Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:
Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)
Achtung: zwei Einheiten auf der Sendung:
1. Atmos 1 – 2
2. O-Töne 1 – 18
Mögliche Kürzung:
– 0-Ton 16
Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden
Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Zusatz aus der Überarbeitung:
O-Ton 11 und 11 sind gestrichen;
die Zählung wie auf dem Zuspielband wurde beibehalten.
Russland an der Wolga:
Ein Tag in Nabereschnye Tschelni
Athmo 1: Musik aus dem Autoradio 3,59
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden,
— auch unter O-Ton 1 und 2 mit unterlegen —
Erzähler:
Russland, Wolga. Auf dem Weg von Tschuwaschien in die benachbarte Republik Tatarstan: Tschuwaschien und Tatarstan sind zwei von sechs nicht-slawischen ethnischen Republiken Russlands an der mittleren Wolga. Nabereschnye Tschelni ist unser Ziel.
Nabereschnye Tschelni ist eine der großen Industrieagglomerationen der sowjetischen Zeit. Sie entstand als Reißbrettgründung und Fertigbauprodukt rund um das Lastwagenwerk „Kama“. Der Name des Werkes stammt von dem Nebenfluß, der hier aus dem Nordosten in die Wolga mündet. Zu guten Zeiten lebten mehr als 500.000 Menschen von der sozialen Pyramide des Schwerkraftwagen-Werkes. „Kama“ ernährte sie alle – und nicht schlecht. „Kama“-Laster und „Kama“-Baufahrzeuge galten als Exportschlager der Sowjetunion. Noch heute sieht man sie in den ehemaligen sozialistischen Ländern.
„Stadt der Verbrecher“ wird Nabereschnye Tschelni heute wegen des rauen sozialen Klimas genannt, das jetzt dort herrscht, seit die Produktion der „Kamas“ fast zum Erliegen gekommen ist. Arbeitslosigkeit, soziale Desintegration, Alkoholismus, Drogensucht, Prostitution und hohe Jugendkriminalität sind die Folgen.
Vor achthundert Jahren stießen russische und tatarisch-mongolische Heere hier an der Kama aufeinander. Heute gilt Nabereschnye Tschelni als Zentrum der tatarischen nationalen Bewegung. Von hier kommen immer wieder Impulse für eine tatarische Unabhängigkeit von Moskau, die nicht nur Tataren in ihren Bann ziehen. Sie ermutigen auch die Völker der umliegenden ethnischen Republiken –Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mari, Mordawier.
Auch Wassili, unser tschuwaschischer Fahrer, Aktivist des tschuwaschischen Kulturzentrums, fühlt sich angezogen vom Geist dieser Stadt – allerdings nicht ohne sich zugleich von den Tataren zu distanzieren. Noch während der Fahrt erklärt er uns die feinen Unterschiede zwischen den Wolgavölkern:
O-Ton 1: Wassili 0,45
Regie: O-Ton kurz ( zusammen mit der Athmo 1)
frei stehen lassen, abblenden, unterlegen
Erzähler overvoice:
„Istoria y Tschuwaschej i…
„Tschuwaschen und Marie haben eine gemeinsame Geschichte“, so Wassili. „Sie sind beide Nachkommen der Wolgabulgaren, die von den Tataren-Mongolen geschlagen wurden. Die Tataren wurden dann von den Moskauer Fürsten kolonisiert. Tschuwaschen und Mari wurde das Christentum aufgezwungen; die Tataren konnten den Islam bewahren. Der Islam gibt den tatarischen Völkern mehr Widerstandskraft. Er wird daher von Moskau gefürchtet und bekämpft.“
Erzähler:
„Wie in Tschetschenien“, meint Wassili. Seine Meinung zu den Ereignisen dort ist unmissverständlich:
O-Ton 2: Wassili, Forts. 0,49
Regie: O-Ton (zusammen mit Athmo 1)
kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der Wiederholung des Übersetzers hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Ja tschitaju…
„Ich halte das, was sich in Tschetschenien zur Zeit ereignet, für einen Genozid am tschetschenischen Volk
Erzähler:
„Heute die Tschetschenen, morgen wir“, fasst Wassili seine Sicht schließlich zusammen. Dagegen müssten sich alle kleineren Völker Russlands gemeinsam zur Wehr setzen. Ein demokratisches Russland könne nur als Konföderation bestehen, andernfalls sei so ein Territorium wie das russische nur mit Gewalt zusammenzuhalten.“
…wlast ninischnije kremljowskaja.“
Erzähler:
In Naberschnye Tschelni werden wir, obwohl wir erst spät nachts eintreffen, fürstlich empfangen. Den ganzen Abend hat man im „Tatarischen Zentrum“, einer umgewidmeten Wohneinheit irgendwo in der Plattenbauwüste, auf die angekündigten Gäste gewartet, um sie für die Nacht in der Familie des Vorsitzenden Rafis Kaschapow unterbringen zu können. Die Fahrt dorthin führt noch einmal durch endlose spärlich beleuchtete Plattenbauquadrate, bevor sie im vierten Stock einer dieser Wohnmaschinen vor einer der heute in Russland üblichen eisernen Etagentüren endet. Dahinter empfängt uns – unvermutet wie Aladins Wundertür – eine Wohnung, in der sich alter sowjetischer Wohnstandard mit orientalischem Kitsch zu einer überwältigenden Fülle verbindet. Rafis Kaschapow ist ein agiler Mittdreißiger, seine Frau eine schüchterne Schönheit, die uns, obwohl schon im Schlafgewand und ohne Kopftuch, noch zur späten Nachtzeit verpflegt. Zwei Kinder im ersten Schulalter müssen ihr Bett für die späten Gäste räumen und bei Vater und Mutter schlafen.
Am nächsten Morgen geht es früh ins Zentrum. Rafis Kaschapows erste Aktivität besteht darin, sein Notizbuch nach möglichen Gesprächspartnern durchzutelefonieren. Dafür nimmt er sich reichlich Zeit. „Ich will, dass unsere Arbeit bekannt wird“, sagt er. Erst nachdem er mehrere Zusagen erhalten hat, holt er einen Stapel Fotos und beginnt sie vor uns auszulegen. Vielfältige Aktivitäten der Stadt und des Zentrums werden aus ihnen ersichtlich.
Das erste Bild zeigt Reiter in folkloristischen Trachten:
O-Ton 3:Rafis Kaschapow 2,27
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen (0,20 / 0,35 / 045 / 1,00 / 1,25 / 140), am Schluss hochziehen, abblenden
Erzähler:
„Eta atze…
„Dies ist vom Pferderennen“, erklärt der Vorsitzende. „Jedes Jahr machen wir einmal so ein Fest zusammen mit den Wolgarepubliken Baschkortastan, Orjenburg, Tschuwaschien, Mari El, Utmurtien und Tatarstan. Es geht um den Zusammenhalt der Völker. Das ist ja so etwas wie ein Staatsgebiet.“ „Da sind wir bei Jandarbijew“ fährt er fort: „Der tschetschenische Präsident nach Dudajew.“ Dann kommen Bilder aus Dagestan; danach eine Scharfschützin aus Tschetschenien. „Sie hat wohl an die hundert russische Gegner getötet“, kommentiert Rafis Kaschapow. „Das ist von unserer humanitären Aktion für T schetschenien, da waren wir beim ersten Mal mit 28 Lastern unterwegs.“ Das ist eine Runde von tschetschenischen Kommandeuren.“ „Hier sind wir bei den Krimtataren“ „Dies ist eine türkische Delegation, die das Zentrum besucht hat. Unsere Beziehungen sind eng. Die Türken unterstützen das Zentrum.
So geht es über eine Stunde: Bilder vom ersten tschetschenischen Krieg, Bilder vom zweiten, Bilder jährlicher sog. „nationaler Aktionstage“, Bilder von regelmäßigen Hilfsaktionen für die „tschetschenischen Brüder“. Tatarische Selbstbesinnung und islamische Renaissance, Einsatz für eine nicht-russische Autonomie der Völker an der Wolga und Parteinahme für den Befreiungskrieg der Tschetschenen scheinen untrennbar miteinander verbunden. Moskaus lange koloniale Geschichte in der Auseinandersetzung mit Hunnen, Tataren, Mongolen und Türken wird in den Fotos ebenso wie in den Plakaten an den Wänden des Zentrums lebendig.
Am Schluss noch Bilder von Umzügen und Demonstrationen: „Einmal im Jahr führen wir einen Gedenktag durch“, kommentiert Rafis Kaschapow. „Das geschieht anlässlich der Eroberung Kasans durch Iwan IV. im Jahr 1552, mit dem die russische Kolonisation begann. Das Datum darf nicht vergessen werden. Da ziehen wir nach Kasan. Auch hier vor Ort machen wir Aktionen.“
…totsche provodim.“
Erzähler:
Von den Autoritäten der tatarischen Republik in deren heutiger Hauptstadt Kasan werden die Aktionen der Aktivisten aus Nabereschnye Tschelni, insbesondere ihre Parteinahme für die Tschetschenen mit gemischten Gefühlen gesehen. Einerseits geben sie der Souveränitätspolitik von Tatarstans Präsident Schamijew größeres Gewicht, andererseits stören sie dessen Einvernehmen mit Moskau. Sogar das islamische Zentrum in Kasan distanziert sich von ihnen als „Fundamentalisten“, die die soziale Krise für ihre Ziele ausnutzten.
Gefragt, was er davon halte, wenn man sie „wahabitische Extremisten“, tatarische Nationalisten oder gar Faschisten nenne, antwortet Rafis Kaschapow:
O-Ton 4: Rafis Kaschapow 1,31
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun, soll man doch! Aber bitte, erstens: Mein Volk hat Sprache, Kultur, Religion, Sitten verloren. Nur die wenigstens gemischten Ehen bewahren sich als Tataren. Wenn das so weitergeht, wird es uns bald nicht mehr geben. Was heißt schon Nationalist! Die Russen haben keinen Grund für Nationalismu: Selbst wenn sie in Tschetschenien 20.000 oder 30.000 Soldaten verlieren – ihr Genfonds verschwindet trotzdem nicht – aber wir verschwinden allmählich. Man witzelt schon, wir seien wie eins dieser sibirischen Völker, die Tschukschen, die es bald nicht mehr gibt. Heute bezahlen 20 Millionen Mohammedaner Steuern ins russische Budget, aber die Medien beachten die kleinen Völker nicht. Sogar in so kleinen Ländern wie der Schweiz oder Finnland gibt es mehr nationale Programme als bei uns. Also muss ich etwas tun für mein Volk.“
Erzähler:
Wer aber sein eigenes Volk liebe, setzt Rafis Kaschapow hinzu, sei er nun Russe, Ukrainer, Baschkire oder was immer, der liebe auch seinen Nachbarn.
…lubit ssasjeda.”
Erzähler:
Der Zusatz klingt nach Mäßigung. Die Frage bleibt aber doch: Was meint Rafis Kaschapow, wenn er von „seinem Volk“, wenn er von „den Tataren“ spricht? Die Bevölkerung Tatarstans besteht zu 50 % aus Russen, die anderen 50% sind Tataren, dazu Minderheiten anderer Wolgavölker. Nabereschnye Tschelni ist keine tatarische, keine moslemische, sie ist eine aus dem Boden gestampfte Industriestadt, in die Menschen aus allen Teilen der großen Sowjetunion zogen.
Was meint Raschis Kaschapow also, wenn er von „seinem Volk“ spricht? Auf diese Frage antwortet Rafis Kaschapow:
O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts. 1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.
Übersetzer overcvoice:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – immerhin 20 Millionen, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während orthodoxe Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen murren. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“
Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatarischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural habe man träumen können, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Moslems, Christen und andere sollten dort in Koexistenz leben. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Staates und der orthodoxen christlichen Kirche. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.
Schließlich fasst Rafis Kaschapow das aktuelle Credo des Zentrums in den Worten zusammen:
O-Ton 6: Rafis Kaschapow, Forts. 0, 34
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen
Übersetzer overvoicee:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre. Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“
Erzähler:
So eingestimmt, fällt es nicht schwer, das Anliegen derer zu verstehen, die, aktiviert durch die morgendlichen Anrufe des Vorsitzenden, im Zentrum zum Gespräch mit dem ausländischen Korrespondenten erseinen. Der Erste ist ein Kollege von der örtlichen Presse. Seine Hauptinteresse gilt der Frage, wie man in Deutschland mit gewaltbereiten Jugendlichen umgehe Dies, meint er, sei zur Zeit das größte Problem in Nabereschnye Tschelni, nachdem dessen soziale Pyramide zusammengebrochen sei. An zweiter Stelle nennt er Alkoholismus und Drogensucht. Die Administration unternehme nichts. Sie habe kein Geld und befinde sich in den Händen der Mafia. Wenn bei „Kama“ nicht bald wieder produziert werde, werde sich die Spannung in einer sozialen Erxplosion entladen.
Der zweite Gast des Zentrums an diesem Morgen, Agludi Wiselud, hat wenig Sinn für diese aktuellen Probleme. Der kleine, eifrig gestikulierender Mann versteht sich als Privatforscher. Gemeinsam mit anderen widmet er sich, wie er es nennt, der „Erforschung der historischen und ideologischen Grundlagen der tatarischen nationalen Bewegung.“ Hunnen, Mongolen, Türken – das sind seine Themen:
O-Ton 7: Agludi Wiselud, Forscher 0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun zunächst beschäftigen wir uns mit der vor-islamischen Geschichte der Türken, also der, die mit den Hunnen verbunden ist, mit Attila, den frühen Turkvölkern. Wir studieren ihre Zivilisation. Wir fanden einige Punkte, die vorher nicht studiert wurden. Zum Beispiel Hinweise, dass wir alle aus einer Zivilisation kommen, Türken und auch Deutsche, der arischen. Natürlich ist das alles ziemlich missbraucht. Wir studieren daher auch die nationalistischen Verzerrungen dieser Fakten. Aber es gibt eben einige interessante Hinweise, dass vor der Christianisierung die deutschen Stämme äußerst eng mit den türkischen verwandt waren, also den Tataren, Türken, Uskeben und andere.“
…Usbekami, etami.“
Erzähler:
Allerdings, schränkt Agludi Wiselud ein, befänden sich die Forschungen seiner Gruppe noch sehr am Anfang, besonders was die germanischen Ursprünge betreffe, denn leider gebe es kaum Literatur über germanische Mythen in russischer Sprache.
Selbstbewusster tritt Gabbrachman Salaludinow auf, ein distinguierter Herr. Er stellt sich als Vorstand des „Club Bolgar“ vor, der die Geschichte des „Großen Bolgarstan“ erforsche, das in der Folge der hunnischen Wanderungen an Donau und Wolga entstanden war. Der falschen russischen und daraus folgend ebenso falschen europäischen Geschichtsschreibung will er die historischen Fakten entgegenstellen. Nur daraus könne eine richtige Politik erfolgen. Solche Clubs, erklärt der Bolgar-Forscher, gebe es übrigens nicht nur in Naberschnye Tschelni, sondern auch in Kasan, das er das „heutige Bolgar“ nennt, sowie in allen anderen etnischen Republiken an der Wolga; sogar in Moskau und St. Petersburg finde man welche:
O-Ton 8: Gabbrachman Salaludinow 1,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice
„We naschem klubje…
“In unserem Club versammeln sich diejenigen, welche die Geschichte kennen lernen wollen und die sich für Bolgaren halten. Wir propagieren unsere wahre Geschichte: Dass wir Bolgaren sind. Die Geschichte der Bolgaren ist sehr reich. Es gibt tragische wie auch heroische Momente darin, aber eins ist unbestreitbar: Bolgarstan war für seine Zeit eine hochentwickelte kultivierte Gesellschaft. Wir hatten früher als die Russen einen Staat und früher als die Mongolen. Wir sind mit den Mongolen in keiner Weise verwandt. Die Mongolen überfielen uns vielmehr, sie kamen zu uns im Krieg. Wir leisteten langen Widerstand, aber die Kräfte waren ungleich. Und so haben sie uns besiegt. Aber nicht sie haben unseren Staat zerstört. Der Staat blieb, die staatstragende Dynastie, die ganze Armee und alle staatlichen Einrichtungen blieben; alle Führer; der ganze Adel blieb an seinem Platz. Erst als die Russen uns besiegten, da wurde alles zerstört.“
… ani bsjo rasruscheli.“
Erzähler:
In einem muss man dem Bolgar-Forscher zustimmen: Russische Geschichtsbücher berichten anders. Nach russischer und gängiger westlicher Vorstellung waren es nicht die Bolgaren, die den Mongolensturm aufhielten, sondern die Russen und waren es nicht die Russen, die Bolgarstan zerstörten, sondern die Mongolen. Tatsächlich verbanden sich die Mongolen jedoch nach dem Fall Bolgarstans mit den dort siedelnden Völkern. Aus Bolgarstan wurde das Chanat Kasan. Aus der Vermischung ansässiger bolgarischer Bevölkerung mit mongolischen Stämmen entstand der ethnische Flickenteppich, der heute rund um die mittlere Wolga, mitten im russischen Haus ausgebreitet ist.
Unter der Bezeichnung „Wolga-Ural“, so Gabbrachman Salaludinow bilde dies alles heute einen kulturellen und politischen Zusammenhang, der nach eigener Verwirklichung strebe:
O-Ton 9: Gabbrachman Salaludinow 0,45
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Wolga-Ural eta…
„Wolga-Ural, das ist Bolgarstan. Um es nicht direkt Bolgarstan zu nennen, nennt man es Wolga-Ural. Wir möchten aus ganzem Herzen den bolgarischen Staat wiederbeleben, allerdings in begrenzterem Umfang. In unserem Volk, das der Verordnung nach heute Tataren genannt wird, gibt es verschiedene Dialekte. Alle diese Dialekte sind bolgarisch. Darüber hinaus sind die Baschkiren unser Volk. Sie sind auch Bolgaren. Die Baschkiren – das ist der Ural. Wir, die sog. Tataren – das ist die Wolga, zusammen bilden wir Wolga-Ural, eben Bolgarien.“
…i jest Bolgarie.“
Erzähler:
Moskau versuche nach wie vor diese Wahrheit zu unterdrücken:
O-Ton 10: Gabbrachman Salaludinow 0,34
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Moskwa boitsja…
„Moskau hat Angst, die russische Führung hat Angst, denn wenn wir uns Bolgaren nennen, dann wachsen wir hoch über die Russen hionaus: Unser Staat war früher da, unsere Gesellschaft ist entwickelter, unsere Kultur ist höher, unsere Geschichte ist älter. Sie aber wollen das nicht. Sie wollen, dass wir Tataren genannt werden, und niedriger stehen als sie. Das ist das Problem.“
…vot, we etam wapros.”
O-Ton 12: Russisches Zentrum 0,57
Regie: O-Ton während des Erzählers kommen lassen, nach Erzähler vorübergehend ganz hochziehen, abblende, hörbar unterlege, hochziehen, abblenden
Erzähler:
Ganz andere Töne schlagen uns entgegen, als unsere tatarischen Gastgeber mit uns zum russischen Zentrum hinüberfahren, damit wir, wie Rafis Kaschapow sagt, auch ihre Gegenspieler kennen lernen. Hier hat die gärende soziale Desintegration der Stadt als Gegenbild zum tatarischen Nationalismus russische Ordnungsfanatiker auf den Plan gebracht, die den bekannten Demagogen Wladimir Schirinowski noch als Weichling beschimpfen. 93% der Verwaltung von Nabereschnye Tschelni werde von Tataren gestellt, behauptet der Vorsitzende des Zentrums; an allen Schulen werde tatarisch gesprochen, nicht eine gebe es, an der nur russisch gesprochen werde. Überall in den Medien höre man ständig tatarische Lieder, wann höre man mal richtige russische?
Regie: vorübergehend hochziehen
„Und wer hat Europa vor den Mongolen gerettet?“, entrüstet sich der Vorsitzende, als die Sprache auf die russische Kolonisation kommt. „Die Tschuwaschen? Die Tataren? Nein, wir! Wir waren es, die Russen! Tschingis Chan hatte die Bolgaren doch schon überrannt! Wenn wir Russen nicht gewesen wären, dann wäre heute nichts mehr! Wir haben Europa gerettet, so wie wir Europa auch vor Hitler gerettet haben! Nicht ihr Deutschen, wir Russen haben Europa gerettet! Verstehen Sie? Wir! Nicht die Amerikaner, nicht die Engländer, nicht die Franzosen, erst recht nicht die Polen!“
… nje tjem bolje nje poljaki.“
Erzähler:
Tatarstans Präsident nehme sich das Recht, die Einheit Russlands in Frage zu stellen, fährt der Vorsitzende fort. Aber wozu brauche Tatarstan einen eigenen Chan? Wozu brauche Russland viele kleine Präsidenten? Es gebe doch schon einen Präsidenten in Moskau!
O-Ton 13: Russisches Zentrum, Forts. 1,51
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,40 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden
Erzähler:
„Tschuwaschien – existiert es?“ schreit er. „Mordawien – existiert es?“ „Die Tataren – existieren sie? – Ja? Sie existieren? – Also, wenn wir sie vernichtet hätten, wie könnten sie da existieren?“ Einwände fegt er beiseite: „Kolonie? Was für eine Kolonie? Bei uns kann es überhaupt keine Kolonie geben. Im Zarismus, bei den Imperatoren waren die Tataren die gebildetsten Leute.“ Von welcher Kolonie man da reden könne, bitte von welcher Kolonie.
Regie: Bei 0,40 zwischendurch hochziehen
Erzähler:
Fragen und Einwände der Besucher ertrinken in einem Monolog des Vorsitzenden über die Notwendigkeit, russische Kultur gegen die jüdische bolschewistische Revolution und gegen das heute wieder herrschende Judentum durchzusetzen. Putin sei der erste Schritt in die richtige Richtung, der Krieg gegen die Tschetschenen notwendig, er werde irgendwann mit einem Frieden enden wie jeder Krieg. So sei das nun einmal mit Kriegen! Als die Gäste schließlich zum Aufbruch drängen, müssen sie schließlich noch eine Einladung zu Tee, Keks und Wodka über sich ergehen lassen. Dann ist dieser Spuk vorüber.
…allmählich ausblenden….
Erzähler:
Zurück im tatarischen Zentrum stoßen wir nun auch dort auf Vertreter eines härteren Kurses, allerdings in sanfterer Sprache. Das ist vor allem ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart, den Rafis Kaschapow lachend als „Wahabiten“ ankündigt. Scheich Adin, wie der bärtige junge Mann sich selbst vorstellt, ist Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabereschnye Tschelni.
Gefragt, wie er sich fühle, wenn er „Wahabit“ benannt werde, antwortet er:
O-Ton 14: Scheich Adin 1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden
Übersetzer overvoice:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“
Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden
Übersetzer overvoice, Forts.
„Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…fundamentalistom i protsche.“
Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist das Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben.
Was er darunter verstehe?
O-Ton 15: Scheich Adin, Forts 0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna tschelowjek…
„Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“
Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?
O-Ton 16: Scheich Adin, Forts. 0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna…
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims – uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumanitarnom pomotschom.“
Erzähler:
Die jungen Leute in unserer Stadt suchen nach Aufgaben, so Scheich Adin. Und die, die sich an uns wenden, sind nicht hinunter gefahren, um nur humanitäre Hilfe zu leisten:
O-Ton 17: Scheich Adin, Forts. 0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer overvoice:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen dem Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“
Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
…wolje Allacha.“
Erzähler:
Gegen solche Töne klingt die Klage des Vorsitzenden der örtlichen tschetschenischen Gemeinschaft, der mit bitteren Worten die elende Lage der tschetschenischer Flüchtlinge in der örtlichen Diaspora und die Schikanen der örtlichen Behörden gegen sie schildert, schon beinahe milde. Nicht nur milde, sondern freundlich stimmt ein abschließender Blick in den großen Versammlungsraum des Zentrums, wo sich eine Gruppe jüngerer und älterer Frauen – in Kopftüchern, aber mit offenen, fröhlichen Gesichtern – zur abendlichen Koranschule versammelt hat:
O-Ton 18: Frauen in der Koranschule 26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen
Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
„Wir lernen den Islam“, erklärt die Lehrerin bereitwillig. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“
O-Ton 19: Koranschule, Forts. 559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden
Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, fährt die Lehrerin fort. Für Männer gebe es gesonderten Unterricht, ebenso für Kinder.
„Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“
Eine andere Frau zeigt ein Heft: „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“.
„Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.
Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen
Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, meint eine Frau. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, ergänzt eine andere, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo
O-Ton 20: Wassili im Auto 0,59
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen, unter dem Übersetzer abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, danach mit Athmo 2 verblenden
Erzähler:
So geht es heimwärts nach Tschuwaschien. Mehr noch als wir, ist Wassili, unser treuer Begleiter, erfüllt, von dem, was er gehört hat. In der Arbeit des Zentrums sieht er die adäquate Antwort auf die soziale Desintegration und die Degradierung der eigenen, wie es in Russland heißt, nationalen Identität, von denen er sich bedroht fühlt:
Übersetzer overvoice:
„Moja wpetschetlennije…
„Mein Eindruck von dieser Reise und den Gesprächen mit den Leitern der Organisationen ist sehr befriedigend. Das tschuwaschische Kulturzentrum und andere können hier lernen…
Regie: Athmo 2 verblenden, Musik unter dem Erzähler allmählich hochziehen, danach frei stehen lassen, ausklingen lassen.
Erzähler:
Er lässt offen, was ihn mehr beeindruckt hat: die Aktivismus der Männer oder die fröhliche Entschlossenheit der Frauen. Eine Entscheidung zwischen beidem muss er hoffentlich niemals treffen.