Mit dem Bankenkrach vom Herbst letzten Jahres schien Rußland am Ende. Kredite wurden gesperrt, westliche Investoren zogen sich zurück. Vor ein paar Wochen wurde Rußland als die Nummer Acht in die G-7, die Gemeinschaft der sieben größten Industrienationen aufgenommen. Die Sieben verpflichteten sich, Rußland bei der anstehenden Zahlung von 100 Milliarden Dollar Altschulden aus sowjetischer Zeit zu entlasten; der Internationale Währungsfonds erklärte sich darüberhinaus bereit, lange zurückgehaltene Kredite in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar auszuzahlen. Was ist geschehen? Ist dies ein Zuckerbrot für Rußlands Wohlverhalten im Krieg um das Kosovo? Oder ist Rußland entgegen allen Erwartungen wieder kreditwürdig?
O-Ton 1 (gesonderter Bobby): Musik, tak, tak, tak…
12 A 634 bis 645 …Schnitt .. bis B 204
Regie: Ton bis zu Sprecherin frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, danach zwischendurch hochziehen, zum Schluß langsam hochkommen lassen, verblenden
Erzähler:
Eine erste Antwort auf diese Frage geben die traditionellen Aktivitäten am 1. Mai dieses Jahres. Rund 500.000 Menschen haben die Korrespondenten landesweit auf den Straßen gezählt. Für russische Verhältnisse sind das wenige. Alles blieb ruhig – keine Zusammenstöße, keine Besetzungen, keine Hungerstreiks wie in den Vorjahren. Viele Menschen zogen es vor, auf die Datschen zu fahren, um ihre Gärten zu bestellen.
Einig ist man sich nur im Protest gegen den Krieg in Jugoslawien; im Übrigen gab es getrennte Märsche und Veranstaltungen. Durch Moskau zogen zwei Demonstrationen. Ca. 20.000, vor allem ältere Menschen folgten den Fahnen der Kommunisten. Sie forderten, wie schon seit Jahren, den Rücktritt Jelzins, der mit der Zerstörung der Sowjetunion den Balkankrieg erst ermöglicht habe.
Wesentlich mehr, vor allem aber jüngere Menschen haben sich an dem Zug beteiligt, zu dem die Moskauer freien Gewerkschaften im Bündnis mit Bürgermeister Juri Luschkow aufgerufen haben. Dort ging es unpolitischer, dafür aber handfester zu: Forderung nach Lohnerhöhungen, nach Senkung der Steuern, nach Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für geregelte Arbeit stehen im Mittelpunkt. Bürgermeister Luschkow, der sich bereits auf den Wahlkampf um die Nachfolge des jetzigen Präsidenten vorbereitet, hat sich an mit einer Rede höchstpersönlich an die Spitze der Kundgebung gesetzt:
O-Ton 2: Bobby 2: Bürgermeister Luschkow
Regie: Verblenden, TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladewitzja.“
Erzähler:
Juri Luschkows Ermahnungen erinnern an Michail Gorbatschows Aufrufe aus den frühen Tagen der Perestroika. „Schaffen! Schaffen! Schaffen!“ lautete eine der zentralen Parolen, mit denen Gorbatschow seinerzeit die Bevölkerung zum Einsatz für die gewünschte sozial-ökonomische Beschleunigung anfeuern wollte.
Luschkows Bündnispartner, Michail Nagaitzew, der Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaften greift diese Töne auf. Nagaitzev war radikaldemokratischer Aktivist der Perestroika. Nach Jelzins sogenannter demokratischer Revolution war er Mitglied der oppositionellen „Partei der Arbeit“ und bis zum Bankenkrach scharfer Kritiker der forcierten Privatisierung, deren Ergebnisse er als kriminell verurteilte. Heute ist Nagaitzev Mitglied in der von Juri Luschkow gegründeten Wahlbewegung „Otetschestwo“, Vaterland, und hat mit dem Bürgermeister einen Stabilitätspakt, ein Bündnis für Arbeit geschlossen. Den Bankenkrach vom August letzten Jahres versteht der Gewerkschafter weniger als das Ende denn als den Anfang einer Entwicklung. Zwar habe der Krach die allgemeine Armut in Rußland erhöht, erklärt er:
O-Ton 3: Michael Nagaitzev
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden
Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Die Preise für Importware stiegen. Als Ergebnis wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Deren Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann noch Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Vor dem Krach lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“
Erzähler:
Bemerkenswert findet Präsident Nagaitzew vor allem, daß dies alles habe geschehen können, obwohl die Zentral-Regierung nach dem Krach praktisch nichts zur Stärkung der Wirtschaft unternommen habe:
O-Ton 4: Nagaitzew, Forts. 7,A,628 – 638
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:
„Die Leute fingen einfach an selbst zu suchen: Produzenten, Nischen, Märkte. Sie zogen die Wirtschaft wieder hoch, obwohl das Banksystem noch immer daniederliegt; es gingen ja ungefähr siebenhundert Banken zugrunde und es folgen immer noch welche. … 635 Aber es scheint, als hätten die Menschen in den letzten zehn Jahren doch etwas gelernt: Sie lernten vom Staat unabhängig, wenigstens unabhängiger als früher zu sein. Das ist ein Fakt.“
…gossudarstwo, eta sowerschenneje realnost.“
Erzähler:
Besonders in Moskau sei diese Entwicklung zu beobachten, erklärt Nagaitzev. Dazu habe das Bündnis für Arbeit nicht wenig beigetragen. Stolz verweist Nagaitzev auf das, was in Moskau in Zusammenarbeit zwischen ihm und Bürgermeister Luschkow in den letzten Jahren geschafft worden sei:
O-Ton 5: Nagaitzew Forts. 7; B, 29
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:
„Moskwa raswiwalas po…
„Moskau entwickelte sich wirtschaftlich anders; Moskau entwickelte sich nach einem anderen Modell; im Unterschied zu den Modellen, die von Tschubajs, Gajdar und anderen vorgeschlagen wurden. Luschkow erhielt die Erlaubnis des Präsidenten, einen eigenen Moskauer Weg bei der Privatisierung zu gehen. Hier in Moskau wurde Eigentum nur für reales Geld verkauft. Und nicht alles wurde verkauft, verkauft wurde nur da, wo es Sinn machte, nur da, wo es einen realen Eigentümer gab, der besser zu arbeiten verstand als die vorherigen. Deshalb ist die Wirtschaft Moskaus trotz des tiefen Einbruchs nach dem 17.8.1998 im Halbjahr danach um 8% gewachsen.“
…apjat wychaditj.“
Erzähler:
Durch das Bündnis für Arbeit, so Nagaitzev, wurden Rahmenbedingungen geschaffen. Die Stadt habe Mittel für die Entwicklung des kleinen und mittleren Busyness bereitgestellt; es wurde ein Unterstützungsfond für Existenzgündungen und Umschulungen gegründet. Die drohende Arbeitslosigkeit wurde durch eine von der Stadt betriebene immense Bautätigkeit aufgefangen. Eine vernünftige Handhabung der Steuern habe diese Politik unterstützt:
O-Ton 6: Forts. Nagaitzew 7, B, 57 – 091
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:
„Nu, ja tebja adin…
„Dafür ein Beispiel: Die Automobilfabrik SIL. Sie stand anderthalb Jahre. Wo gibt es so etwas in der Welt, daß so ein Gigant so lange stehen kann? Trotzdem haben wir es nicht zugelassen, daß sie unter den Hammer kommt. Die Moskauer Regierung kaufte Aktien; sie bekam das Kontrollpaket der Fabrik, sie gab Aufschub für die Steuern, die an die Stadt hätten gezahlt werden müssen. Es war eine einfache Rechnung, die wir aufgemacht haben: Entweder 18.000 Menschen auf die Straße werfen! Dann bringen sie schon morgen nichts mehr ins Budget ein, aber das Budget muß sie unterhalten, ihre Familien, dann noch umschulen, neue Arbeitsplätze schaffen – da war es billiger, die Steuern zu stornieren und die Fabrik nicht aufzugeben, sondern zu stützen. Inzwischen ist die Produktion neu angelaufen. Im September wird SIL, trotz Einbußen im August letzten Jahres, erste Profite haben und Steuern ans Budget abführen.“
…nalogi büdget.“
Erzähler:
Natürlich könne man die Moskauer Verhältnisse nicht einfach auf das Land übertragen, räumt Nagaitzew ein. Trotzdem gebe es inzwischen schon eine ganze Reihe von Regionen, die sich nach diesem Schema entwickelten. Letztlich brauche man dafür nur eine entschlossene Mannschaft, die etwas von Ökonomie verstehe, die Verbindungen schaffe und Verantwortung übernehme, um Investitionen zu ermutigen. Angestoßen durch die Ereignisse vom 17.8. 98, so bilanziert Nagaitzev, habe Rußland auf diese Weise im letzten halben Jahr einen ersten Schritt zur Abkoppelung vom Tropf westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:
O-Ton 7: Nagaitzew, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands, in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem wieder Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“
Erzähler:
Das sind überraschende Töne, besonders aus gewerkschaftlichem Munde. Man könnte geneigt sein, sie als Zweckoptimismus abzutun, wenn nicht ähnliche Darstellungen aus ganz anderen Blickwinkeln gegeben würden. So beschreibt Alexander S., Busynessmen, seit 1990 Chef einer mittelgroßen ;oskauer Handelsgesellschaft, die Lage, in der er sich nach dem Krach wiederfand, so:
O-Ton 8: Alxander S. 8, B, 494 – 523 (moschit bit n jet, schneiden)
Regie: Kurz stehen lassen , abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden
Übersetzer:
„Esli litschno…
„Persönlich gesehen wurden die Menschen einfach ärmer, man lebt schlechter – weniger Geld, die Preise stiegen. Aber ich bin doch zutiefst davon überzeugt, daß das Resultat nützlich für alle ist, auch für Rußland insgesamt: Der Import ist rasant gefallen – schlechter oder nicht: die Menschen wurden selbst aktiv. Früher gab´s nur Importware; es war profitabel dort zu kaufen, hier zu verkaufen; jetzt kommen unsere eigenen Produkte auf den Markt, also, heimische Unternehmen begannen zu arbeiten. Das ist das eine.. … 510 … Das Zweite ist, daß diese spekulative Politik zusammenbrach, die wir hatten, also diese Situation, daß Leute, die nichts taten, dafür unheimlich viel Geld kassierten. Das waren nicht etwa die, die Handel trieben wie wir, die arbeiteten ja wirklich; das war die sogenannte mittlere Klasse – Banker und ihre Umgebung. Daß diese Klasse zugrunde ging, das finde ich persönlich sehr nützlich. Banken sollten arbeiten und sich nicht mit Spekulation beschäftigen. Sie sollen Geld beschaffen, billige Kredite für Investionen ermöglichen, die reale Wirtschaft in Gang bringen. Dafür sind die Banken ja da. … 525 .. Jetzt kann es so werden.“
…moschit bit budit, lacht (moschit bit n jet, schneiden, verwirrt hier)
Erzähler: Irgendwie, meint Alexander S., und seine Kompagnons nicken dazu, könne man sogar von einer neuen Chancengleichheit sprechen. Ein bißchen fühlen sie sich an die frühen Tage der Perestroika erinnert:
O-Ton 9: Alaxander S., Forts. 8, B, 533 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:
„Bbila reska disproportije…
„Es war ja ein scharfes Mißverhältnis entstanden; die einen hatten nichts, die anderen hatten viel. Ich rede nicht von den sogenannten Oligarchen. Das sind hundert, vielleicht tausend Leute im ganzen Land. Das sind im Maßstab des Landes ja nicht so viele. Ich meine diese mittlere Klasse – sie verloren ihre Posten, ihr Telefon, ihr Auto, ihre irren Gehälter; sie mußten sich umstellen, wenn sie ihr Niveau halten wollten. Sie mußten echte Arbeit suchen, etwas aufbauen. Wenn sie klug waren, haben sie sich umgestellt. Dadurch entsteht etwas, neue Strukturen, eine neue Haltung zur Arbeit. (…) Heute zahlt keiner mehr dafür, nur damit du herumsitzt wie früher war und auch in den letzten Jahren wieder. Jetzt mußt du dich bewegen, wirklich arbeiten. Das ist neu. Das ist gut. So erneuert sich diese Klasse, aber jetzt nicht mehr auf parasitäre Art, wie vorher, sondern schon irgendwie anders.“
Erzähler:
Von Stabilität möchte der Geschäftsmann im Gegensatz zu dem, was aus den Gewerkschaftsetagen zu hören war, allerdings doch noch nicht sprechen:
O-Ton 10: Alexander S. , Forts. 8, B, 633 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer;
„Ich sage nicht, daß es besser ist; ich spreche von einem Impuls, den Rußland bekommen hat: War durch den Import vorher immer alles vorhanden, so ist nun nichts mehr da, auch keine Valuta, um etwas zu kaufen. So sind die Menschen gezwungen sich zu erinnern, daß es auch in Rußland gute Erzeugnisse gibt, Fleisch, Wurst, Butter und Milch und auch Kleidung. Vorher hat man diese Produkte einfach nicht gekauft, jetzt nimmt man sie, die heimische Industrie wächst. …. Wenn der Krach auf diese Weise dazu führt, daß gearbeitet wird, daß man nicht mehr auf Kredite wartet, um dann weiterzumachen wie vorher, sondern selbst etwas entwickelt, dann war er zu etwas gut. Letztlich glaube ich schon, daß er
Krise etwas bewirkt. Ohne ihn wäre jedenfalls alles so weiter gelaufen wie bisher.“
Erzähler:
Der Krieg könne diese Entwicklung nur beschleunigen, findet auch der Geschäftsmann, vorausgesetzt allerdings, Rußland werde nicht in tatsächliche Kriegshandlungen verwickelt. Dazu sei es zu schwach und würde nur weiter geschwächt:
O-Ton 11 Alxander S., Forts. 9,A,53 – 105
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„… (Poetamu)… „Ja dumaju…
„Ich denke, Rußland gewinnt durch diesen Krieg. Auch der Rüstungskomplex hat lange gestanden – keine Aufträge; keine Entwicklungsmöglichkeiten. Aber angesichts des Krieges gibt es sofort Manöver, gibt es Schulungen, hat man Geld gefunden für dies, für das. Mehr noch, aus NATO-Ländern selbst, aus Griechenland, aus Zypern werden Waffen bestellt, nicht bei den Amerikanern, sondern in Rußland. Also, wenn Rußland vorher mit leeren Händen dastand: Gebt Geld! Gebt Geld! Bettelte, so ist die Krise jetzt sehr nützlich. Es ist wie bei einem Süchtigen. ( … o86) … Nach dem Entzug wird es erst einmal schlechter. Aber jetzt stellen alle fest: Hey, wir leben ja noch! Wir sind ja gesund! Die Wirtschaft kommt langsam in Gang. Die Amerikaner glaubten Rußland schaden zu können, aber mir scheint, für Rußland wird es dadurch sogar besser.“
..budit lutsche
Erzähler:
Ein bißchen schärfer klingt es aus den Rüstungsetagen selbst. So bei Anatoli Baranow. Baranow war wie Nagaitzew Aktivist der Perestroika und Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt:
O-Ton 12: Anatoly Baranow
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt der PR-Chef das Gespräch. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und andere hätten Rußland soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren innovativem Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“
Erzähler:
Auch Baranow sieht jedoch im 17.8. 98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:
O-Ton 13: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden
Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber die Interessen bilden sich. Es geschieht vor allem unter jungen Leuten. Sie wollen nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden; sie wollen eine gute Ausbildung und sie wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht
Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht sich Baranow gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur schroffer:
O-Ton 14: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“
Erzähler:
Dasselbe Fazit, nur in schärferer Tonart, ist aus dem Munde Alexander Prochanows zu hören. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Zusammen mit Szuganow, dem Sekreträ der Kommunistischen Partei Rußlands, gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Lage im Lande mit den Worten:
O-Ton 15: Alexander Prochanow
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“
Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Boris Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.
Im Alltag, wo der Krach wie etwa bei Nina Wuss und ihrem Mann Küchenthema ist, klingt ohnehin alles noch einmal ganz anders. Nina Wuss, eine liebenswürdige Matrone, war zu Sowjetzeiten Kulturorganisatorin im etablierten Haus der Schriftsteller; 1991 agitierte sie eifrig für Boris Jelzin, heute lebt sie, abgesehen von ihrer kleinen Rente, vom Einkommen ihres Mannes, der im Baugeschäft einigermaßen verdient. Als müsse sie die Richtigkeit der Ansichten Baranow, Prochanow und anderer Nationalisten bestätigen, klagt sie:
O-Ton 16: Nina und Mann 15, A, 139 – 177
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzerin:
„Nu, ja dumajau… nje rauskürzen, irritiert …
„Nun, ich denke, alles wurde noch schlimmer. Vor dem 17. August, hatte man noch Hoffnung auf ein angenehmes Leben, auf Arbeit, man plante etwas. Aber nach dem 17. hat die Intelligentia, sagen wir, diese mittlere soziale Schicht alles verloren. Die Leute hatten Geld gespart auf den Banken, das hat ihnen der Staat einfach geraubt. Sie blieben ohne etwas! Es gab viele Tragödien. Jetzt ist das Leben viel teurer. Von Stabilität keine Rede. Die Preise für Nahrungsmnittel sind unheimlich hoch. Meine Pension, die ich von der Stadt Moskau erhalte, beträgt 500 Rubel, das sind ungefähr 20 Dollar, dreimal weniger als vorher. Schon vor dem 17.8. konnte man kaum etwas davon kaufen. Aber jetzt? Wie soll man davon leben, wenn man keine Gartenwirtschaft hat, auch keinen Mann oder Kinder, die arbeiten!? Das ist sehr schwer.“
..eta otschen tejelo.“
Erzähler:
Ihre Schwester, erzählt Nina, sei auch Pensionärin. Ihr Sohn sei arbeitslos, er habe zwei Kinder zu versorgen. Die Pension reiche gerade für Brot, etwas Milch und die billigsten Nahrungsmittel. Es komme ja noch die Miete dazu, die Kosten für Haushaltsutensilien, Kleidung, Telefon. Man müsse doch leben! Und was erst, wenn nicht einmal die Pension pünktlich ausgezahlt werde , wie es in der Vergangenheit oft der Fall war! Im Moment werde gezahlt, aber darauf könne man nicht vertrauen. Ninas Hoffnungen sind zerstoben:
O-Ton 17: Nina Wuss und Mann 15,A, 325 -425
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzerin:
„Ja tschetsna gawerja…
„Ich glaube überhaupt nichts mehr. Ich glaube nicht mehr an irgendeine lichte Zukunft. Nur was ich mit eigenen Kräften kann, das tue ich. Man kann nirgendwo mehr hingehen und Hilfe erbitten. Du wirst überall abgewiesen. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder versucht für sich, mit eigenen Kräften aus dieser Situation herauszukommen. Einige schaffen es; viele schaffen es aber auch nicht – viele Arbeitslose, viele Selbstmorde. Perestroika ging schon nicht so glatt; viele waren dafür nicht bereit, fanden sich nicht zurecht. Als sdie sich fan den, wurden sie gleich wieder umgeworfen. Es geht hin und her. Man kann sich auf nichts einstellen. Man stolpert von einem Elend ins nächste. Die Menschen sind kaputt.“
..ludi slomlini.“
Erzähler:
Und ohne daß vorher vom Krieg die rede gewesen wäre, fährt sie fort:
O-Ton 18: 15, A, 231 – 270
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzerin:
„A Krache prosta strana…
„Der Krach hat das Land von Geld leergefegt. Jetzt erniedrigt man sich vor den internationalen Banken, um Kredite zu erbetteln. Wir werden lange in Erniedrigung leben müssen, davon bin ich überzeugt. Wir haben alles verloren. Wir sind geteilt, unsere Armee ist nicht selbstständig, das Elend ist ungeheuer hoch, Kinder sind obdachlos. Was haben wir noch? Deshalb verhält man sich uns gegenüber heute so, vor allem Amerika. Man sieht ja, was heute vorgeht. Wir haben nichts, um damit zu drohen, nichts, was zu fürchten wäre. Und so kommen sie wie die Räuber, nachts bombardieren sie Belgrad. Und alles mit Einverständnis unserer Regierung. Jelzin hätte schon lange gehen müssen. Das ist ein tiefkranker Mensch. Wenn es heißt, es gäbe zu ihm keine Alternative, dann sage ich, Alternativen gibt es immer.“
..swegda jest
Erzähler:
Mit nationalistischem Pathos aber wollen Nina Wuss und ihr Mann nichts zu tun haben. Dafür sei es zu spät, meinen sie. Da hätte man früher aufpassen müssen. Jetzt gehe es nur noch darum, die Wirtschaft wieder in Gang zu kriegen. Und schon kommt die Rede wieder auf Juri Luschkow. Auch Nina, und noch mehr ihr Mann, der von Moskaus städtisch gefördertem Baubooom lebt, setzen auf die Kraft ihres Bürgermeisters. „Choroschi Choseìn“, guter Hausherr, lautet das Zauberwort, von dem sie aller Desillusionierung zum Trotz, und dies nicht nur für sich, sondern für ganz Rußland, eine Erlösung aus dem Jammertal der ewigen Krise erhoffen.
Was soll man glauben? Ninas Küchenbeobachtungen oder die Aussichten auf Wachstum der heimischen Industrie? Ausländische Beobachter mögen verwirrt sein; Rußlands Analytiker dagegen bleiben gelassen:
O-Ton 19 Juri Lewada 8, A, 320
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen
Erzähler:
Man dürfe nicht von Zusammenbruch reden, meint Prof. Juri
Lewada, Direktor des zentralen Instituts für Meinungsforschung in Moskau:
Regie: kurz zwischendurch hochziehen
Übersetzer:
„stroga gawerja stracha nje…
„Streng gesprochen hat es keinen Zusammenbruch gegeben. Es gab einen großen Knall, es gab Elemente von Panik, nicht nur unten, sondern wohl auch oben. Wenn die Bevölkerung gewußt hätte, was sich wirklich abgespielt hat, wäre die Panik wohl größer gewesen. (…)…330 … Inzwischen hat sich die Situation beruhigt: … 338 Erstens hat es keine durchgehende Katastrophe gegeben. Und ungeachtet aller Veränderungen zwischen Rubel und Dollar in Sachen Import zeigte sich, daß die Krise nicht tödlich war. (…) Aber der Knall war nützlich für die Exportbranche; man konnte Rubel bekommen, die auf dem Weltmarkt schwach wurden, aber im Inland sehr stark. So konnte ein Teil der Löhne gezahlt werden und überhaupt ein bißchen die Wirtschaft sich beleben. Als Resultat der letzten drei Monate haben wir so ein gewisses industrielles Wachstum, wir haben Lohnanhebungen und überhaupt einige Erleichterungen.
..nekatorie usbokajennije.“
Erzähler:
Ein wenig seltsam sei das schon, findet der Professor, zumal der jugoslawische Krieg noch als neuer Faktor hinzugetreten sei, aber im Großen und ganzen sei die Situation stabil.
O-Ton 20: Lewada, Forts. 8, A, B,065
Bolöje ili menuije…
„Am ruhigsten fühlen sich die Leute ganz unten, die mit Politik nichts zu tun haben und nur einige Verbesserungen sehen: Bezahlung der Löhne und Gehälter. So gesehen ist nichts Neues passiert. Keine Stabilität gibt es dagegen an der Spitze unserer Pyramide, im Bereich des Präsidenten und der politischen Elite. (…) Das gilt übrigens auch für Moskau. Das ganze Gerede von Moskaus Sonderrolle ist ja nur Propaganda. Hier in Moskau ist die Privatisierung nicht besser gelaufen. In Moskau konzentriert sich einfach mehr Geld.“
… Tschista propagandiski priom.“ B(065)
Erzähler:
Zur Lewadas allgemeinem Befund gibt es unter es seinen Kollegen keine Differenzen. Sehr wohl aber schärfere Analysen zu den Vorgängen in der Spitze der Pyramide. So bei Jussif Diskin, Assistent des Direktors am Institut für sozialökonomische Probleme der Bevölkerung in Moskau. Er leitete Untersuchungen, die das Institut nach dem 17.8. in der Bevölkerung und danach auch unter Rußlands Reichen im Auftrag der russischen Zentralbank durchführte.
Von einem Krach möchte auch Diskin nicht reden. Einen Krach habe es nur für zwei Dutzend Großbanken, Investitionsgesellschaften und Finanzkorporationen gegeben. Dort und zwar ausschließlich dort, wo – wie Diskin sich ausdrückt -zusammengraubte Spekulationsgelder verfielen, dort sei effektiv Geld verloren worden. Aber auch dort müsse man sehr genau hinsehen, was wirklich geschen sei:
O-Ton 21, Diskin 16,B, 244 –
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz aufblenden, wieder abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen
Übersetzer:
„No, tut nado otschen..
„Erfolgte der Zusammenbruch für die Leute, die die Strukturen beherrschen? Nein! Sie überlebten! Warum? Weil sie während der Privatisierung Betriebe des realen Sektors für Spottgelder kauften. Also: Oneximbank – Potanin! Onexibank ist zusammengebrochen, aber das Eigentum Potanins am Norilsker Nickel in Krasnojarsk mit einem Umsatz von 6 Milliarden Dollar ist nicht berührt. Weiter: Bank Minotep brach zusammen, nicht aber Jukes, der riesige Öl-Chemie-Konzern, der zweitgrößte Rußlands. Die Mosbank! Sie brach zusammen, aber keineswegs die dahinter stehende Mediaholding, unsere größte Konzentration von Massenmedien. Mit den oligarchischen Strukturen, die in die reale Sphäre hatten vordringen können, ist nichts Katastrophisches passiert. Sie verloren Geld, ja, aber sie sind weiterhin die starken Figuren im russischen Wirtschaftsleben. So ist der frühere Ministerpräsident Tschubajs jetzt Manager der weltweit größten Industriekorporation; er ist Generaldierektor von RAOES, Russische Energiesysteme. Gerade jetzt im Moment ist RAOES dabei, der größte Exporteur Rußlands überhaupt zu werden.“ (299)
..exportörom, Rossije.“
Erzähler:
Paradox aber wahr, so Diskin, könne das durch den Zusammenbruch der Spekulation gereinigte Kapital sich in Rußland heute auf die Entwicklung des neu entstehenden heimischen Marktes konzentrieren. Was aber fehle sei nicht etwa Geld, das sei vorhanden, sondern vor allem soziales Kapital:
„O-Ton 22: Diskin, Forts. 16,B, 594 – 647
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Cewodnja usche… (neuer Anfang!!! Zweit Sätze weiter)
„Woraus setzt sich soziale Kapital zusammen? Erstens, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Rugulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, auch keine hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem. Es gibt eine innere korporative Ethik, die Frage der Motivation. (610) Hauptproblem des russischen Wirtschaftslebens ist aber zur Zeit die äußere: Unser Management ist heute praktisch ohne Verantwortung! Es ist an persönliche Interessen gebunden, die mit denen der Korporation nicht zusammenfallen. Grundursache dafür ist, daß das Eigentum bei uns nominal ist: Das Eigentum ist verteilt, aber das Management ist niemanden untergeordnet. Die Gesetzeslage erlaubt es dem Manager sogar, seine eigene kleine Firma auf Kosten der Gesamtkorporation zu betreiben. … (639) Erst wenn das Management sich mit dem Gewinn der Koporationen identifiziert, kann in Rußland der Aufstieg beginnen. In einigen Fällen gibt es das schon, wie gesagt. …. Aber hier findet der Hauptkampf gegenwärtig statt. Management gegen Eigentümer: Aktenkauf, Schiebung, Mord und Totschlag.“
…Sdes clutschwoi barbar idjot.“
Erzähler:
Boris Kagarlitzky, früherer Aktivist der Perestroika, heute freischwebender Reformsozialist, will bei solchen Beobachtungen nicht stehen bleiben. Mit Verweis auf die allgemeine Stimmungslage erklärt er:
O-Ton 23: Kagarlitzki 5/A,615 – ohne
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen
Übersetzer:
„Nu, wa pervich…
„Nun, erstens hat der Krach die Unmöglichkeit gezeigt, mit der bisherigen neoliberalen Politik fortzufahren. Und das Wichtigste ist: Das begreifen nicht nur die Gegner dieser Politik wie Szuganow oder Prochanow, sondern in starkem Maße auch ihre Befürworter, vor allem die, die mit dem inneren Markt und irgendwie mit der Industrien zu tun haben. Zweitens hat die soziale Basis des Staates gewechselt.
Bis 1998 war das in Moskau und anderen größeren Städten die nachsowjetische Mittelklasse. (…639…) Die hat zwar selbst nichts produziert, sondern spekuliert, aber um sich herum doch Arbeitsplätze geschaffen. Das waren schon nicht mehr nur die neuen Russen, das war schon gut 10% der Bevölkerung. … Das alles brach nach dem 17.8. zusammen. (…703…) Das heißt, der Krach hat vor allem die sozialen Ressourcen Systems geschwächt. Es muß sich neu orientieren.“
Erzähler:
Kagarlitzki spricht von einer neuen Phase der Perestroika. Ewig könne man nicht weiter vom Speck leben, nachdem alles privatisiert worden sei, was habe privatisiert werden können, meint er:
O-Ton 24: 5, B, 175 – ohne
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden,
Übersetzer:
„Prosta grabit ressurssi
„Einfach nur die Ressourcen auszubeuten, die aus der Sowjetzeit überkommen sind, ist nicht möglich. Die Straßen verfallen, die Schienen, die Betriebe, das Telefonnetz, alles zerfällt; man muß investieren, muß wieder produzieren. Das geschah bisher nicht. Im bisherigen System gab es keine Mechanismen, Mittel dafür aufzubringen. Deshalb war das Ende absolut folgerichtig und unvermeidlich. Die Frage ist eher, warum er erst jetzt kam.“
Erzähler:
Aber was die neue Phase bringen wird, ist vollkommen offen:
O-Ton 25: Kagarlitzki, Ende 6,A,168 – 213
Regie: Ton stehen lassen, unterlegenabblenden, unterlegen, hochziehen
Übersetzer;
„Nelsja prognosirowatj…
„Es ist nicht möglich zu das Resultat dieser Perestroika zu so einem frühen Zeitpunkt zu progostizieren. Alle Entscheidungen, die gegenwärtig getroffen werden, sind nur vorübergehender Natur: Etwa die gegenwärtige Niedrigzinspolitik zur Stärkung von Investitionen; die andere Verteilung des Budgets, also keine neuen Staatsschulden, stattdessen Zahlung der Löhne, um soziale Spannungen zu vermeiden; die Lösung der Zentralbank von Vorgaben des IWF, indem sie in kleinen Mengen Geld druckt, um den inneren Markt in Gang zu halten. Der Krieg auf dem Balkan wird die Elemente stärken, die auf Loslösung vom Westen drängen. Im Prinzip ist das nützlich für Rußland. (…ich…) Aber klar ist: So oder so bekommen wir eine Gesellschaft, in welcher der Staat eine wesentlich größere Rolle spielt, in dem es ein Minimum an sozialen Garantien geben wird. Die Frage ist nur, ob es ein demokratischer Staat sein wird oder ein oligarchisch korrumpierter. Es wird auf jeden Fall nicht das liberale Modell sein, sondern entweder oligarchisch, vielleicht auch oligarchisch-bürokratisch oder demokratisch sozialistisch. Im Moment baut sich alles in Richtung der ersten Variante auf.“
..paka tosche rana.“
Erzähler:
Soziale Restauration oder Entwicklungsdiktatur, lautet die Formel, auf die Boris Kagarlitzki die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen Rußlands schließlich bringt, nicht ohne daraufhinzuweisen, es sei noch zu früh zu sagen, daß die demokratische Variante gar keine Chance hätte, denn jede Phase habe doch ihre eigene Dynamik und bringe ihre eigenen Hoffnungen hervor. Dem ist, außer der eigenen Hoffnung, daß er damit recht haben möge, nichts weiter hinzuzufügen.