Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin, Zitator
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtlänge der O-Töne: 21,29

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Achtung: zwei Bobbies
Auf Bobby eins befinden sich die vier Takes (1 – 4) für die Musik, die eingespielt werden soll.
Auf Bobby zwei befinden sich alle Sprachtöne
O-Ton 3 muss durch die angehängte „O-Ton 3 Korrektur“ ersetzt werden

Vorschlag für evtl. notwendige Kürzungen:
O-Ton  11

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Altai – Wiege der Menschheit und letzte Zuflucht?

Musik 1:        2,27
Regie: O-Ton kommen lassen, ausreichend lange stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Altai – fremde Töne, Land der Sehnsucht. Ein Bergland von den Ausmaßen Mitteleuropas, eine  Nische zwischen den Welten. Der mächtigste Gipfel des Altai, Ak-Sümer, russisch Belucha im Hoch-Altai, markiert mit seinen 4505 Metern Höhe den Kreuzpunkt der Grenzen von vier Ländern aus vier Himmelsrichtungen: Im Osten die mongolische Hochebene bis zur Wüste Gobi, im Süden China und Tibet, im Westen die Steppen Kasachstans. Der nördliche Altai gehört zum heutigen Russland, durch dessen sibirische Tiefebene sich die gewaltigen Flüsse Irtysch, Ob und Jennessej ihre langen Wege zum nördliche Eismeer suchen. Seit 1991, dem Datum der Auflösung der Sowjetunion, wird auch dieses lange verschlossene Stück Erde wieder zugänglich. Die Republik Altai, geteilt in den industrialisierten Vor-Altai mit der Hauptstadt Barnaul und den Hoch-Altai mit der Bezirksstadt Gorno-Altaisk, Berg-Altai, gehört heute zur russischen Föderation. Die Republik verwaltet sich aber autonom und man besinnt sich wieder der eigenen Geschichte und der alten Traditionen des nomadischen Lebens, des Obertongesangs und des Schamanismus. Verehrer des Landes sprechen von der Schweiz Russlands. Gemeint ist damit vor allem Gorno-Altaisk, das bergige Hochland.

Regie: O-Ton hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zuerst kamen jedoch die Reformer, wie überall im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich. Sie brachten offene Grenzen, vor allem aber brachten sie den Impuls der Privatisierung. Er fand offene Ohren bei der mittleren Bürokratie, die sich Unabhängigkeit von Moskau, die selbstständige Nutzung ihrer reichen Erzvorkommen, Kohle und anderer Naturschätze und die Anbindung an westliches Lebensniveau erhoffte. Selbst im hohen Altai ist man reformwillig. Stolz führt Vincenti Tengerekow, leitender Mitarbeiter des Agrokombinats von Gorno-Altaisk, der örtlichen Agrarverwaltung sowjetischen Typs, westliche Gäste durch die Dörfer, um ihnen den Fortgang der Reform zu zeigen. Hin- und her geschüttelt auf unwegsamem Gelände erläutert er unterwegs im Jeep deren Ziele:

O-Ton 1: Vincenti Tengerekow,             0,59
Agrarkomninat in Gorno-Altaisk
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Jeep, „Predprejatii…
„Die Unternehmen sollen jetzt die Privatisierung durchführen, sich in Aktiengesellschaften umwandeln. Das betrifft Unternehmen der Weiterverarbeitung, Dienstleistungs-, Verkehrs und Versorgungsunternehmen. Die müssen dann entscheiden, ob sie im Kombinat bleiben wollen oder sich selbst organisieren. Auch Kolchosen und Sowchosen, also die Kollektivbetriebe, sollen sich umwandeln. Es wird kleine private Höfe geben. Auch die werden entscheiden müssen, ob sie rausgehen.“

Erzähler:
Dann werde es kein Kombinat mehr geben, setzt er fort, nur einzelne Assoziationen, Betriebe und Höfe. Das Kombinat werde sich in Ministerium für Landwirtschaft verwandeln.                            …kombinata njet.“

Erzähler:
Aber Vincent Tengerekow, obwohl von der allgemeinen Notwendigkeit der Reformen überzeugt, fürchtet doch, dass die Privatisierung für den Altai vielleicht nicht der richtige Weg sein könnte: Für seine eigene Zukunft ist ihm nicht bang, die werde sich im Rahmen des neuen Ministeriums vollziehen, meint er. Für die Bauern aber fürchtet er schlimme Folgen:

O-Ton 2: Tengerekow, Forts.        1,01
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, allmählich ausblenden

Übersetzer:
Jeep „Mi pereschili otschen mnoga…
„Wir haben schon sehr viele Reformen erlebt und alle wurden immer auf den Schultern der Bauern ausgetragen. Auch die neue Reform liegt wieder auf ihnen. Warum? Weil die Bauern nicht geschützt sind.  Wenn die Grubenarbeiter streiken, dann geht es um mehr Lohn. Wofür soll der Bauer streiken? Da gibt es nichts. Das ist seine spezifische Art der Arbeit. Die Kolchosen waren ein Schutz, da konnte man in einer Front auftreten. Aber jetzt, als Verkäufer von Waren, kennt man einander nicht. Man kann nicht gemeinsam auftreten. Einzeln ist man wehrlos. Das ist das Problem.“
…wot tschom problem wsja.“
Erzähler:
Deutlicher wird Edmund Voll, einer der vielen Russlanddeutschen des Altai, die Stalins Deportation hierhin verschlagen hat. Er ist Chef des Butter-Käse-Kombinats. Das Kombinat ist einer der größten Betriebe in Gorno-Altaisk, der mit seinen Produkten nicht nur Sibirien, sondern auch Zentralrussland beliefert. Kombinatschef Voll, der unmäßigen Hitze wegen hemdsärmelig unter einem altersschwachen Ventilator, bricht bei der Frage nach der Privatisierung in Lachen und Stöhnen zugleich aus:

O-Ton 3: Edmund Voll,
Chef des Butter-Käse-Kombinats               0,10
Regie: O-Ton mit Lachen kommenlassen, ganz stehen lassen,

Originalton:
Lacht, „Chotsche jest… no motsche njet –„
„Wir wollen es schon, aber wir können es nicht.“

Erzähler:
Um Butter und Käse privat rentabel produzieren zu können, erklärt Edmund Voll weiter, brauche man ein Minimum von fünfzig Kühen;  um fünfzig Kühe halten zu können, brauche man brauche Kannen, Töpfe, eine ganze Kanalisation und vor allem: Heu! Anders als in Deutschland wachse im Altai das Gras jedoch nur fünf Monate. Beim Vergleich mit der Schweiz stöhn der Direktor auf:

O-Ton 4: Voll, Forts.         1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Stöhnt „Ponimaetje, wy mne sadali….
„Sie stellen Fragen! Das ist so als ob man fragt, wie sich Antartktis und Nordpol voneinander unterscheiden: Ja, es scheint so, dass da Eis ist und dort auch, nicht? Aber ich glaube, dass die Arktis härter ist als der Nordpol – nein, nur geografisch, nur vom äußeren Bild her kann man den Altai mit der Schweiz vergleichen, auf keinen Fall aber in Bezug aufs Klima. Aber ein Vermögen haben wir in Gorno-Altai (Achtung: hier nicht „Altaisk“) Die ökologische Reinheit! Der Altai ist eine Zone, die noch geschützt ist vor dem Einfluss der Großkonzerne, Fabriken, der Gasgewinnung usw. In diesem Sinne haben wir einen großen Reichtum. Hier wachsen noch ungefähr 2000 geschützte Pflanzen, von ihnen sind mehr als 300 Heilkräuter. Wenn die Kühe diese Gräser fressen, unser frisches Wasser trinken, dazu noch die reine Luft und die Sonne – dann ist die Biomasse, die Bioqualität der Produkte dreimal höher als in der Schweiz.“
…dwa, tri rasa.“

Erzähler:
Edmund Voll hat Grund, diese Reinheit von Gorno-Altai (sic!) zu betonen: Sind die hässlichen Produkte der Industrialisierung in den letzten fünfzig Jahren doch von allen Seiten herangekrochen: Vom berüchtigten sibirischen Kusbass im Norden, aus dem kasachstanischen Karaganda im Westen haben sich die Kohlegruben bis nach Barnaul, Rubzowsk und andere Orte im westlichen Vor-Altai vorgefressen; die angrenzende kasachische Steppe wurden von den Sowjets, die Wüsten Gobi im Osten, die Takla Makan im Süden von der VR-China in atomares Versuchsgelände verwandelt. Und trotz seines Stolzes auf die ökologische Reinheit seiner Heimat gehört Edmund Voll doch zu den Befürwortern des noch in sowjetischer Zeit geplanten Staudamm-Projektes, das die Reformer nach 1991 mit Volldampf vorantreiben wollten, mit dem sie aber auf den Widerstand der Naturschützer stießen, die das Projekt als sowjetische Gigantomanie ablehnten.
Einer dieser Naturschützer ist Wassili Wassiljewitsch. Als junger Mann wanderte er aus dem russischen Stammland ein wie viele andere russische Kolonisten. Jahrzehnte war er leitender Zoo-Techniker der Republik Altai, deren oberster Tierhüter also und in dieser Funktion langjähriges Mitglied des regionalen Parteikomitees. Als Pensionär ist Fischen und Jagen heut seine Lieblingsbeschäftigung. Wassili Wassiljewitsch gehört zu denen, die den Altai für eine uneinnehmbare Burg halten. Er ist überzeugt davon, dass die Reformen der Perestroikajahre sich letztlich ebenso den natürlichen Gegebenheiten anpassen werden wie alle früheren Neuerungen es schon mussten. Seine Begründung ist einfach:

O-Ton 5: Zootechniker Wassili Wassiljewitsch,
Gorno Altaisk                              1,03
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A u nas jest juschneje…
„Bei uns gibt es südliche Bezirke, Kosch Agatsch, an der Grenze zur Mongolei zum Beispiel. Dort gibt es keinen Wald; leer alles dort, halbe Wüste. Es ist der Anfang der Gobi, die sich von uns aus in die Mongolei hinein erstreckt. Wie können Menschen dort in individuellen Einzelwirtschaften existieren, wenn sie sechzig Kilometer pro Tag nomadisieren!? Können sie nicht! Sie müssen zusammenhalten; sie haben keine andere Wahl. Im Sommer tief unten im Tal, im Winter oben auf den Bergen und das mit allem Vieh, die ganze Kolchose. Allein bist du verloren. Sie ziehen um, weil im Winter im Tal kein Vieh gehalten werden kann: Harte Winde, starke Kälte, bis zu sechzig Grad Minus. In anderen Regionen ist es ähnlich.
…priblisitelno tak.“

Erzähler:
Mit der nomadischen Lebensweise, die beste Lebensbedingungen für die Tiere sucht, hat die Urbevölkerung sich diesen Gegebenheiten angepasst. Russische Kolonisten besiedelten das Vorland und die Täler. Wassiljew erzählt, wie er in die Jurten geholt wurde. Er erzählt von der Gastfreundschaft der Altai-Nomaden, die keinen Gast, ohne ein Geschenk ziehen lassen, das man sich vorher aussuchen muss. Er berichtet von den Zeltgöttern der Altaier: „Sie wechseln sie, wenn sie sich als unfähig erwiesen haben“, schmunzelt er, „ein praktisches Volk.“

Musik 2: Maultrommel                        1,33
Regie: O-Ton unter dem Text allmählich kommen lassen, nach Textende kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen

Erzähler:
Allmählich trägt ihn die Erinnerung fort und ununterscheidbar vermischen sich Züge der Altainomaden mit denen der benachbarten Tuwa, Chakasen, Mongolen, Kasachen, Usbeken und mit seinen eigenen Touren als Tierwart in den Bergen, ebenso wie in den endlosen Steppen des Vor-Altai. Obwohl doch nur russischer Tierarzt, dazu leitender Funktionär der Partei, wurde er zu Hochzeiten, Geburten und Sterberitualen gerufen, feierlich und mit der gleichen Hochachtung wie die eingeborene Schamanen verehrt. Er taufte Kinder, er wurde als Arzt um Rat gefragt. Einige male half er sogar bei Geburten. Kommunismus und Schamanismus, das Siedlerleben russischer Kolonisten und einheimisches Nomadentum haben sich in seiner Person miteinander verbunden. Diese Mischung ist für eine schnelle Privatisierung nicht besonders geeignet.

O-Ton: Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Den Reformern folgten die Forscher und Forscherinnen. Seit zumindest der ehemalige sowjetische Teil, also außer dem Altai selbst auch Kasachstan und die von der Sowjetunion quasi besetzte Mongolei, wieder frei zugänglich ist, erlebt die Altaiforschung einen Aufschwung. Altai-isten verschiedenster Länder, allen voran – schon der Sprache wegen – Frauen und Männer des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes, studieren Geschichte, Kultur und die mögliche Bedeutung des Altai für die globale Entwicklung heute.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen

`Schon der Sprache wegen´, das bedeutet, in den Bergen des Altai werden die Sprachen der dort siedelnden Völker gesprochen: das turksprachige Altai-isch in verschiedenen Dialekten, diverse mongolische Varianten, Chakasisch, Tuwinzisch, Kasachisch, dazu usbekische, kirgisische und andere Dialekte. Russisch aber ist, bis auf die südlichen chinesischen Ausläufer des Altai, die ohnehin zur Zeit vom Westen her und aus Russland nicht zugänglich sind, auch heute noch die allgemeine Verkehrssprache. Für Sprachforscher ist der Altai eine Offenbarung, die tief in die Urgeschichte der Menschheit hineinführt.

Regie: Musik: Hochziehen, danach allmählich abblenden

Frau Dr. Eva Schaki aus Budapest jedenfalls ist begeistert über die neuen Möglichkeiten, ihren Forschungen jetzt nicht mehr nur theoretisch, sondern „vor Ort“ nachzugehen zu können. Sie hat sich auf den Altai spezialisiert, weil sie dort, wie sie sagt, das Gelenk findet, das die verschiedenen Teile der euroasiatischen Sprachentwicklung verbindet. Aus dem Altai, so Dr. Schaki, ziehen  die verschiedenen, miteinander zusammenhängenden Sprachlinien aus vorgeschichtlicher Zeit heraus in alle Richtungen:

O-Ton 6: Eva Schaki, Sprachforscherin aus Budapest     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß ausblenden

Übersetzerin:
„Die mandschurischen Tschungiten wanderten sehr weit nach Norden. Mit den alten Türken ist es ähnlich. Denken Sie nur an die Karaimen in Polen, an die Tschuwaschen, bzw. die Tataren-Baschkiren in Russland an der Wolga. Auch das Jakutische im Nord-Westen Sibriens ist eine Turksprache. Selbst in der Mongolei gibt es turksprachige Minderheiten.“
…minor turkey…. (abblenden)

Erzähler:
Es gebe einen gemeinsamen Schlüssel, so Dr. Schaki, der zu all diesen Sprachen führe, von den tungisischen Stämmen im Norden über das Türkische und Mongolische bis ins Ungarische hinein. „Es sind“, erklärt Dr. Schaki, „Sprachen mit derselben Struktur: Sie agglomerieren. Das heißt“, erklärt sie, „man bildet Sätze durch Anhäufung, man hängt die Suffixe ans Ende der Wörter. Im Grunde“, fasst sie zusammen, „denken die Menschen ähnlich:“

O-Ton 7: Frau Schaki, Forts.    0,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß abblenden

Übersetzerin:
„Since this area…
“Soweit es diesen Raum betrifft, ich spreche vom Steppengebiet Euroasiens, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Menschen in einer Art Netz miteinander lebten. Sie beeinflussten sich immer gegenseitig.“
…each other.“ (abblenden)

Erzähler:
Paläontologen, Ethnologen, Archäologen und viele andere Forscher und Forscherinnen durchstreifen den Raum in ausgedehnten Expeditionen, um dieses Netz zu erforschen. Seit der Öffnung des Altai 1991 geschieht das mit Unterstützung der UNESCO, die den Altai zum Weltkulturerbe erklärt hat. Entdeckungen wie die Saurierfriedhöfe in der Wüste Gobi, wie die vollkommen erhaltenen Mammuts im Permafrostboden Sibiriens, die dort offensichtlich von einem Moment auf den nächsten eingefroren waren, lassen die Erkenntnis aufkommen, dass das sibirische Zentralasien und als sein geografischer Mittelpunkt der Altai einstmals nicht nur für Großtiere und Urpflanzen, sondern auch für Vorläufer der menschlichen Rasse günstige, möglicherweise sogar besonders günstige Entwicklungsbedingungen boten.
Einer, der sich diesem Thema besonders gewidmet hat, ist der mongolische Archäologe und Anthropologe Belikt Lowzenwandon Besutow. Die Kompliziertheit seines Namens erklärt sich daraus, dass er nach alter Tradition dazu übergegangen ist, nicht nur Vor- und Vatersnamen, sondern auch seinen Stamm-Namen Besutow zu führen. Was Linguisten sich erschließen müssen, sieht er durch archäologische und anthropologische Funde erwiesen: Der Altai, meint er, war ein Schmelztiegel, wenn nicht gar der Ursprung all der Völker, die man heute in Euroasien kennt. Begeistert zeigt er seine neuesten Schädelfunde:

O-Ton 8: Belikt Lowzenwandon Besuto,
Anthropologe in Ulaanbaator    0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja magu pakasatj…
„Ich kann Ihnen mein Material zeigen, meine menschlichen Schädel, mein Material an menschlichen Knochen. Ich untersuche sie, ich vermesse die rassenmässigen Charakteristiken:
…karakteristiki.“ Papiergeraschel

Erzähler:
Bei diesen Worten wickelt er die sorgfältig ausgepackten Schädel aus, weist auf die Unterschiede der Schädelbildung hin: Breites Gesicht, flache Nase hier, hohe enge Stirn, hohe Nase dort. „Schon in der Bronzezeit lebten sowohl Mongoloide wie auch Europäide hier“, erklärt er, „genau wie heute.“ Auch heute finde man alle Typen in allen möglichen Mischformen im sibirisch-zentralasiatischen Raum. Sie kommen alle, so der Forscher, aus dem Raum des Altai. Endlich könne er das jetzt beweisen:

O-Ton 10: Belikt Lowzenwandon, Forts.    0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Swje Mongolowedi…
„Das sagen alle Mongoloweden: Es gibt eine große Familie der altai-ischen Sprachen. Das ist der kultur-historische, der geografische Raum der großen Steppe. Von Korea, von der nordchinesischen bis zur südrussischen Steppe, der ganze Steppenkorridor, war immer schon ein Siedlungsgebiet; nach Christi Geburt dann die Hunnen, Sembizen, Dschudjanen, Türken, Uiguren, Kirgisen, später die Mongolen, Tschingis Chan. Sie alle haben zeitweise über die Bewohner der Steppe geherrscht, Nomaden.“
…katschewnikami.“ Tür

Erzähler:
Prof. Alexander Fedotow, ein junger Bulgare mit Begeisterung für die neue Zeit, aber tiefem Verständnis für die Bedeutung von Traditionen, will noch weiter vordringen. Er versucht, den Mythos des Altai zu erfassen, der in seinen Epen, Gesängen und schamanischen Traditionen lebt. Prof. Fedotow forscht und lehrt an der Universität zu Sofia, verbringt aber viel Zeit auf Expeditionen in Korea, der Mongolei, Südrussland oder im Hoch-Altai. Er fand heraus, dass all die Gebiete durch gemeinsame mythische Motive miteinander verbunden sind; am Motiv dessen, was er die „Wunderbare Geburt“ nennt, wirbt er vor Kollegen und Kolleginnen für diese Sichtweise:

O-Ton 10: Prof. Fedotow, Alta-ist aus Bulgarien    2,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„So, the motive of miraculous birth…
“So ist das Motiv der wunderbaren Geburt also in Legenden weit verbreitet. Der Hauptcharakter solcher Inkarnationen ist üblicherweise himmlischen Ursprungs. Er kommt zur Erde herunter nach besonderen Angeboten und Gebeten, die von seinen zukünftigen Eltern vollbracht wurden. In der Regel sind diese Eltern extrem alt und können keine Kinder bekommen, aber in wunderbarer Weise geschieht es doch. Die Empfängnis geschieht durch Kontakte mit Sonnenstrahlen. Manchmal sind auch Wolken im Spiel, unbekannte Kräfte oder seltsame Kreaturen. Die Geburt geschieht normal aus dem Bauch der Mutter, aus dem Knie oder aus der Achselhöhle. Geburt aus dem Ei bedeutet himmlischen Ursprung, es ist ein Symbol für die Sonne. Der Hauptcharakter ist schön wie die Sonne oder hat einen strahlenden Körper oder ein solches Gesicht. Mythische Charaktere haben eine außerordentliche Kindheit, sie entwickeln sich sehr schnell, sie  und haben außerordentliche Kräfte. Vögel und wilde Tiere beschützen und ernähren sie. Später, wenn die Mythen in epische Erzählungen verwoben sind, ist dieses Motiv eines der wichtigsten. In all diesem gibt es eine große Übereinstimmung in den zentralasiatischen mongolischen, koreanischen und burjätischen Mythen. Das gibt Grund genug, Vergleichstudien zwischen koreanischen und altai-ischen Mythologien zu betreiben. Danke.“
…Thank you for attention”, Beifall

Erzähler:
Im Gespräch konkretisiert Prof. Fedotow, warum er nicht nur Mongolen, Türken, Mandschus, Tungisen, Tuwa, Kasachen und all die bereits von seinen Kollegen und Kolleginnen genannten Völker, sondern auch die Koreaner und selbst die Japaner dem mythischen Raum des Altai zuschlägt. „Bei meinen Forschungen fand ich erstaunliche Übereinstimmungen“, erklärt er:

O-Ton 11: Fedotow, Forts.     1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluss ausblenden

Übersetzer:
„All the things are…
“All diese Dinge sind sehr ähnlich und es sind Dinge, die alle sehr, sehr alt sind. Kann sein, dass sie mit diesen Menschen auf die Halbinsel kamen oder dass sie von Menschen hervorgebracht wurden, die dort schon lebten – so oder so: in dieser Periode war das Bewußtsein das gleiche, es war altai-isch. Danach erst wurden sie Konfuzianer, wurden sie Bhuddisten usw. In jedem Fall ist klar, dass der Altai eine Art kulturellen Zentrums für die Entwicklung vieler Zivilisationen war wie die mongolische, wie die türkische, wie die mandschurische, wie die koreanische. Ich fand auch sehr enge Verbindungen der altai-ischen Welt mit der tibetischen Zivilisation in der materiellen und in der spirituellen Kultur.“
…spiritual culture.“ (ausblenden)

Erzähler:
Über die Behringstraße, die seinerzeit noch passierbar gewesen sein müsse, so Prof. Fedotow, hingen auch die Indianer mit dem Altai zusammen. Davon ist er überzeugt. Gefragt, ob er den Klimaverschiebungen des vorgeschichtlichen Sibirien Bedeutung für seine Forschungen beimesse, antwortet er:

O-Ton 12: Fedotow, Forts.     1,06
Regie: O-Tom kurz steteh lassen abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da,da, da….
„Ja, ja, ja, ja, ja! Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber schließlich und endlich müssen die Wissenschaftler der unterschiedlichen Gebiete auf diese oder jene Weise wahrscheinlich ihre Entdeckungen vereinigen. Es ist durchaus möglich, dass bis zu einer Naturkastrophe im Raum des Altai ein in jeder Beziehung angenehmes Klima für die Entstehung einer archaischen Megazivilisation bestand, die sich dann ausgebreitet hat. Man kann die Augen einfach nicht davor verschließen, dass all diese Menschen, auch die Japaner, obwohl sie dem vielleicht nicht zustimmen mögen, und die Koreaner, die ganze Bevölkerung entlang des Flusses Amur, alle mongolischen Völkerstämme und die türkischen eine Menge Gemeinsames verbindet – sowohl die Sprache, das vor allem, wie auch die Merkmale ihrer materiellen Kultur.“
… attuda.“ Lachen

Erzähler:
Und sie wissen vermutlich auch, lacht er, dass in Europa ebenfalls mindestens zwei Völker existieren, die sich von dieser Kultur herleiten, die Ungarn und die Bolgaren, nicht zu vergessen die vielen nicht-slawischen Völker im Kaukasus und an der mittleren Wolga, die Unganrn und die Finnen: Die ganze ethnische Geschichte dieses riesigen Zentralasiens, findet er, bedürfe dringender wissenschaftlicher Erforschung:

O-Ton 14: Fedotow, Forts.    1,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wide nauke…
„In der Wissenschaft wird Zentralasien als ethnischer Kessel bezeichnet. Da gibt es so viele ethnische Gruppen, eine vermischte sich mit der anderen usw. usw. und das alles ging – historisch gesehen – vergleichsweise schnell. All diese Gruppen  charakterisieren sich durch einen bestimmten Verhaltenstyp, eine bestimmte Lebensart: Sie waren entweder Nomaden oder Halbnomaden.Deshalb denke ich, dass in den Vorstellungen von einer Megakultur ein rationaler Kern liegt. Die Völker sind durch die gleichen geografischen Bedingungen verbunden. Sie können nicht anders existieren. Korn ist nur auf kleinsten Flächen anbaubar, weil das Klima einfach zu rau ist. Gras gedeiht nicht auf dem Boden; hier hält man Vieh, das Gras muss sich im Winter selbst erneuern. Hier in Zentralasien gab es keine dauernden befestigten Städte, weil das einfach nicht möglich war. Man betrieb Tierzucht, bearbeitete Leder, Metall, trieb Handel mit China wie auch mit dem Westen“

Musik 3: Gesang    1,04
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Übersetzer, Forts.
In der Welt gibt es nun einmal Welt die beiden Arten von Zivilisation, die sesshafte und die nomadische. Die nomadische entwickelte sich zwischen den sesshaften Polen. So hat es sich entwickelt.“
…tak polutschilas.“

Regie: O-Ton ausblenden, Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Ökologische Nische, Etnischer Kessel, Megakultur – damit ist das Thema benannt, das den Raum des Altai heute zur Attraktion werden lässt. Romantiker und Visionäre aus aller Welt suchen darin eine Alternative zur industrialisierten Welt. Das gilt vor allem für Russen aus den städtischen Ballungszentren, also aus Moskau und St. Petersburg; für die sibirischen Städte Nowosibirsk, Krasnojarsk oder für kleinere Industrie-Agglomerationen ist der Altai – russische Maßstäbe für Entfernungen berücksichtigt – Nah-Erholungsgebiet.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen, danach langsam abblenden

Einer dieser Menschen ist Boris Werschinin. Er ist Direktor des Museums für Völkerkunde in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau und leitender Mitarbeiter in der Moskauer Kulturorganisation „Ethnost“, die sich um eine Aufarbeitung und Pflege der innerrussischen Völkerbeziehungen bemüht. Er ist leidenschaftlicher Verehrer des Altai, den er auf den Spuren seiner großen Vorbilder Nicolas und Helena Roehrich immer aufs neue bereist. Sie entdeckten in den zwanziger Jahren den Altai im Zuge einer sechsjährigen Expedition für Russland spirituell.  Roerich-Gesellschaften, die es heute in fast in allen größeren Städten Russlands gibt, spielen gegenwärtig eine wichtige Rolle als Stichwortgeber einer kulturellen und spirituellen Erneuerung des Landes. Im Altai sind Nicolas und Helena Roehrich bis heute hoch geachtet. Am Rande eines Kongresses in Ulaanbaator erklärt Boris Werschinin sein Engagement für den Altai auf den Spuren der Roerich-Expedition mit den Worten:

O-Ton 14: Boris Werschinin,     0,47
Direktor des Museums für Völkerkunde
in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta expeditia, ana…
“Diese Expedition war keine normale Expedition. Diese Expedition war mit der kosmischen Evolution der Menschheit verbunden. Wir wissen alle, dass auf dem Planeten immer ein kosmischer Focus entsteht, das heißt, eine besondere Region, die mit dem Kosmos verbunden ist. Und auf diesem Boden geschieht gewissermaßen eine energetische Entzündung und dort geschieht die Erzeugung einer neuen Kultur, einer neuen Zivilisation. Und periodisch verlöschen diese Kulturen und die Zivilisationen gehen zugrunde.“
…rasruschajetsja.“

Erzähler:
Boris Werschinin interessiert sich für dies alles, wie er aufzählt, unter vier Gesichtspunkten:

O-Ton 16: Werschinin, Forts.    1,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, wa perwich…
„Erstens ist es ein besonderes Territorium, das eine einzigartige geografische Landschaft besitzt, Gebirgsformationen: Himalaya, Tien Schan, Altai, Sajan. Sie bilden gleichsam eine Tasse, genannt Trofanski Asis, deren tiefste Stelle 200 Meter unter dem Meeresspiegel liegt, also effektiv eine Tasse. Zweitens interessieren mich die Erfahrungen der Expedition selbst, die eine Entwicklungslinie für unsere menschliche Kulturentwicklung markiert hat. Drittens bildet die Region eine ökologische Nische, die bisher nicht urbanisiert wurde. Man muss sie als ökologische Ressource erhalten und entwickeln, denn für den Planeten ist es wichtig, eine solche große Reproduktionszone zu haben, die den Planeten harmonisieren kann. Aus der Sicht der Ökologie ist es eine Oase der Zukunft, welche die einzigartige Möglichkeit bietet, dort schon heute neue Technologien, schadstofffreie Produktion, biologisch saubere Nahrung zu entwickeln usw; außerdem qualifizierte neue Energie, denn hier gibt es besondere Energien, die man nutzen kann. Das ist ein Zukunftsprojekt. Viertens interessiert mich die Region unter dem Gesichtspunkt der Geopolitik: Diese Region ist ein Rad, das  umgeben ist von großen Reichen: Im Norden Russland, im Osten das große China, im Süden Indien und im Westen die islamische Zivilisation. Die Region trennt diese Welten einerseits, schützt sie als Puffer sozusagen, andererseits vereinigt sie sie. Die Reiche können und müssen daher an diesem Projekt und Programm mitwirken.“
…wot etich programm.“

Erzähler:
Noch höher, ganz auf der Höhe der Zeit, siedelt Bat Sur Dschem Jangin das Thema an. Er ist Direktor des „Zentrums für nationale Anthropologie am medizinischen Institut“ von Ulaanbaator in der Mongolei. Seine Interesse gilt der Erhaltung des genetischen Fonds Zentralasiens. Unter genetischem Fond versteht er die Fähigkeit, welche Völker entwickeln, sich an die ökologischen Bedingungen eines bestimmten Raumes anzupassen. In einer Zeit, in der globalen Migration, in der Viren mit Überschallgeschwindigkeit rund um den Globus geschleppt werden könnten, so der Genetiker, bestehe die Gefahr, dass die Fähigkeiten zur Anpassung verlorengingen:

O-Ton 16: Bat Sur Dschem Jangin     0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen. Abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna ssewodnja charascho…
„Natürlich, das ist heute gut: Die Menschen lieben einander, treffen sich, heiraten, bekommen Kinder, weltweit, alles gut, einerseits macht das nichts. Andererseits verlieren die Genfonds, die an eine ökologische Nische angepasst waren, ihr Gleichgewicht; es können Gene eingeschleppt werden, die nicht angepasst sind. Sie können Krankheiten verursachen. Wir studieren den Genfond der hiesigen Bevölkerung daher mit dem Ziel, den eingeborenen, ursprüglichen Genfonds zu erhalten.“
…aboregeni Genofond (ausblenden)

Erzähler:
Im INTERNET wird der Altai heute als bevorzugte Adresse für zivilisationsmüde Städter aus aller Welt angeboten, die hoffen, dort einen echten Schamanen zu treffen. Die wenigen nach dem Aderlass der Sowjetzeit dort praktizierenden Schamanen dagegen ziehen sich vor diesem Rummel in die Berge oder einfach in die Anonymität zurück. Es stellt sich die Frage: Der Altai als Bio-Park, als Museum für lebende Nomaden und globaler Genfond – kann dies die Lösung für die Probleme der industriellen Welt sein?

Musik 4:     1,34
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Wäre es nicht richtiger, einfach von der nomadischen Kultur zu lernen, wie man weniger Ressourcen verbraucht, wie man mobiler unterwegs sein kann, wie man die Verbindung zur Erde mit allen Sinnen, aber auch mit allen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten von heute erneut aufnehmen kann, also energisch voran, statt wieder einmal zurück zur Natur zu schreiten? Die Auseinandersetzung um diese Frage hat erst begonnen. Der Altai wird dabei ein wichtige Rolle spielen.

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