus sind sie jedoch, in der Art und Weise wie sie entstehen, auch Ausdruck einer historisch gewachsenen und kulturell bedingten Lebensweise. Die Kombination von beidem lässt soziale Strukturen entstehen, die über die Krise und über den westlichen Modellkapitalismus hinaus Bestand haben werden.
Ähnliche Erscheinungen sind in der GUS oder in Ländern der ehemaligen Einflusszone der Sowjetunion zu beobachten, darüber hinaus auch in Ländern der früher so genannten Dritten Welt und – was noch bemerkenswerter ist – selbst in der Metropole des westlichen Kapitalismus, den USA. In deren Städten entstehen vielfältige Mischformen zwischen Staatskapitalismus und kommunitärer Selbstversorgung. Die Vielfalt und die Zunahme dieser Erscheinungen im Zuge der voranschreitenden Globalisierung lässt erkennen, dass es sich hierbei um eine breite, vielgestaltige tatsächliche Entwicklung handelt, nicht um ausgedachte Utopien oder Fantasien.
Kai Ehlers