Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtlänge der O-Töne: 20,23

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann vielleicht O-Ton 16 (zum ökologischen Dienst, Forts.) notfalls auch 15, einschl. der einleitenden Erzählertexte. Forts. Mit Erzähler vor O-Ton 17 dann wie jetzt. im ungekürzten Text

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Russlands ungelöste Agrarfrage

Russlands Bauern haben es schwer. Sie müssen nicht nur hart arbeiten; sie müssen auch eine Reform ertragen, deren Erfolge bisher trotz wiederholter Anläufe nicht erkennbar sind. Nach zahllosen Versuchen, auch die Landwirtschaft  im Schnelldurchgang zu privatisieren, musste Boris Jelzin seinem Nachfolger Wladimir Putin die Agrarfrage als ungelöstes Problem hinterlassen. Wird es dem neuen Präsidenten Russlands anders ergehen als seinem Ziehvater Boris Jelzin? Kai Ehlers berichtet und analysiert.

O-Ton 1: Megaphon draußen, Redner drinnen        1,13
Regie: Ton langsam kommen lassen, frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem erstem Sprecher (mit Rednerstimme) vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Erzähler:
Novosibirsk. Gebietsparlament. Draußen Proteste: Der Unmut richtet sich gegen die katastrophalen Folgen der Privatisierungspolitik: Stillgelegte Betriebe, mangelnde Versorgung, steigende Lebenshaltungskosten:

Regie: Ton vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Drinnen Reden über die Notwendigkeit der Reorganisation der ländlichen Selbstverwaltung: Delegierte aus Dörfern und kleinen Städten des Oblastes, des Regierungsbezirks, wurden zusammengerufen, um sie darüber beraten zu lassen, wie ein Gesetz zur örtlichen Selbstverwaltung aussehen könnte.  Mehr Entscheidungsfreiheit fordern die Delegierten, mehr finanzielle Unterstützung durch die Regierung, vor allem aber Verfügungsgewalt über das örtliche Budget.
Rede…

Erzähler:
Viel Hoffnung machen sich die Delegierten allerdings nicht. Zu tief ist das Misstrauen gegenüber der „Macht“, das heißt, gegenüber der eingessenen Bürokratie, die in die eigene Tasche wirtschaftet, statt die wenigen Gelder, welche aus dem zentralen Moskauer Budget zurücktröpfeln, an die Dörfer und Bezirkszentren weiterzuleiten. Im Foyer bekräftigt eine Delegierte die Kritik mit den Worten:

O- Ton 2:  Delegierte im Foyer        0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
Foyergemurmel, „Sowerschenna werna…
„Ganz genau! Das ist es, worunter wir vor Ort leiden: dass man uns reichlich Aufgaben gibt, Möglichkeiten jedoch kaum. Denn finanziert wird alles von oben. Man möchte natürlich hoffen, dass dies alles nicht nur Worte sind. Das wäre auch so, wenn man die Aufstellung des Budgets von unten zuließe. Dann wären es zu hundert Prozent nicht nur Worte, sondern Taten. Aber das sehen wir bisher nicht.“
…eta nje widim.“

Erzähler:
Dies alles geschah im Herbst 1994, und zwar nicht nur in Nowosibirsk, sondern im ganzen Land, drei Jahre, nachdem Boris Jelzin die Überführung der Sowchosen, also der Kollektivwirtschaften in Aktiengesellschaften verfügt hatte, ein Jahr nachdem er den Obersten Sowjet in Moskau, danach die gesamte Sowjetstruktur bis hinunter zum letzten Dorf auflösen ließ. Sie hatten der Privatisierung im Wege gestanden. Für eine Reorganisation der Landwirtschaft reichte das alles nicht. Auch alle Versuche Boris Jelzins, Land zum freien Kauf und Verkauf per Erlass freizugeben, blieben ohne Resonanz; die Verabschiedung eines entsprechenden Kodex durch die Duma scheiterte wiederholt am Widerstand der Kommunisten und anderer Traditionalisten. Jetzt muss auch Wladimir Putin  mit Widerstand in der Agrarfrage rechnen. Andrej Filippow, verantwortlich für Außenkontakte der Duma-Fraktion der Kommunistischen Partei Russlands, begründet das ausländischen Gästen gegenüber mit den Worten:

O-Ton 3: Andrej Filippow, leitender KP-Funktionär    1,07
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Otnaschennije semlij…
„Die Beziehung zum Boden! Verstehen Sie? Das wird eine der sehr ernsthaften Fragen von Putins Position sein. Die Rede ist von freiem Kauf und Verkauf. In dem neuen Kodex dazu, der bisher nicht angenommen wurde, wird das gefordert. Gartenflächen, Datschen – das sind Fragen, die entschieden sind; das ist so und niemand wendet etwas dagegen ein. Es geht um etwas anderes. Es geht um den landwirtschaftlich genutzten, um produktiven Boden: Da sind wir gegen den freien Kauf und Verkauf. Wie Putin sich da verhalten wird? Auf der einen Seite sagt er: Ja, das ist nötig, Auf der anderen Seite sieht er selber, dass eine solche Entscheidung nicht einfach akzeptiert werden wird. Das wird für ihn ein sehr ernsthaftes entscheidendes Moment.“
…tak momjent.“

Erzähler:
Wladimir Putin selbst habe das Thema bei seinen Wahlreisen erneut ins Gerede gebracht, erklärt Filippow. Es werde also auf jeden Fall zu neuen Auseinandersetzungen kommen. Zudem, setzt Filippow hinzu, müsse man die prinzipielle Bedeutung dieser Frage für Russland bedenken:

O-Ton 4: Filippow, Forts.         0,49
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Ah potom systjema…
„Muss man sehen, dass das System der  Nutzung des Bodens historische, alte, uralte Wurzeln hat: Die gemeinschaftliche  Nutzung. In der kosakischen Bevölkerung etwa. Unsere Kosaken hatten ja niemals private Nutzung. Das war immer gemeinschaftliche Nutzung, die „Obschtschina“. Das kosakische Dorf, das gemeinschaftliche Eigentum usw. usw. Das heißt, aus wirtschaftlicher Sicht und aus der Sicht einer ganzen Reihe von prinzipiellen Fragen wird die Bodenfrage für Putin ein Examen.“
…budit Examen.“

Erzähler:
Die „Obschtschina“, das ist das aus der zaristischen Bauerngemeinschaft hervorgegangene Lebens- und Arbeitskollektiv, das in der Sowjetzeit als Sowchose, Kolchose oder Betriebskollekiv das gesellschaftliche Leben und sogar den Staatsaufbau bestimmte. Pro oder Contra „Obschtschina“, da darf man Filippow folgen, das ist in der russischen Diskussion heute fast gleichbedeutend mit pro oder contra Privatisierung. Die Ansichten darüber, was man unter „Obschtschina“ zu verstehen habe, gehen allerdings sehr weit auseinander. Teodor Schanin, führender Agrartheoretiker des heutigen Russland, zugleich Professor an der Universität in Manchester, möchte deshalb, vor jeder weiteren Debatte, erst einmal definieren, was diese „Obschtschina“ denn eigentlich ist:

O-Ton 5: Teodor Schanin        1,09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„If you talk…
„Wenn man von der Obschtschina spricht, die es im 19. Jahrhundert in Russland gab, dann war sie ein System, das gut für die Bauern war, indem es gegen hohe Risiken der Landwirtschaft schützte in einer Situation, in der es extrem schwierig war, ohne die Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die „Obschtschina“ eine Funktion für die Regierung, nämlich, ihre Macht ohne allzu große bürokratische Strukturen auszuweiten: Ohne jemanden vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, dem Dorf den Befehl zu geben, Rekruten für die Armee zu stellen oder Steuern zu zahlen. Man brauchte keinen Beamten zu schicken. Das machten alles die Bauern selbst. Die Elite wiederum konnte unterwegs sein. In diesem Sinne war die Obschtschina effektiv nach zwei Seiten: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern und sie diente den Bedürfnissen der Regierung. Auf diese Weise schaffte sie Stabilität.
… was so stable.“

Erzähler:
Die „Obschtschina“ schaffte nicht nur Stabilität, erklärt Teodor Schanin weiter, sie war auch selbst über Jahrhunderte stabil, weil beide Seiten an ihrer Existenz interessiert waren. Dann fährt er fort:

O-Ton 6: Schanin, Forts.        1,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„But this type of…
„Aber dieser Typ von Obschtschina kam in die Krise, weil einige sie verlassen wollten, andere nicht. Speziell in der Zeit Stolypins, des letzten zaristischen Reformministers, war es so. Er wollte sie auflösen, weil er fürchtete, dass sie ein Instrument für die revolutionäre Aktion werden könnte, was sie 1905, 1906, 1907 auch tatsächlich wurde. Die Stabilität der Obschtschina, ihre Kraft, ihre tiefen Wurzeln bewiesen sich sehr direkt, als der Bürgerkrieg kam; da kehrten alle Obschtschinas ins Leben zurück, auch die, die unter Stolypin aufgelöst worden waren. 1920 gründeten die Bauern selbst wieder Obschtschina, sodass diese viel mehr waren als bloße staatliche Institutionen. Die Bauern gaben dem System der Obschtschina die Präferenz vor anderen Arten zu leben. Aber diese Art wurde zerstört. Und in unserer Zeit benutzen die  Russen das Wort Obschtschina in der Bedeutung von Gemeinde. Also, wenn es nur Gemeinde heißt, dann ist jedes Dorf eine Obschtschina; wenn es aber im Sinne von gegenseitiger Unterstützung gemeint ist, im Sinne von gemeinsamem Besitz und immer wieder vorgenommener Neuaufteilung von Land nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dann existiert sie nicht.“
392…does not exist.“

Erzähler:
Die alte „Obschtschina“ existiert nicht mehr, meint Teodor Schanin. . Zerstört wurde sie durch Stalin, der die gewachsene Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe im Zuge der Kollektivierung in staatliche Zwangsgemeinschaften verkehrte, in denen das Privateigentum aufgehoben war. Wie einst unter Iwan dem Schrecklichen durften die Bauern ihre Dörfer nicht oder nur mit Sondererlaubnis der Partei verlassen; ihr Hof blieb Eigentum der Sowchose. Diese Verhältnisse lockerten sich nach Stalins Tod. Unter Breschnjew war der eigene Garten, die eigenen Hühner, das eigene Schwein möglich, manchmal auch schon die eigene Kuh. Boris Jelzins Privatisierungspolitik zielte auf die Auflösung der „Obschtschina“ überhaupt und auf die Schaffung einer Schicht privater Bauern. Den heute erreichten Stand skizziert Teodor Schanin so:

O-Ton 7: Schanin, Forts.        0.59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To which extend…
„Zu welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben – ich meine, die Menschen beeinflussen sich gegenseitig – ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, im Süden Russlands, zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein `Aktiengesellschaft-Dorf´, aber es ist exakt dasselbe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft.“                                                                                                   …it operates.“

Erzähler:
Wie es läuft, das beschreibt Alexander Nikulin, jugendlicher Mitarbeiter Teodor Schanins,. Er ist soeben mit einer Gruppe Forscher der von Teodor Schanin geleiteten Moskauer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ von einjährigen Feldforschungen aus den Dörfern im Süden Russlands zurückgekehrt. Gefragt zu welchen Ergebnissen sie gekommen seien, gibt er die provozierende Antwort:

O-Ton 8: Alexander Nikulin        0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Danni otschen interesnije…
„Die Daten sind sehr interessant. Es gibt da einen alten russischen Witz, schon 200 Jahre alt. Er stammt aus der Zeit, als ein in Paris lebender Freund des Historikers Karamsin diesen bat, ihm zu schreiben, was in Russland vorgehe. Karamsin antwortete: `Das ist sehr einfach: Man klaut´“.
…warujut.“

Erzähler:
Sofort schränkt Alexander Nikulin jedoch ein: Diese Erklärung sei unter Russen bis heute sehr populär, wissenschaftlich gesehen müsse man aber von „informellem Einkommen“ sprechen. Eine dörfliche Familie in Kuban zum Beispiel lebe offiziell von 600 oder 1000 Rubeln, von ungefähr 30 Dollar also. Ihr reales Einkommen betrage jedoch zwischen  200 und 300 Dollar. Aus dieser Tatsache ergebe sich ein höchst interessantes Bild vom Zustand der Landwirtschaft:

O-Ton 9: Nikulin, Forts.        1,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nasche isledowannige pakasiwajut…
„Unsere  Untersuchungen zeigen, dass in Wirklichkeit in der bäuerlichen Sphäre eine Symbiose zwischen dem Kleinen und dem Großen besteht, zwischen familiärer Wirtschaft und Großstrukturen. Die Symbiose geschieht eben häufig in den merkwürdigsten Formen des naturalen Austausches: Man zahlt seinen Kolchosmitglieder nichts, dafür nutzen die Kolchosmitglieder die Ressourcen auf nicht-legale Weise. Dadurch erhält  und reproduziert sich das ganze System und fährt fort zu funktionieren. Hier geht es um die Balance: Wie unsere Erfahrungen zeigen, führt die alleinige Ausrichtung auf das Kleine ebenso wie die alleinige Ausrichtung auf das Große zur Krise und Degradierung. Wenn die Kolchosmitglieder zu viel `klauen´, dann geht die agrarische Produktionspotenz der Kolchose zugrunde, und sie können nirgendwoher Ressourcen nehmen. Dann kehren sie zur Naturalwirtschaft zurück. Das ist schlecht. Wenn sie überhaupt nicht schaffen etwas zu nehmen, dann verelenden die Familien. Diese sehr interessante Balance zu erkunden war unsere Aufgabe.“
… bili nasche pojesdi.“

Erzähler:
Die Privatisierung in der von Boris Jelzin 1991 projektierten Form, so Alexander Nikulin weiter, ist ins Stocken geraten. Einen Boom privater Bauern gab es zwischen 1992 und 1993: Da gab es einen steilen Anstieg für die Registrierung von privaten Höfen; das ging bis 1995, aber seit 1995 geht diese Kurve insgesamt wieder abwärts. Man kann einige Typen von Bauern in dieser Bauern-Bewegung unterscheiden: Der wichtigste und erfolgreichste Typ war der frühere Leiter der Kolchose oder nomenklaturische Arbeiter des Agrar-Komplexes, der sogenannte „effektive Bauer“, der seine privilegierte Lage in den herrschenden Strukturen nutzte, der den besten Boden, die beste Technik an sich nahm und der die Möglichkeit hatte, Kredite zu bekommen. Der Zweite ist der Typ des Enthusiasten, der unbedingt selbst Herr seines eigenen Bodens werden wollte, es ausprobieren wolle. Der dritte ist einfach eine starke Familie, die versuchte eine Wirtschaft aufzubauen.
Jetzt kann man sagen, so Aleander Niculin, dass bei allen drei Typen die Dinge nicht sehr erfolgreich verlaufen. Es gibt eine gewisse Zahl starker Bauern, die eine erfolgreiche Wirtschaft betreiben, aber das bedeutet, dass sie von früher her besondere Verbindungen haben, was man in Russland mit dem Wort „Blat“, beschreibt, Beziehungen mit der Administration, mit den Banken, usw. Das heißt, sie wirtschaften keineswegs in freien marktwirtschaftlichen Beziehungen, sie sind trotz allem irgendwelchen großen Strukturen verpflichtet, die sie finanzieren oder sie nehmen, nicht anders als die „Kolchosniki“ auch, die Ressourcen der Sowchose für sich in Anspruch. Für ein Fläschchen Wodka verhandelt der Privatbauer mit den „Kolchosniki“ und die geben ihm den Saattrockner, Korn, Technik, bestellen ihm das Feld usw. Das ist auch ein Grund, schließt Alexander Nikulin diese Schilderung,  warum die „Kolchosniki“ die Bauern nicht eben lieben. „Der Bauer“, sagen sie, „ist nur der größere Dieb im Vergleich kleineren Dieben in der Kolchose“:

O-Ton 10: Nikulin, Forts.        0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamy i ssostajannije…
„Deshalb ist die Euphorie der Gaidarschen Privatisierung und der Reformen im Agrarbereich vorüber. Jetzt verstehen alle, dass in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren die großen Betriebe der früheren Sowchosen und Kolchosen die wichtigsten Betriebe bleiben werden. Will man deren Lage skizzieren, dann muss man sagen: Seit 1990, in den Jahren des Chaos hat ungefähr ein Drittel seine Existenz aufgegeben, weil sie einfach alle bankrott waren. Die Menschen, die in diesen Sowchosen übriggeblieben sind, befinden auf dem Niveau der Naturalwirtschaft. Sie graben die Erde per Hand um oder wenn sie Glück haben, mit einem defekten Traktor. Das ist eine ziemlich primitive Art der Existenz.“
…ssuschustwawannije.“

Erzähler:
Bisheriger Tiefststand der Reformen wurde 1998/9 mit dem Vorpreschen des Gouverneurs von Saratow erreicht. Er erließ ein regionales Dekret über privates Eigentum an landwirtschaftlichem Boden im Bezirk und inszenierte eine landesweite Kampagne:

O-Ton 11: Nikulin, Fort.         0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Bili sosdani potschti….
„Es wurden Aktionen im ganzen Bezirk angesetzt. Aber das Resultat war ein Reinfall. Es fanden sich keine Käufer und jetzt kostet ein Hektar Boden in Saratow siebzehn Rubel; das ist ungefähr eine Mark und zwanzig Pfennig,  Jetzt ist es um die Kampagne still geworden. Nach ihrem Muster hat dann noch der Gouverneur von Tatarstan, Schamijew, einen ähnlichen Versuch gestartet. Der brachte ebenso wenig Resultate.“
…ni kakich ni prinislo.“

Erzähler:
Die Erklärung, die Alexander Nikulin für den Reinfall gibt, kennzeichnet den Stand der Entwicklung:

O-Ton 12: Nikulin, Forts.         0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja by skasal…
„Ich würde sagen, der Hauptgrund besteht darin, dass es nicht ausreicht, einfach nur Boden zu kaufen. Um ihn zu bearbeiten, braucht es Kapital, Technik, Infrasstruktur. Besitzer von einzelnen Landstücken sind in Russland nicht existenzfähig. Das ist das Erste. Das Zweite ist die gesetzgeberische Verwirrung: Die Dekrete der Gouverneure von Saratow und Tatarstan zum Beispiel sind aus Sicht der russischen Verfassung nicht gesetzmäßig. Da kann es geschehen, dass einem gemäß der Gesetze der russischen Föderation dieser Boden später einfach wieder abgenommen wird.“
… atbirut etu semlju. (Schnaufer)

Erzähler
Es entsteht ein düsteres Bild: Die Produktivität der Landwirtschaft ist seit 1990 um die Hälfte gesunken. Das Wort Katastrophe will der junge Forscher jedoch nicht zulassen: Das Volk hungere nicht, es gebe auch keinen Bürgerkrieg. Russlands Landwirtschaft sei immer noch in der Lage, seine Menschen zu ernähren, sie zu kleiden und sie TV schauen zu lassen. Auf diesem Niveau, wenn auch elend, erklärt er, könnten die Menschen lange Zeit existieren, ohne dass sie vollkommen untergingen. Schlimmer erscheint Alexander Nikulin die soziale Apathie, die aus der Untätigkeit des Staates resultiere, allgemeine Desorganisation, Depression, steigender Alkoholismus, Wachsen der Jugendkriminalität, Drogenkonsum. Kann Wladimir Putin in dieser Situation tatsächlich neue Impulse in der Agrarpolitik setzen und dabei Privatisierung, wie kurz nach seinem Antritt als Präsident versprochen, auch noch mit Patriotismus, also traditioneller Lebensweise verbinden? Auf diese Frage antwortet Alexander Nikulin:

O-Ton13: Nikulin, Forts.        0,51
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja tschesna skasatj…
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Moment ist nichts spürbar, was Putin in Bezug auf Privateigentum an grund und Boden unternehmen will. Ich würde aber auch sagen, selbst wenn ein solches Projekt verwirklicht wird, bedeutet das nicht automatisch den Sieg und die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft, sicher nicht. Letztlich wird das Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das bleibt Papier: Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen.“
…sluschitsja.“

Erzähler:
Andererseits, so Alexander Nikulin, habe Putin ja bereits entscheidend in die Entwicklung eingegriffen, allerdings in einer Weise, welche die Lage wesentlich verschlechtert habe:

O-Ton 14: Nikulin, Forts.        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wy snaetje, ja by…
„Putin erklärte, dass es nötig sei, die vertikale Staatsmacht zu stärken. In der Realität bedeutet das Re-Zentralisierung und eine erneute Stärkung Moskaus für alles und jedes. Es bedeutet, dass die Leiter der örtlichen Administration von oben eingesetzt und nicht mehr von der örtlichen Bevölkerung gewählt werden; zweitens bedeutet es, dass sich selbst das geringe Budget auflöst, das sie jetzt noch hatten; es wird von den Distrikten bestimmt. Die Jelzinsche Kampagne für die Selbstverwaltung war zwar nur eine ideologische, aber in diesem Rahmen konnte man etwas machen. Jetzt sind schon die ersten Monate unter Putin äußerst angespannt. Sie zeigen, dass auch eine gänzliche Beseitigung der örtlichen Selbstverwaltung möglich ist. Dazu kommt meine eigene Beobachtung, dass ohnehin im Vergleich zu der Zeit, als es die bäuerlichen Sowjets gab, jetzt die Bedingungen für örtliche Selbstverwaltung sehr viel schlechter geworden sind.“
…obschestwa.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf die entstandene Realität wirft, was Alexander Nikulin über den ökologischen Dienst zu erzählen hat, eine der neuesten Einrichtungen, die harmlosen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik vorgezeigt wird:

O-Ton 15: Nikulin, Forts.        0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dewonosti godi….
„In den 90er Jahren wurden nach westlichem Muster überall in den Regionen ökologische Dienste eingerichtet. Sie sind sehr strikt. Sie fordern die formale Einhaltung ökologischer Standards. Unter den Bedingungen Russlands ist eine Erfüllung dieser Standards nicht möglich. Kommt also ein Beamter des ökologischen Dienstes auf die Sowchose und sagt: `Sie müssen ausmisten, sie müssen die Wege pflegen, sie müssen dies und das!´ Der Direktor hat aber keine Kräfte und keine Mittel; es ist nicht real! – Da muss man dem ökologischen Dienst dann einfach „Wsatki“, geben, mit ihnen trinken, heißt das, sie verpflegen, ihnen Geld geben, damit sie dann wieder gehen. Der ökologische Dienst gilt deshalb als einer der schlimmsten Racketteure, Schutzgeldeintreiber, den die örtlichen Landgemeinen am meisten fürchten. So sieht es mit der Ökologie vor Ort aus.“
…na mestach.“

Erzähler:
Natürlich, so Alexander Nikulin, könne man das alles nicht über einen Leisten ziehen. Russland sei groß und die Verhältnisse von Region zu Region verschieden. Doch auch aus der Art der Unterschiede leuchtet eine gemeinsame russische Realität hervor:

O-Ton 16: Nikulin, Forts.         0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na premjer…
„Zum Beispiel der Norden Russlands ist gegenwärtig einer der ökologisch saubersten ländlichen Gebiete des Landes. Auf Grund der wirtschaftlichen Krise ist die einzige Schwierigkeit, welche die ländlichen Gebiete ökologisch wirklich belastet hat, nämlich die chemische Überdüngung, jetzt praktisch ganz zurückgegangen. Jetzt ist chemischer Dünger unglaublich teuer geworden und die Mehrheit der Regionen benutzt ihn überhaupt nicht mehr. In reichen Regionen wie zum Beispiel in Kuban fahren die starken Wirtschaften dagegen fort, in großem Maßstab mit chemischer Düngung zu arbeiten. Kuban hat eine der höchsten Krebsraten in Russland. Als Grund wird der völlig unkontrollierte Einsatz der giftigen Düngemittel angenommen. Auch hier kann man sich vom ökologischen Dienst durch wieder Geschenke loskaufen.“
…problem njet.“

Erzähler:
Auswege aus der Situation liegen nicht in einer weiteren Privatisierung, ebenso wenig wie im Widerstand dagegen, erklärt Alexander Nikulin. Sie liegen einzig und allein in der Anerkennung der Realität:

O-Ton 17: Nikulin, Forts.        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja….
„Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow ist ein großer russischer Agrarwissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts, der die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Diese Theorie ist eine Kombination, sagen wir, des Individuellen und des Kollektiven, wenn die einzelne Menschen in begrenzte kollektive Prozesse eingebunden sind, dabei in Prozesse, die man einschätzen, die man rationalisieren kann. Das ist nicht einfach nur die hehre Obschtschina und Sobornost, soziale und geistige Gemeinschaft, von der viele russische Nationalisten geschrieben haben. Die kann ich in der Realität nicht erkennen. Was ich in der  Realität aber sehe, ist die äußerst produktive, äußerst perspektivreiche, effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und in Abhängigkeit zur geografischen Lage, in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann es sehr viele unterschiedliche Kombinationen dieser Art geben. Sie bilden sich zur Zeit spontan und arbeiten in Russland. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlern, von Politikern, über sie nachzudenken, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen rationalen Entwicklung zu geben. Das erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
…perspektivni putj.“

Erzähler:
Hier aber zeigt sich das eigentliche Problem: Haupthindernis, das einer solchen Lösung entgegenstehe, fasst Alexander Nikulin seine Beurteilung der Lage zusammen, liege nicht in der Frage, `Privatisierung oder nicht?´, sondern in der Existenz einer landwirtschaftlichen Bürokratie, welche die Ressourcen für sich nutze und andere Entwicklungen nicht zulasse – und dies nach Wladimir Putins ersten Reformen noch schlimmer unter Jelzins Präsidentschaft:

O-Ton 18: Nikulin, Forts.        1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Bedarf zwischendurch hochziehen, am Ende hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Ja wam daju…
„Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel. In der Nähe des Ortes, wo ich arbeitete, gab es eine heruntergekommene Sowchose. Vor einem Jahr wurde dort ein neuer Vorstand gewählt. Und wie so oft in Russland, wo so viel von der Leitung, dem Hausherrn usw. abhängt, schaffte er es, die Situation der Sowchose merklich zu verbessern. Der zentrale Punkt seiner Reform bestand darin, dass er eben genau diese symbiotische Beziehung zwischen den großen Strukturen der Kolchose und den Interessen der Familien an privaten Wirtschaften herstellte: Ihm fiel es schwer, Lohn in Geld auszuzahlen, also ging er zu Zahlungen in Naturalien über – Korn usw., das die `Kolchosniki´ bekommen konnten. Merklich stieg der Stimulus für die Arbeit, die Margen für die Wirtschaftsleistung stiegen an, und die Leute spürten innerhalb eines Jahres, dass sie besser leben konnten. In derselben Zeit – wie das oft vorkommt in dieser Zeit bei Gebieten, die sich in einem verwahrlosten Zustand befunden haben – fanden sich auf dem Gebiet dieser Sowchose ein paar private Bauern ein, „ffektive Bauern“, Chef-Bauern: Einer von ihnen war der Leiter, der andere der Staatsanwalt des Distrikts. Formal sind sie Bauern, in Wirklichkeit muss diese arme Kolchose ihnen die Felder bestellen.  Der neue Direktor der Kolchose erklärte, dass sie die Felder nicht weiter für diese Chefs bearbeiten würden, sondern sich um ihre eigenen Felder kümmern wollten. Buchstäblich zwei Monate danach betrieben die Chefs gegen den Direktor ein Strafverfahren wegen nicht gezahlter Steuern und erklärten, dass sie ihn vor Gericht bringen und ins Gefängnis setzen würden. Und hier geschah es: Die Leute solidarisierten sich massenweise mit ihrem Vorstand. Sie erklärten, dass sie ihren Vorstand nicht herausgeben würden, sie versammelten sich zu Demonstrationen im Distriktzentrum. Da haben sie, was an starken Orten geschieht: Örtliche ländliche Gemeinschaft gegen örtliche Bürokratie. Das ist sehr gefährlich.“
… otschen apastna.“

Erzähler:
Gefährlich, erklärt Alexander Nikulin, weil solche Konflikte, die es auch an anderen Orten gebe, den Keim bewaffneter Auseinandersetzungen in sich trügen,. Das, betont er, wäre die wirkliche Katastrophe!
Mit dieser Sicht steht der junge Forscher nicht allein. Boris Kagarlitzki, einer der auch im Ausland bekannten Reformlinken, bringt das Problem der weiteren Privatisierung in der Landwirtschaft deshalb auf den einfachen Punkt:

O-Ton 19: Boris Kagarlitzki        0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, agrarni wapros…
„Nun die Agrarfrage, ist auch wieder so eine Sache. Gott sei Dank ist diese Anzahl unverständiger Leute, die in Russland den Boden privatisieren wollen, nicht so hoch. Was das Volk dazu denkt, auch die Agrarpartei oder die Kommunisten ist für die Regierung nicht wichtig. Wenn sie der Privatisierung des Bodens erste Priorität einräumen würde, dann könnte sie das ohne weiteres durchziehen. Notfalls kauft sie sich die nötigen Stimmen in der Duma, auch die der Kommunisten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Risiken in Bezug auf die Privatisierung des Bodens so hoch sind, dass sie jede Initiative auf diesem Gebiet bremsen.“
… we etom planje.“

Erzähler:
Ob Wladimir Putin bereit ist, angesichts dieser Situation mit neuen Initiativen zur Privatisierung durchzustarten, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass die Realität, welche Forscher wie Alexander Nikulin beschreiben, sich still und stetig im Lande verbreitet – vielleicht sogar mit stillschweigender Billigung des neuen Präsidenten. Das wäre die pragmatische und friedlichere Variante.

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