Vorspann:
In Rußland läuft nicht alles so, wie die Befürworter einer schnellen Reform sich das 1991 gedacht haben. Das gilt vor allem für die Landreform. Die Mißernte des Jahres 1995 war die bisher sichtbarste Warnung. Mit einem Erlaß, der den privaten Landbesitz gestatten soll, machte Boris Jelzin diese Frage im Präsidentenwahlkampf 1996 erneut zum Thema, nachdem die Duma alle früheren Gesetzesakte zur Agrarfrage immer wieder annulliert hatte. Geht es nun wirklich zur Sache? Kai Ehlers zeichnet die Entwicklung seit 1991 nach.
O-Ton 1: Akkordeon auf dem Roten Platz (045)
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden
Erzähler: Oktober 1992: Tag der Revolution. Die Opposition sammelt sich zum Marsch auf den Roten Platz. Die Auseinandersetzung um die „Schocktherapie“ der Regierung hat den ersten Höhepunkt erreicht. Im Mittelpunkt steht die ungelöste Bodenfrage. Gegner und Befürworter einer Verfassungsreform, die privaten Landbesitz erlaubt, stehen sich hart gegenüber:
O-Ton 2: Agitator auf dem Roten Platz (…“pri sowjetski wlast“) (055)
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach dem Stichwort „Präsident“ noch kurz stehen lassen, dann allmählich abblenden
Übersetzer: „Ein Präsident, der Land zum Gegenstand von Schacher macht, verletzt die Verfassung. Kauf und Verkauf von Land ist ein Verbrechen.“
Erzähler: Bis Ende 1993 will die Regierung alle Kolchosen und Sowchosen in Aktiengesellschaften umwandelt haben. 400.000 private Höfe sollen bis dahin gegründet sein. Grundstücke für Gartennutzung werden umsonst vergeben. Öffentliche Aufgaben, für die die Dorfgemeinschaften bisher zuständig waren, gehen an die „neue Macht“.
Ende 1992 ist die Mehrzahl der Sowchosen und Kolchosen tatsächlich als Aktiengesellschaft registriert. Für viele blieb die Umbenennung allerdings ein formaler Akt. Hören wir Fjodor Soloteika. Er ist 1992 Vorsitzender der Agrarverwaltung im Bezirk Bolotnoje nahe Nowosibirsk. Damit ist er verantwortlich für die Privatisierung von mehr als 150 Betrieben seines Bezirkes:
O-Ton 3: Fjodor Soloteika in Bolotnoje (… Ja tschitaju) (047)
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute besser vorzubereiten. Offen gesagt, wir haben jetzt zwar schon zwei Aktiengesellschaften eingerichtet, aber viel haben wir da nicht erreicht. Die Leute verstehen das nicht richtig. Ihre Beziehung zur Arbeit ist wie früher. Der Arbeiter sieht nicht, daß das jetzt sein Anteil ist. Er sieht nicht, daß er jetzt Herr ist auf dem Land. Meiner Meinung nach geht das alles zu schnell. Aber was soll man sagen? Anordnung ist Anordnung, die muß man befolgen.“
Erzähler: „Morskoje“ war eine der ersten Sowchosen, die sich registrieren ließ. Früher eine Mustersowchose gilt sie jetzt als Muster einer Aktiengesellschaft. Sioe hat sogar einen rechenschaftsbericht über ihre Erfahrungen veröffentlicht. Doch ausgerechnet hier prangt über dem Eingang zum Verwaltungsbäude nach wie vor die aus der Sowjetzeit stammende Parole: „Das Leben – ein ökonomisches Experiment!“ und unmißverständlich erklärt der junge Direktor:
O-Ton 4: In der Sowchose Morskoje (Experiment, Experiment…) (020)
Regie: Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzer: „Ja, es ist ein Experiment, sonst nichts. Jede neue Form der Bewirtschaftung ist für uns ein Experiment. Das schließt das Erproben neuer Gesellschaftsformen mit ein, egal welche. Jetzt probieren wir es eben so.“
Erzähler: In „Morskoje“ wird noch ein weiteres Problem der Privatisierung sichtbar – die soziale Differenzierung: Der frühere Direktor verließ die Sowchose mit seinem Anteil als Erster; es folgten leitende Angestellte, dann qualifizierten Facharbeiter. Dazu kamen noch Städter mit Geld. Die Rest-Sowchose, jetzt AG, blieb für die Versorgung der verbleibenden Mehrheit, gut 1500 Menschen, verantwortlich.
Der Herbst werde zeigen, meint der junge Direktor knapp, ob das neue Experiment etwas bringe. Wenn nicht, werde man es beenden.
O-Ton 5: Privatbauer (…Hunde, „prochaditje“) (030)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen
Erzähler; Die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt haben. Der Traktor vor der Tür und der Hund im Hof weisen den Weg zum Privatbauern. Bauer Gorbatski ist stolz auf seine Leistung. Auf die Frage, ob er sich als Bauer fühle, wehrt er jedoch ab:
O-Ton 6: Privatbauer, Forts. (… Da, Fermer, Lachen) (037)
Regie: Bis zum Lachen stehen lassen, abblenden, unterlegen
Übersetzer: „Naja, Bauer! Bis zum Bauern ist noch weit. Bauer bist Du dann, wenn alles irgendwie zusammenläuft. Jetzt quälen wir uns erst einmal ab.“
Erzähler: Er klagt über Probleme mit dem Saattrockner. An den kommt er erst heran, wenn das Sowchos-Getreide schon durch ist. Ähnliche Probleme gibt es mit der Verarbeitung der Rüben, dem Transport seiner Milch. Für alles muß er die Sowchosleitung fragen. Sie behindert ihn nicht, unterstützt ihn aber auch nicht. So sind er und die anderen Privaten immer die Letzten. Für den Erwerb seines kleinen Traktors mußte er bis nach Moskau reisen. Die versprochenen Kredite bleiben aus oder sind nur mit großem Aufwand zu beantragen. Die Nachbarn sind mißtrauisch. Hilfe gibt es nur noch gegen Bezahlung.
Seine Frau versucht den schroffen Eindruck etwas zu mildern:
O-Ton 7: Bäuerin (…Kagda lutsche, interesneje stal…) (045)
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzerin: „Aber irgendwie wurde das Leben natürlich trotzdem interessanter: Du entscheidest selbst, was morgen ist. Du arbeitest für Deinen eigenen Gewinn. Das ist doch schon eine ziemliche Freiheit. Wir hoffen natürlich, daß auch das Andere besser wird.“
Erzähler: Bei der Mehrheit der Sowchosniki stößt die Privatisierung auf blanke Ablehung. Die Mähdrescherfahrer etwa, die als besserbezahlte Spezialisten zu den Wunschpartnern der Reformer gehören, lassen daran keinen Zweifel:
O-Ton 8: Mähdrescherfahrer (…Haha, …) (035)
Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen
Übersetzer: „Ach, alles Quatsch! Gaukelei! Wie lange haben sie uns den Sozialismus versprochen! Kommunismus sogar! Und jetzt sollen wir auf einmal Privateigentümer werden. Sofort! Ja, wenn wir Geld hätten! Aber so? Das ist wieder so ein Experiment mit dem Volk. Es dreht sich alles im Kreis, Betrüger allesamt: Chruschtschow, Andropow, Gorbatschow – und jetzt wieder! Wie es bei uns heißt: „Der Fisch stinkt vom Kopf!“
Erzähler: Selbst unter den Amtsträgern der neuen Regierung überwiegen die kritischen Stimmen. Admistrator Scherer, Bürgermeister des Dorfes Lebjaschewo, ist verantwortlich für die Privatisierung in seinem Dorf. Aus ihm spricht der Praktiker, den die Erfahrung belehrt hat:
O-Ton 9: Administrator Scherer (…katastrophitschnaja) (025)
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzer: „Wir haben eine katastrophale Situation. Die Sowchosen zerfallen, die Privaten bringen nichts. Die Infrastruktur zerfällt. Die Wege verrotten. Niemand will mehr arbeiten, alle wollen irgendetwas bekommen. So kann man keine Reform machen: Verordnen, aber dann die Mittel nicht geben! Dekrete erlassen, ohne zu sagen, wie sie umgesetzt werden sollen! – Aber so war es immer in Rußland. Es wird abgerissen, bevor aufgebaut wird. Und jetzt steht wieder die typische russische Frage: Was tun? Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es das Ende der Reform sein. Niedergang. Hunger.“
Erzähler In der Weiterverarbeitung ist es nicht besser. Besonders deutlich wird das in entlegeneren Gebieten. Edmund Voll, Deutsch-Russe, ist Direktor des „Butter-Käse-Kombinats“ in Gorno-Altai, der sog. sibirischen Schweiz an der Südflanke Sibiriens. Das Kombinat hat das Monopol in einem Einzugsbereich, der halb so groß ist wie Deutschland. Auf die Frage nach der Privatisierung antwortet er:
O-Ton 10: Edmund Voll (…Chotsche jest) (025)
Regie: Stehen lassen bis zu seiner eigenen deutschen Übersetzung, danach allmählich abblenden
Originaltext: „Wollen schon, aber können nicht.“
Erzähler: Bei Edmund Voll wird klar: Das Problem liegt in der Monopolstruktur. Sie hat dazu geführt, daß es in den Dörfern praktisch keine Möglichkeiten der Weiterverarbeitung gibt. Eine Privatisierung würde bedeuten, daß die Milch über Zwischenhändler abgeschlagen werden muß. Die aber drücken die Preise gegenüber den Bauern, dem Kombinat gegenüber treiben sie sie hoch. Die Endprodukte, früher zu festen Kontingenten nach Moskau oder in andere Zentren abgesetzt, müssen dann noch einmal durch die Mühle des Zwischenhandels. Dazu kommen die steigenden Transport- und Materialkosten. Dies alles läßt die Endprodukte so teuer werden, daß sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Importbutter ist billiger.
Einen Ausweg sieht Edmund Voll nur in der Schaffung kleiner Einheiten: Molkereien, Käsereien nach deutschem oder schweizer Muster. Nötig ist seiner Ansicht nach auch die Entwicklung eines eigenen Binnenmarktes in der Region und die Aufnahme eines eigenen Handels mit den Nachbarn. Aber wie? Für das eine fehlt das Geld, für das andere die politischen Mögichkeiten: Nach wie vor läuft noch alles noch über Moskau. So macht man weiter wie bisher – nur unter schwierigeren Bedingungen.
Schon im Herbst `92 ist damit klar, daß die Vorhersagen der Regierung nicht eintreffen werden.
O-Ton 11: Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk (…Uwaschaemi Deputati) (115)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten
Erzähler: Ein Jahr danach, Herbst 1993. Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk: Rechte agitieren gegen die Agrarpolitik der Regierung. Die politische Saison wird mit einer Krisensitzung zur Landwirtschaft eröffnet. Statt zu steigen wie versprochen, fiel das landwirtschaftliche Gesamterzeugnis 1992 bei privaten und kollektiven Betrieben insgesamt um 9 Prozent.
Eine besondere Bloßstellung für die Regierung wurde die Kartoffelernte: Der Anteil der Neubauern an ihr lag bei nur einem Prozent. Einen Anstieg fand sie dagegen in Gärten, auf privatem Hofland oder auf den neu verteilten Ackerparzellen vor den Städten. Hier wurden über 80% aller Kartoffeln geerntet. Das zeigt deutlicher als alles andere: Die Bevölkerung ist zur Eigenversorgung übergegangen. Damit wird eine wirtschaftliche Struktur sichtbar, wie sie als Subsistenzwirtschaft bis dahin vor allem aus Ländern der früher sogenannten dritten Welt bekannt war.
O-Ton 12: Im Foyer (Foyergemurmel, „u nas…“) (104)
Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegt halten
Erzähler: Drinnen bei den Delegierten ist der Unmut ebenfalls unüberhörbar: Zentrale Subventionen will man sehen, um die Preisschere zwischen landwirtschaftlichen Produkten und Industrieprodukten auszugleichen. Den Spekulanten im Zwischenhandel soll das Handwerk gelegt werden. Ein eigener Zugriff auf das örtliche Budget wird gefordert, um die Kosten der Reformen vor Ort bestreiten zu können, außerdem eine einmalige Unterstützung, um die bevorstehende Ernte einzuholen. Die Vertreter der Regierung greifen alle Forderungen auf – und wenden sie gegen Moskau. Damit ist der Agrarkonflikt, der sich bisher zwischen westorientierter Reform-Bürokratie und den konservativeren Kreisen des obersten Sowjet bewegt hatte, zum Territorial-Konflikt zwischen Moskau und seinen Republiken angewachsen. Die Stimmung auf den Dörfern ist inzwischen auf dem Nullpunkt. Viele Sowchosleitungen sehen sich vor der Alternative, entweder Treibstoff für die Ernemaschiinen zu kaufen oder Löhne auszuzahlen. Im Kontor der Swochose „Sibir“, seit Ende `92 ebenfalls AG, kann man fünf beschäftigungslose Frauen antreffen. Sie verwalten dort, wie sie sagen, nur noch den Mangel. Im Übrigen gilt ihre Hauptsorge dem eigenen Überleben:
O-Ton 13: Kontor Sibir, zwei (..schiwiom na tsch) (020)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzerin: „Wir leben von dem, was uns die Nebenwirtschaft ermöglicht. Wir haben eigene Milch, eigenes Brot, eigenes Fleisch. Aber generell gesagt: Wir leben nicht, wir vegetieren. Sogar unser Brot backen wir neuerdings selbst.“
Erzähler: Hierin sehen die Frauen das schlimmste Zeichen der Krise. Verständlich, wo man sich früher durch eine funktionierende Gemeinschaft versorgt sah, ist nun jeder auf sich selbst angewiesen. Kein Wunder, daß die Frauen zurück wollen: „Zurück zu den Zeiten“, fordert eine, „als unsere Arbeit noch 150 Rubel wert war.“ „Zurück zum Kollektiv“, ergänzt eine andere, „denn allein wirst Du nichts.“
Den Privaten geht es nicht besser. Den Zustand, auf den sie Ende 1993 heruntergekommen sind, schildert Bauer Wassiljew Pitschennikow. Er war früher Brigadeführer einer Sowchose:
O-Ton 14: Bauer Pitschennikow (My…) (030)
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzer: „Wir leben nicht besser, wir arbeiten nur mehr.“
Erzähler: Bitter klagt er, daß alle versprochenen Hilfen ausgeblieben seien. Die Kredite sind nicht zu bezahlen. Nicht 25%, wie ausgemacht, sondern 72% verlangt die Staatsbank als Rückzahlung. Dazu kommt die Inflation. Dabei stagnieren die Preise für Milch, Butter und andere landwirtschaftliche Produkte, alles übrige steigt steil nach oben. Die notwendigen Maschinen sind unerschwinglich. Er muß sie bei der Sowchose leihen. Er sieht seinen baldigen Bankrott vor Augen.
Warum er unter solchen Umständen nicht aufgebe? Söhnne und Enkel sollen es einmal besser haben, antwortet der Alte. Aber wollen die das? Nur zögernd antwortet er, wobei der breite Konjunktiv seine Unsicherheit deutlicher macht als er selbst es wahrhaben will:
O-Ton 15: Bauer Pitschennikow (… No, oni bili) (025)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden, am Ende hochziehen.
Übersetzer: „Sie wären einverstanden, wenn es eindeutige Gesetze gäbe. Aber die gibt es nicht. Ich verliere ja nichts als Pensionär, aber wenn meinem Sohn alles wieder weggenommen würde, wie es schon so oft geschehen ist. Das wäre schrecklich. Das Schlimmste ist die Unsicherheit. Bei uns ist es ja so: Heute hü und morgen hott. Heute kommt dieses Gesetz, morgen ein anderes. Verstehen Sie? Keine Beständigkeit der Gesetze!“
Erzähler: Die Unsicherheit macht selbst den Administratoren zu schaffen. Viele haben inzwischen kapituliert und sind zu alten Methoden zurückgekehrt. In Nowobibejewo, einer Waldarbeitersiedlung mit ca. 7.000 Seelen gleich neben der ehemaligen Sowchose „Sibir“ ist der Administrator ein junger Mann von vielleicht 30 Jahren. Er ist zugleich Vorsitzender des örtlichen Sowjet.
Nicht eins der vielen Dekrete werde in den Dörfern umgesetzt, erklärt er. Entschuldigend weist er auf zwei gut ellenbogenhohe Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch: Rechts die Erlasse Jelzins, links die des obersten Sowjet:
O-Ton 16: Nowobibejewo, örtl. Macht (…Nje tolko) (038)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzer: „Nicht nur, daß man sie nicht umsetzen kann – man schafft es ja nicht einmal sie alle zu lesen.“
Erzähler: Völlig undurchsichtig für die örtliche Basis sind die Finanzen. Die Profite, die im Dorf gemacht werden, entziehen sich der Kontrolle der „neuen Macht“. In Nowobibejewo gilt das vor allem für die Frage, wieviel Holz im Wald geschlagen und verkauft wird. Früher wurde das genau überwacht, jetzt herrscht Raubbau. Die Gewinne werden privatisiert, die sozialen Aufgaben schiebt man der Verwaltung zu. So fordert auch der junge Administrator: Mehr Rechte! Zugriff auf das örtliche Budget! Kontrolle der wilden Privatisierung und transparente Entscheidungen von oben!
Von „Oben“ war im Herbst 1993 allerdings nichts zu erwarten: Zwar hatte Präsident Jelzin eigens eine neue Behörde geschaffen, einzig um die Umsetzung präsidialer Dekrete zu kontrollieren. In der Nowosibirsker Zentrale dieser Behörde waren von deren Sekretärin, Frau Nikolajewna, aber nur Rechtfertigungen zu hören:
O-Ton 17:Im Kontroll-Apparat des Präsidenten (…sakoni jest) (037)
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzerin: „Im Prinzip haben wir gute Gesetze. Eine andere Sache ist deren Umsetzung zu prüfen! In diesem weiten Land! Sie verstehen?! Das ist einfach nicht möglich. Das heißt in der Konsequenz: Die Leute, die bisher an der Macht waren, sind es auch heute. Es ist ein Clan – die einfachen Arbeiter, erst recht das Dorf bleiben da außenvor. Die müssen allein zurechtkommen.“
O-Ton 18: Versammlung zur Selbstverwaltung (Uwaschaemi tawarischi…) (110)
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten
Erzähler: Wieder ein Jahr weiter; Herbst 1994; wieder große Regionalversammlung in Nowosibirsk; die politische Szene hat sich erheblich verändert: Präsident Jelzin hat sich mit Gewalt gegen den obersten Sowjet durchgesetzt. Es gibt eine neue Verfassung, die das Recht auf Privateigentum garantiert. Die Bodenfrage ist allerdings nach wie vor nicht entschieden und nach der landesweiten Auflösung der Sowjets ist die Lage in den Dörfern eher verworrener geworden. Niemand weiß mehr, welche Kompetenzen wo gelten. Die offiziellen Stellen versuchen, die Unzufriedenheit mit einer Kampagne für örtliche Selbstverwaltung zu kanalisieren. Aber die Skepsis der Basis ist unüberhörbar:
Ton 19: Im Foyer (Foyer…) (037)
Regie: verblenden, kurz stehen lassen, allmählich abblenden
Übersetzerin: „Das Problem ist: Nach der Auflösung des obersten Sowjet im Oktober 1993 haben viele Spezialisten die Verwaltung verlassen. Das bedeutet: Diejenigen, die die sich auskennen, sind gegangen. Und dann die Finanzen! Die Vorschläge zur Selbstverwaltung sind gut, aber die konkrete Hilfe ist gleich Null. Es wird schwierig werden – es bleibt nur zu hoffen. Ohne Hoffnung kann der Mensch ja nicht leben.“
Erzähler: Im gewerkschaftlichen Bauernverband will man sich mit der Kampagne gar nicht erst aufhalten. Sekretär Alexander Lewaschow entwirft ein düsteres Bild:
O-Ton 20: Gewerkschaft, Bauernverband (…Da, primerna…) (040)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegt halten, während des Erzählers allmählich abblenden,
Übersetzer: „Ungefähr 20 Prozent der früheren Sowchosen und Kolchosen – jetzt Aktiengesellschaften – arbeiten heute normal, ohne Probleme, haben eine stabile Arbeit. Unter `normal` verstehe ich, daß sie zwar auch subventioniert werden müssen, aber doch irgendwie mit der Marktwirtschaft durchkommen werden. Der Rest, 80 Prozent, ist in der Krise. Wohin sie sie morgen gehen, ob sie aufgeteilt werden, ob sie überhaupt nicht interessant sind für eine Privatisierung oder ob sie einfach Bankrott gehen oder wie immer, das weiß Gott allein. Wir brauchen staatliche Unterstützung. Ohne das werden die Betriebe nicht überleben.“
Erzähler: Statt Unterstützung zu erhalten, wurden die Landwirte auch noch besteuert, in manchen Gegenden bis zu 60%. Unter solchen bedingungen überholte die Entwicklung noch die Befürchtungen: Bereits Ende 1994 war die Mehrheit der Sowchosen zahlungsunfähig; die Zahl der privaten Betriebe stagnierte bei 270.000, Tendenz fallend. Pro Jahr geben seitdem mehr als 20.000 Privatbauern auf. Der Gesamtertrag im Agrarsektor fiel 1994 um sieben, die Getreideernte sogar um 18 Prozent. 1995 fiel die Gesamtproduktion um weitere 12%; die Getreideernte lag mit 60 Millionen Tonnen noch einmal um ein viertel niedriger als 1994 und erreichte damit den Tiefststand seit dreißig Jahren. 1996 setzte sich die Abwärtsbewegung weiter fort. Das böse Wort vom „landwirtschaftlichen Gulag“ machte die Runde.
Erzähler: Gennadij Schadrin, Radiojournalist, seinem Selbstverständnis nach ökologischer Patriot, ebenfalls Mitglied der Bauernpartei, bringt die unterschiedlichsten Kritiken auf einen einfachen Punkt:
O-Ton 21: Gennadij Schadrin (… w nasche)
Regie: kurz stehen lassen,unterlegen, nach Übersetzer hochziehen
Übersetzer: „In unserer Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“ …blago swjex
Erzähler: Vorstellungen dieser Art waren es, die dem von der Duma 1994 verabschiedeten, 1995 noch einmal bekräftigten Agrarkodex zugrundelagen. Darin wurde die Vergabe von Land davon abhängig gemacht, ob es landwirtschaftlich genutzt werde. Dagegen hat Boris Jelzin jetzt seine neuerlichen Erlasse gesetzt. Anders als die Praktiker vor Ort will er den Grund für die Krise der Agrarreform offenbar darin sehen, daß die Privatisierung nicht entschieden genug vorangetrieben worden sei. Ob die neue Verordnung diesmal mehr als das Papier wert ist, auf dem sie veröffentlicht wurde, wird sich zeigen. Zunächst hat sie vor allem erst einmal polarisierenden Charakter.
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