Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4.5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Arbeitskämpfe in Russland

Arbeitskämpfe begleiten die Entwicklung des neuen Russland, seit Michail Gorbatschow sie Ende der 80er legalisierte. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Streikbewegung im Sommer 1998, als Grubenarbeiter der sibirischen Region Kusbass, unterstützt durch streikende Lehrer, Schüler und Studenten, die Gleise der transsibirischen Eisenbahn und die große Ost-West-Magistrale des Fernverkehrs durch Besetzung blockierten. Ihre wichtigste Forderungen lautete: „Nieder mit Jelzin!“ Wie entwickeln sich die Arbeitskämpfe heute, nachdem Jelzin den Weg für seinen Nachfolger Putin freigemacht hat? Kai Ehlers hat sich im Lande umgehört.

O-Ton 1: „Miting“ vor der Fabrik S.I.L.        1,00
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Regie-Stichwort: „Megaphon“ vorübergehend hochziehen, abblenden

Erzähler:
Straße, Megafon „Daragie Tawarischtschi…
Moskau. „Miting“ auf einem Platz nicht weit von den Toren des Automobilwerkes S.I.L., der „Fabrik namens Lichatschows“. Mit ca. 23.000 Beschäftigten ist es das größte Werk Moskaus. Es gilt als das Paradebeispiel für Bürgermeister Luschkows Wirtschafts- und Sozialpolitik: 1996 erwarb die Stadt Moskau die Mehrheit der SIL-Aktien, um den drohenden Bankrott des Werkes abzuwenden. Seit die Stadt Haupteigentümer des Werkes ist, ist der vormalige monatelange Zahlungsverzug beim Lohn auf gelegentliche Verzögerungen zurückgegangen. Mit einem durchschnittlichen Lohn von 2500 Rubel, das sind  fünfundzwanzig Deutsche Mark und Hilfsarbeiterlöhnen bei 1000 Rubel, also ca. 10 Mark, liegen die Löhne jedoch immer noch am Existenzminimum:
Megaphon

Erzähler:
Zum „Miting“ aufgerufen hat die „Russische Kommunistische
Arbeiterpartei“.

O-Ton 2: Miting. Forts.    2,15
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, bei „Rossiski kommunistitschiski“ kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, unter Erzähler auslaufen lassen

Erzähler:
„Rossiskki kommunistitscheski…
In einem Flugblatt Nr. 88, das die Redner in immer erneuten Varianten kommentieren, wendet sie sich an die Arbeiter und Arbeiterinnen der Automobilfabrik:

Zitator:
„`Towarischtschi´, Kollegen Genossen der Automobilfabrik!
Beim Überschlagen der Ausgaben für die Sommerferien und für die Schule unserer Kinder sehen wir, dass die Preise aufs Neue für alles gestiegen sind. Die Regierung aber redet uns hartnäckig die Notwendigkeit der Verteuerung der Mieten, der kommunalen Gebühren, der Heizung, des Verkehrsmittel, des Benzins und der Preise ein.
Glauben Sie, dass die gegenwärtige Regierung Ihre Interessen schützt und nicht die der Eigentümer? Welche Art Eigentümer sehen wir heute? Alles, wozu sie in der Lage sind, das ist: Staatliches Eigentum in ihre Taschen zu schaffen, es gnadenlos auszubeuten, ohne einen Pfennig für Renovierung und Entwicklung zu vergeuden (Beispiele: Fabriken und Ölgewinnung, Schiffe und Fernsehtürme) und wenn eine Katastrophe geschieht, die Kräfte des Staates dorthin zu werfen, die Armee, den Katastrophenschutz, Mittel und Budgets, das heißt, unser aller hart erarbeitetes Geld. Für die größten Bourgeois von ihnen hat die bourgeoise Regierung die Steuern soeben um das Dreifache gesenkt (von 30% auf 13%).
Finden Sie nicht, Kollegen, dass es schwer ist, all diese „Borrissowitsche“ und „Abramowitsche“ im Nacken zu haben? Wenn sie es nicht schwer finden, dann gehen sie ruhig an den Mitings und den Mahnwachen vorbei. Wenn diese Last Sie aber körperlich oder moralisch bedrückt, dann schließen Sie sich dem allgemeinen Kampf der Arbeiter für ihre Rechte an.“
abebbendes Megaphon, Straße

Erzähler:
Etwa 50 Menschen haben sich auf dem Platz eingefunden, die meisten von ihnen Mitglieder der Partei. Die Redner wettern gegen „Borrissowitsche und Abramowitsche“, die Synonyme für die neuen Russen und die sogenannten Oligarchen. Arbeiter von SIL kommen nicht auf den Platz; in mehreren Gruppen beobachten sie von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, getrennt durch den lauten Verkehr, das Geschehen. Ihre Kommentare sind nicht gerade schmeichelhaft für die Veranstalter des „Mitings“:

O-Ton 3:  Sil Arbeiter        0,46
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, zwischen beiden Erzählern vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Nemnoschko smeschno…
„Ein bisschen lächerlich“, meint einer, „Pensionäre, die schon nicht mehr arbeiten, die schafft man hierher zum `Miting´. Zu Haus haben sie nichts zu tun, wissen nicht, wohin mit ihrer Energie. Nichts von Interesse. Schauen Sie, wo sind die Leute? Niemand kommt. Und das trotz der Flugblätter.“

Regie: vorübergehend hochziehen

Erzähler:
„Die Arbeiter glauben einfach nichts mehr“, sagt ein anderer. „Wie oft hat es das schon gegeben. Und dann nichts.“
…a netschewo.“

Erzähler:
Was da auf dem Platzt durchs Megaphon dröhnt, geht über ihre Köpfe hinweg. Ihre Forderungen sind klar und direkt:

O-Ton 4: Forts. SIL-Arbeiter        0,13
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Schto nam nada…
„Was wir brauchen“ meint ein weiterer aus der Gruppe: „Ganz einfach: Lohn für unsere Arbeit. Sonst brauchen wir gar nichts. Und dass man uns achtet.“
…uwaschennije bila.

Erzähler:
Aber nicht alle Teilnehmer des „Mitings“  sind Pensionäre. Und auch nicht alle sind Mitglieder der „Russischen kommunistischen Arbeiterpartei“. Mit von der Partie sind auch Vertreter der Gewerkschaft „Saschita“, die neuerdings als radikale Kraft, auch bei SIL, von sich reden macht. Einer von ihnen ist Wassili Schoskariow, Facharbeiter bei SIL. Wassili Schoskariow ist betrübt, dass seine „Silowzis“ trotz vieler Flugblätter nicht mehr als einen Beobachterposten auf der anderen Straßenseite einnehmen wollen:

O-Ton 5: Wassili Schoskariow, SIL-Arbeiter,     0,28
Gewerkschaftsaktivist
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jesli chotschisch…
„Siehst Du da drüben? Im Cafe – Silowzis. Da drüben beim Warenhaus `Klon´ – Silowzis. Weiter da hinten bei dem Imbissstand – Silowzis. Man müsste rübergehen, sie fragen, warum sie nicht herkommen – obwohl ich doch anderthalb tausend von diesen Flugblättern im Betrieb verteilt habe.“
…Megaphonproben.

Erzähler:
Wassili Schoskariow ist das, was er selbst einen „denkenden Arbeiter“ nennt. Als „denkender Arbeiter“ ist er nicht einverstanden mit den aus der Privatisierung bei SIL entstandenen Verhältnissen, die den Großaktionären Einfluss und unkontrollierbare Dividenden bringen, den Arbeitern aber weiteren Lohnverfall, Abbau sozialer Leistungen und die ständige Ungewissheit, ob sie morgen überhaupt ihren Lohn ausgezahlt bekommen. Obwohl die Stadt jetzt Hauptaktionär von SIL ist, so Schoskariow, habe sich für die Belegschaft doch wenig geändert:

O-Ton 6: Schoskariow, Forts.        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja, kak rabotschi…
„Ich als denkender Arbeiter komme zu dem Schluss, das SIL für unseren Bürgermeister Luschkow allein als Reklame wichtig war.  Das war eine Zeit, als er Ambitionen hatte, auf die allgemeine politische Arena Russlands hinauszugehen, und zeigen musste, wie er als Hausherr zu wirtschaften versteht. Deshalb übernahm er das Aktien-Kontrollpaket von SIL und investierte in SIL. Wir kriegten Bankkredite. Aber das war 1996; jetzt ist immerhin schon 2000, aber SIL ist nicht profitabel geworden. Es ist alles Reklame.“
… reklamny.“
Erzähler:
Von dem Lohn bei SIL, so Schoskariow, könne doch niemand recht existieren. Er selbst, ledig, komme mit 2500 Rubel einigermaßen hin; Urlaub, Reisen oder längerfristige Anschaffungen schon nicht mehr gerechnet. Aber wie sollten ganze Familien von 1000 Rubel existieren!

O-Ton 7: Schoskariow, Forts.        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Otschen trudna…
„Sehr schwer haben es die Silowzis, von denen beide in der Fabrik arbeiten, Mann und Frau. Und wenn dann noch drei Monate nicht gezahlt wird, wissen sie überhaupt nicht mehr, wovon sie leben sollen. Sie existieren nur, indem sie sich von ihrem eigenen Geld, das sie schon erarbeitet haben, einen, wie es heißt, außerordentlichen Vorschuss erbitten, zwei- dreihundert Rubel. Da müssen sie erst zum Vorarbeiter, dann zum Hauptbuchhalter, dort kriegen sie, wenn Geld vorhanden ist, ihre Unterschrift, werden ausgezahlt, können überleben.“
…wyschewajet.“

Erzähler:
Aber selbst der außerordentliche Vorschuss würde nicht reichen, müssten die Arbeiter tatsächlich von ihrem Lohn leben:

O-Ton 8: Schoskariow, Forts.        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja spraschiwaju…
„Ich frage die Kollegen: Wie lebst Du? Ihr beiden arbeitet hier und ihr habt Kinder. Er antwortet mir: Naja, ich habe noch Verwandte im Dorf. Ich habe dort noch zwei Säcke Kartoffeln, sieben Kisten Kohl. In der Region ist es noch schlechter. Dort gibt es Lohnrückstände von einem halben Jahr, in einzelnen Fällen sogar zwei Jahre. Und das allgemeine Lohnniveau ist um vieles niedriger, in Nischninowgorod liegt der mittlere Lohn bei 1500. Allerdings haben sie auch engere Beziehungen zum Lande.
…priwjasenje semlje.“

Erzähler:
Zu den Bedingungen, mit dem niedrigen Lohn überleben zu können, gehört auch das nach wie vor existierende System der Sonderzuwendungen oder kostenlosen Unterstützung aus dem betrieblichen Sozialfonds, den die Gewerkschaften verwalten:

O-Ton 9: Schoskariow, Forts.        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na prafessich…
„In schwierigen Produktionsbereichen, also wo mit Farben gearbeitet wird in der Gießerei usw., da gibt es Milch, einen Liter am Tag. Es gibt auch Spezialkleidung. Das ist wie früher. In den großen Betrieben wie unserem hat sich das nicht geändert. Wir haben Kantinen. Es gibt Anlagen für Sport und Kultur. Außerdem gibt die Gewerkschaft für Kinderferien im Sommer und im Winter bis zu 80% der Kosten als Subventionen. Wenn ich fahren würde, müsste ich 20% bezahlen.“
..etich fondow.“

Erzähler:
Viele Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik aber, so Wassili Schoskariow, kennen ihre Rechte nicht. Sie kommen für drei, vier Monate als Saisonarbeiter aus den russischen Regionen, aus Ländern der GUS, aus Moldawien. Rund 1000 Soldaten werden Monat für Monat als Hilfsarbeiter eingesetzt. Sie bekommen 30 Rubel im Monat.
Wassilis Tätigkeit als Gewerkschafter besteht unter diesen Umständen darin, wenn er nicht ausnahmsweise für ein „Miting“ agitiert, den Kollegen und Kolleginnen bei der Stellung von Anträgen für die „außerordentlichen Vorschüsse“ zu helfen. „Teewasserpolitik“ nennt er das in einer klassischen leninistischen Formulierung. Streiks hat es bei SIL zuletzt 1996 gegeben, seitdem nur einzelne spontane Arbeitsverweigerungen. In diesem Jahr sei die Unruhe gestiegen, meint Wassili, aber die offizielle Gewerkschaft sei angepasst und passiv. Deswegen haben er und einige Kollegen sich in der Gruppe „Saschita“ zusammengeschlossen, um die Interessen der Kollegen besser vertreten zu können. Die Erfolgsaussichten beurteilt er sachlich:

O-Ton 10: Schaskariow, Forts.        0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja dumaju na…
„Ich denke wir haben heute einen Stillstand oder sogar einen Niedergang der Aktivitäten, insgesamt der Arbeiterbewegung. Gründe dafür gibt es viele. Darüber will ich jetzt nicht reden. Aber es gibt einzelne sehr radikale Auftritte. So im Wyborger Chemiefaserwerk in Leningrader Bezirk, wo die Arbeiter den Betrieb sogar besetzt haben. Es gibt einige Betriebe, wo die Arbeiter aktiv aufgetreten sind und die Betriebe in ihre Hände genommen haben.“
…swoi ruki.”

Erzähler:
Geradezu düster jedoch wird Wassili, als er auf die von der Regierung beabsichtigte Novellierung des Arbeitsgesetzes kommt:

O-Ton 11: Schoskariow, Fort.        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ispolsujutsja…
„Heute gilt noch der alte Kodex aus der sowjetischen Zeit. Obwohl daraus schon viele Teile gestrichen wurden, gibt der den Arbeitern noch ziemlich viele Möglichkeiten Widerstand zu leisten. In dem Kodex heißt es, dass Lohn regelmäßig zu zahlen ist, dass schwere Berufe Vergünstigungen bekommen, dass die Arbeit der Frauen begrenzt sein muss, Nachtarbeit vor allem, überhaupt, dass die Arbeitszeit streng reguliert wird, dass es für Schichtarbeit der besonderen Zustimmung der Gewerkschaft bedarf usw. Das steht der Regierung, die heute die Wirtschaft ankurbeln will, und die andere als gewaltsame Mittel dafür nicht kennt, im Wege, deshalb wollen sie ein schärferes Arbeitsgesetz, um die Lohnarbeiter zu härterer Arbeit zu zwingen, um ihnen den sozialen Schutz zu streichen, die Gewerkschaft auszuschalten.
…ja ponimaju ich.“
Erzähler:
„Ich verstehe sie“, setzt Wassili Schaskariow hinzu, „denn wir leben in einer neuen Zeit: Privateigentum ist aufgekommen, die Wirtschaft, die Arbeitsbedingungen haben sich verändert.“ Seine Organisation habe daher einen eigenen Entwurf vorgelegt, der mehr Rechte für die Arbeiter fordere. Auch andere Entwürfe wurden noch vorgelegt, insgesamt sind es jetzt, mit dem der Regierung, vier. So konnte der Entwurf der Regierung nicht einfach die Duma passieren und die Entscheidung steht erst für den Herbst an.
Bei Jefgenia Gwoisdek kann man den Ablauf des „Mitings“ und Wassili Schoskariows Kommentare in den statistischen Gang der Dinge einordnen. Jefgenia Gwoisdek, eine junge Frau von eben über zwanzig Jahren, leitet eine „Agentur für Arbeits- und Sozialinformationen“, deren Direktorin sie ist. Einmal im Monat gibt die Agentur eine „Gewerkschaftliche Umschau“ heraus, die eine penible Übersicht über Qualität und Quantität der Arbeitskämpfe in Russland zusammenstellt.
Danach sind offene Streiks in Russland insgesamt von 1998 auf 1999 um ein Drittel, im ersten Halbjahr 2000 noch einmal um das Zehnfache zurückgegangen. Über das zweite Halbjahr liegen noch keine Auswertungen vor. Die Chefin der Agentur erklärt das so:

O-Ton 12: Jefgenia Gwoisdek, Direktorin     1,54
der „Agentur für Arbeits- und Sozialinformationen“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, jest metodi…
„Nun, es gibt offizielle und nicht offizielle Methoden, die offiziellen kennen alle und niemand interessiert sich dafür. Ja klar, schon seit einem Jahr organisiert die „Föderation der neuen Gewerkschaften“, also die offizielle Gewerkschaft, keine allrussischen Streiks mehr. Kleinere Aktionen finden ebenfalls keine Aufmerksamkeit. Die größten Aktionen des letzten halben Jahres von der Gewerkschaft Transport und Verkehr durchgeführt, das sind vor allem die Beschäftigten der städtischen Betriebe, Busfahrer, Tralleybusfahrer usw. Sie befanden sich in der Tat unter schwierigsten Bedingungen, das sollte die größte Aktion des letzten halben Jahres werden. Sie können sich ja selbst vorstellen, was bei deutschen Arbeitern geschehen würde, wenn sie ein halbes Jahr keinen Lohn bekämen. Aber unter der Leitung der `Föderation´ entschied diese Gewerkschaft, nicht zu streiken, sondern nur fünfminütige Mahnwachen durchzuführen. Das ist einfach elend, absolut lächerlich. Das war die größte Aktion des letzten halben Jahres! Die radikalsten Aktionen gab es von neuen Gewerkschaften, die von einzelnen Arbeitern durchgeführt wurden. Kürzlich erfuhren wir von einer Schweinefabrik in Rjasan, die von einer westlichen Organisation gekauft werden sollte. Weil die Arbeiter fürchteten, dass man sie rauswerfen würden, waren sie dagegen, dass der Eigentümer des Betriebes wechsele. So besetzten sie den Betrieb und ließen die neuen Eigentümer einfach nicht rein.
…nowi sobstwenika.“

Erzähler:
Die „Agentur für Arbeit und Soziales“ unterscheidet verschiedene Arten von Konflikten:

O-Ton 13: Gwoisdek, Forts.        1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wosnawnom…
„Im Großen und Ganzen, man kann sagen 90% der Konflikte drehen sich um die Zurückhaltung von Löhnen und um ihre Höhe. Auch heute noch. Das ist der populärste Konflikt der letzten fünf Jahre, denn an einigen Orten hat sich die Verzögerung in der Auszahlung erneut bis auf  sieben oder acht Monate erhöht. Hin und wieder gibt es auch politische Forderungen. Die letzten gab es zu Zeiten Jelzins, dessen Rücktritt gefordert wurde. Jetzt gibt es praktisch keine. Weitere Forderungen sind branchenspezifisch, bessere Arbeitsbedingungen etwa, also Standardforderungen. Im letzten Jahr gibt es eine neue Tendenz: Konflikte um die Verteilung des Eigentums. Die Situation ist ziemlich einfach: Entweder die Arbeiter fürchten, dass man sie rauswirft, oder der alte Eigentümer versucht sie gegen den neuen aufzuhetzen, um auf diese Weise etwas zu ändern. Das heißt, die Arbeiter werden einfach nur Figuren im Spiel um das Eigentum.“
…sobwenosta.“

Erzähler:
Keineswegs nur im Fall des Zellulosekomibats in Wyborg, fährt Frau Gwoisdek fort, habe sich der Zusammenstoß zwischen den Arbeitern und dem neuem Eigentümer zum bewaffneten Konflikt ausgeweitet. Ähnliche Vorfälle gebe es auch in anderen Regionen Russlands. Eine allgemeine Zunahme der Bereitschaft, Probleme mit der Faust zu lösen, will die junge Direktorin darin aber nicht sehen:

O-Ton 14: Gwoisdek, Forts.        1,04
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Smotrja kakoi…
„Es kommt darauf an, welche Periode man betrachtet. Nimmt man die letzten fünf Jahre, dann wächst meiner Einschätzung nach die soziale Spannung in Russland nicht. Man kann natürlich noch nach einzelnen Regionen unterscheiden, dann ist es hier ein bisschen besser, dort ein bisschen schlechter, aber im Durchschnitt ist die Lage einigermaßen stabil, wenn man denn von Stabilität reden will – ich würde es einfach Apathie nennen. Auch gibt es verschiede  Arten der Faust: Wenn wir von organisiertem Protest sprechen, dann gibt es da nichts; die etablierte Gewerkschaft ergreift einfach keinerlei entsprechende Maßnahmen und für einfache spontane Aufstände ist die Situation nicht schlecht genug, jedenfalls nicht für russische Arbeiter, die einiges gewohnt sind.“
…priwigli.“

Erzähler:
Das klingt wie die Prognose einer dauerhaften sozialen Stagnation. Bei der Frage nach der Zukunft, die sich aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Putins ergeben könnte, kommt jedoch auch die so sehr auf Objektivität bedachte junge Direktorin in Unruhe:

O-Ton 15: Gwoisdek, Forts.        1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzen:
„Wy snaetje a tom…
„Kennen sie den Konflikt um die Schaffung der Sozialsteuern? An ihm können Sie am besten erkennen, was der Staat will und was die Gewerkschaften wollen: Der Staat entschied, die soziale Unterstützung zu optimieren. Sie wissen ja, dass jeder Bürger Russlands Kindergarten, medizinische Versorgung, Reisen, alles das praktisch umsonst bekommt. Der Gewerkschaften verwalten dieses System. Putin entschied dieses System umzubauen. Seine Hauptbegründung ist, dass die Gewerkschaft nicht von Mitgliedsbeiträgen, sondern von den Geldern der Sozialversicherungen lebt. Deswegen entschied er Druck auf die „Föderation der freien Gewerkschaften“ auszuüben und ihnen diese Einnahmequelle zu entziehen.“
…dachodow.“

Erzähler:
Eine paradoxe Situation sei entstanden, findet die junge Frau: Putin gehe es im Grunde darum, die soziale Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, was auch im Interesse der Gewerkschaften liegen müsse; ausgerechnet die aber träten nun entschieden gegen die neue Regelung auf. Und in der Tat: Die Gewerkschaften entfalten eine Kampagne gegen das neue Gesetz. Ihre Begründung ist der Putins naturgemäß entgegengesetzt. Oleg Neterebski, Vizepräsident des Moskauer Verbandes der „Föderation“ erklärt die Haltung seines Verbandes so:

O-Ton 16: Oleg Neterebski,         0,34
Vizepräsident der Moskauer Sektion der „Föderation freier Gewerkschaften Russlands“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Byl danno obeschannije…
“Die Regierung hat versprochen, dass das Gesetz zu keiner Einschränkungen der sozialen Programme führen werde. Tatsächlich wurde schon jetzt die Finanzierung von Kindersportschulen liquidiert;  liquidiert wird die Ausgabe von Mitteln für die Erholung von Arbeitern und anderes mehr. Sie sagen das eine und tun das andere.“
…drogoje.“

Erzähler:
Und etwas müsse man klarstellen, was dem Ausländer nicht ohne weiteres verständlich sein könne: In der Sowjetunion sei nur ein kleiner Teil der Arbeit in Geld entlohnt worden, andere, weitaus größere Teile der Arbeit wurden in Form der sozialen Fonds vergütet, aus denen die Menschen medizinische Versorgung für sich und die Familie, Urlaub, Kindergärten, Jugendlager usw. bis hin zum kostenfreien Begräbnis beziehen konnten – scheinbar kostenlos,  aber eben nur scheinbar, denn diese Sozialfonds wurden ja vom Ertrag ihrer Arbeit aus dem Betriebsvermögen getragen. So ein System hatten wir früher, so Oleg Neterebski, jetzt fällt das alles auseinder:

O-Ton 17: Neterebski. Forts.    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas faktitschiski…
„Nach der sowjetischen Zeit sind die Einkommen rasant gefallen, aber es blieben die sozialen Fonds, die der Mensch, wie arm auch immer, noch nutzen konnte. Durch die jetzige Entscheidung werden diese Fonds praktisch beseitigt, aber das Einkommen bleibt so niedrig wie zuvor. Wenn das wenige Geld, das auf Grund geringer Lohneinkommen in die staatlichen Fonds kommt, auch noch für andere Dinge ausgegeben wird wie zum Beispiel für die Bewältigung solcher Katastrophen wie des Unterganges der Kursk, des Brandes  im Moskauer Fernsehturm „Ostankino“ – und so etwas haben wir mit dem Pensionsfond leider bereits erlebt – dann bedeutet das, das diejenigen, die das Geld erarbeitet haben, es praktisch nicht mehr nutzen können. Das ist alles.“
…eta swjo.“

Erzähler:
Mit diesen Begründungen konfrontiert, kommt die Chefin der „Agentur für Arbeit und Soziales“ zu einer Aussage, mit der sie nahezu ihr gesamtes Gewerbe in Frage stellt, die aber typisch ist für die heutige russische Situation:

O-Ton 18: Jefgenia Gwoisdek, Forts.        0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, wtoij situatije…
„Nun, die Lage, in der sich der russische Mensch des statistischen Durschnitts heute befindet, ist derart schlecht, dass er kaum eine reales Gefühl dafür hat, ob sie durch das, was die Regierung tut ein bisschen schlechter oder ein bisschen besser wird; die allgemeine Krise ist derart stark, dass Aktivitäten der Regierung im Prinzip nichts daran ändern können. Deshalb nehmen die Arbeiter real überhaupt nichts wahr. Und da sie nun einmal nichts wahrnehmen, können wir auch nicht sagen, ob es gut oder schlecht ist, was die Regierung tut.“
…prawitelstwo.“

Erzähler:
Das neue Arbeitsgesetz veranlasst die junge Direktorin zu der sarkastischen Aussage:

O-Ton 19: Jefgenia Gwoisdek, Forts.        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Jesli smotritj…
„Wenn man es vom Sandpunkt der Menschenrechte aus betrachtet, dann wird es tatsächlich schlecht, denn die Arbeiter werden noch schlechter leben, und die Situation als ganze verschlechtert sich. Ich sage: Im Prinzip wäre dieser Kodex nicht schlecht für einen Hitler in Deutschland oder Russland unter Stalin, wenn alle zur Fabrik gehen, weil man muss, weil es keinen Ausweg gibt. Aber jetzt haben wir eine andere Situation. Unter diesen Bedingungen ist der Kodex deshalb einfach unannehmbar, denn er bedeutet letztlich einfach, dass die Gewerkschaften als Struktur liquidiert werden, überhaupt.
…strukturu. wabsche.“

Erzähler:
Gewerkschaftliche Interessen und Interessen der Regierung, so Jefgenia Gwoisdek, stehen im aktuellen Russland unversöhnlich gegeneinander:

O-Ton 20: Gwoisdek, Forts.        0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Profsojusni Kodex…
„Die volle Erfüllung des gewerkschaflichen Kodex wäre der Bankrott des Staates, alle Unternehmen müssten schließen, denn es ist nicht möglich, den Arbeitern die geforderte Lebensqualität zu gewähren. Bei voller Umsetzung des Regierungsentwurfes würden die Arbeiter in absolut unmenschliche Bedingungen gezwungen. Deshalb kann man weder den einen noch den anderen akzeptieren.“
…prinimat nelsja.“

Erzähler:
Deutlicher lässt sich das Patt kaum noch benennen, in dem sich die Regierung Wladimir Putins und die arbeitende Bevölkerung Russlands heute gegenüberstehen. Nur die offiziellen Meinungsforscher vom „Allrussischen Zentrum für die Untersuchung der öffentlichen Meinung“, kurz ZIOM genannt, die schon Gorbatschows Auf- und Niedergang mit statistischen Werten versorgten, können es noch deutlicher sagen: Nach ihren Daten steht Wladimir Putins Rating, also seine Sympathikurve – zwischen sechzig und fünfundsechzig Prozent schwankend – nach wie vor unverändert hoch. Alternativen zu Putin,  meint Juri Lewada, Direktor des Instituts, würden nicht formuliert:

O-Ton 21: Juri Lewada, Direktor         0,44
des „Allrussischen Zentrums für die Untersuchung der öffentlichen Meinung“, ZIOM
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ne kakich aktiwnich…
„Es sind keinerlei aktive soziale Bewegungen zur Zeit erkennbar. Wir warten üblicherweise ja sehr auf neue Streiks usw. Zur Zeit gibt es dafür geringe Chancen, weil im Ganzen die Situation mit dem Lohn besser ist als früher. Es gibt Zahlungsrückstände, aber weniger als früher. Das hängt damit zusammen, dass die Regierung Öl-Dollars hat; mit diesen Dollars und mit Hilfe der Überweisung einiger Rubel kann sie einige Löcher stopfen. Das ist nicht besonders hoffnungsvoll nicht sehr seriös, aber es macht sonst niemand etwas anderes.“
…ne sdjelajut.“

Erzähler:
Mit den Aktivitäten der neuen Gewerkschaft „Saschita“, mit der allgemeinen gewerkschaftlichen Opposition gegen die Sozialsteuer und gegen den neuen Arbeitskodex konfrontiert und auf die in gewerkschaftlichen Kreisen formulierte Erfahrung hingewiesen, dass gerade wirtschaftliche Entspannung die Arbeiter zu neuen Kämpfen aktiviere, weil es endlich etwas zu verteilen gebe, antwortet er:

O-Ton 22: Lewada, Forts.        1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We prinzipje…
„Im Prinzip ist das richtig – wenn man von seriösen Bewegungen mit seriösen Zielen spricht, mit Forderungen nach der Veränderung der Situation im Lande usw. Da war es in der Weltgeschichte in der Tat immer so und alle Umwälzungen sind dann entstanden. Aber bei uns ist es nicht so, nicht eine Spur davon ist zu sehen, keine seriösen Bewegungen und auch niemand, der sie organisieren könnte. Ich denke, das ist die nächste Phase, wenn sich in den nächsten Monaten die Beziehung der Menschen zur Regierung und zum Präsidenten verändert hat, wenn nämlich die Ressourcen, die er zu Anfang erhalten hat, verbraucht sind, aber die Möglichkeiten, irgendwelche geräuschvollen Abenteuer und politischen Effekte aufzubauen, nicht mehr gegeben sind. Einen neuen Krieg anzufangen – dafür ist niemand da; den jetzigen Krieg fortzusetzen – dafür reichen die Kräfte nicht und es gibt keine Ergebnisse. Welche Auswege  gefunden werden können, ist nicht klar und auch nicht klar, wer sie finden könnte.“
…moschet sdjelatj.“

Erzähler:
Änderungen der Situation erwartet Juri Lewada nur von oben, direkt aus den herrschenden Kreisen. In der Bevölkerung, so Russlands etabliertester Meinungsforscher, fehle jede Tradition und jede dazu fähige Organisation. Was gegenwärtig von kommunistischen Splittergruppen an „Mitings“ durchgeführt werde, sei weit von irgendeinem Einfluss auf die wirklichen Ereignisse im Lande entfernt.

O-Ton 23: “Miting”, Megaphon        1,37
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen (bis 0,40)

Erzähler:
Megaphon…
Das ist auch die Meinung von Oleg Babitsch, gesamtrussischer Koordinator der Gewerkschaft „Saschita“, der als Beobachter an dem „Miting“ teilnimmt. Solche abstrakten Aktionen  müsse man sich sparen, findet er. In den Betrieben selbst müsse man arbeiten, dafür jedenfalls mache „Saschita“ sich stark. Zum Beispiel die letzte Aktion bei GASPROM in Astrachan, wo es um Lohn, Arbeitsschutz und die Einführung ökologische Schutzmaßnahmen ging:

Regie: bei 0,40 (Lachen) vorübergehend ( 2 sec.) hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Es war ein voller Erfolg. Alle unsere Forderungen wurden erfüllt. Eine wichtige Rolle spielten dabei übrigens ungefähr zweihundert Telegramme, die unsere Leute erhielten, darunter viele aus dem Westen. Das hat ihnen sehr geholfen, weil sie auch alle an die Regierung gingen. Diese Solidarität hilft; die Leute fühlen sich geschützt, sie sind nicht allein. Sie befinden sich in der tiefen Provinz, aber sie wissen, die Welt weiß von uns. Das ist toll.“
Megaphon

Regie: vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, gegen Ende des Erzählers allmählich hochziehen.

Erzähler:
Russlands Zeichen stehen auf soziale Umverteilung. Welche der gewerkschaftlichen Linien sich dabei durchsetzt, die neue Radikalität von Organisationen wie „Saschita“ oder die sozialpartnerschaftliche Linie der „Föderation der freien Gewerkschaften Russlands“, hängt davon ab, welchen Kurs die Wladimir Putin einschlägt, noch mehr allerdings davon, ob Russland auch in Zukunft in den Genuß teurer Öl-Dollars kommt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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