Am 16. Juni wird in Rußland ein neuer Präsident gewählt. Elf Kandidaten stehen zur Wahl. Einen Monat vor dem Urnengang ist der amtierende Präsident Boris Jelzin in einem rasanten Spurt an allen anderen Kandidaten vorbeigezogen. Nach der Wahl zur Duma Ende 1995 stand sein „rating“, also seine statistische Sympathiekurve, aug 9 Prozent. Wenige Tage vor dem Wahltermin war sie auf 33 Prozent geklettert; das seines wichtigsten Konkurrenten, des Kommunisten Gennadij Szuganow, war auf 28 Prozent eingefroren. Die übrigen Bewerber blieben mit Daten zwischen sieben und fünf Prozent abgeschlagen zurück.
Unser Autor Kai Ehlers ist quer durch die russische Föderation gefahren, um zu beobachten, wie das geschehen konnte und was das zu bedeuten hat.

O-Ton 1: Abfahrt: Tür, Bremse…    0,24

Regie: Ton kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Start in Hamburg. Für Irina und Pawel, ein Psychologenehepaar aus Nowosibirsk, die mich eingeladen haben, sie beim Transport ihres in Hamburg gekauften neuen Autos nach Haus zu begleiten, geht es zurück in den Alltag. Für mich ist es der Aufbruch in den russischen Wahlkampf. Irina und Pawel sind die ersten, die ich befrage. Was bedeutet die Wahl für sie?

O-Ton 2: Irina                0,36

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Oh je, Kai, grausig! Besser, es bliebe alles, wie es ist! Aber Veränderungen sind zu befürchten. In dem Fall kann es nur  schlechter werden: Umgekehrte Privatisierung, du verstehst? Kann sein, daß ich meine Arbeit verliere, daß sie unsere Kooperative schließen. Vielleicht nimmt man uns unsere Wohnung oder auch dieses schöne Auto; ich kann nie mehr nach Hamburg kommen – das alles hat es gegeben und es kann wieder so sein! Das ist sehr gut möglich.

…i moschit bit, konjeschna.

O-Ton 3: Pawel                0,08

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    „Die Spurrillen des Totalitalismus sind noch frisch“, wirft Pawel ein. Der Wagen könnte wieder hineinschliddern, fügt Irina hinzu.
…moschno skatitsja.

O-Ton 4: Fahrtgeräusche        0,41

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, mit O-Ton 5 verblenden

Erzähler:    Erinnerungen an die Entkulakisierung werden wach. Sie löste die kurze Zeit der „neuen ökonomischen Politik“ nach der Revolution von 1917 ab. Unter der Parole
„bereichert Euch“ hatte die kommunistische Partei zur privaten Initiative aufgerufen. Millionen mußten ihr Vertrauen damals mit dem Tode bezahlen. In abgemilderter Form wiederholte sich das nach dem Tauwetter der Ära Chruschtschow. Geblieben ist die Angst, daß die heutige Reform wieder so enden könnte. Jelzins Wahlkampf ist voll auf diese Ängste abgestellt.

O-Ton 5: Halt                0,18

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:    Erster Halt: Ein Dorf bei Minsk. Schon hier in Weißrußland ist die Beunruhigung, die die Wahl hinterläßt, spürbar:

O-Ton 6: Frauen bei Minsk    0,56

Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler (1) hochziehen

Erzähler (1):    „Wir haben unsere eigenen Sorgen. Was kümmert uns Rußland“!“ wehren diese Frauen zunächst ab. Doch dann bricht es aus ihnen heraus: „Egal, wer Präsident wird, ob Jelzin, ob Szuganow. Egal, mit welchen Verordnungen der Neue um sich werfen wird – Hauptsache, es gibt keinen Krieg!
…nje bi woini bilo bi, Schritte

Erzähler:    Kein Wunder, daß sie so reden. Haben doch die Präsidenten der „Gemeinschaft uanabhängiger Staaten“, also die Erben der Sowjetunion, soeben in Moskau erklärt, nach einem Wahlsieg Szuganows werde die Gemeinschaft, vielleicht gar die russische Föderation auseinanderbrechen.

O-Ton 7: Hauptplatz in Jarzena: Moped, Besen    0,28

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Den nächsten Halt machen wir schon in der russischen Föderation: Jarzena, Hauptplatz. Hier scheint jede und jeder mit den eigenen Dingen beschäftigt. Gut 100.000 Einwohner hat die Stadt. Es gibt eine große Motorenfabrik, die aber steht. Arbeitslosigkeit ist das größte Problem des Ortes. Wie denkt man hier über die Wahl? Eine Frau, die eifrig den Platz fegt, ist die erste, die ich frage:

O-Ton 8: Frau, die den Platz fegt    1,27

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Übersetzerin: „Ach je, was die Wahl für mich heißt? Das weiß ich selbst nicht. Aber ich gehe für Jelzin. Ich habe diese Arbeit gekriegt. Jetzt hat er die Pensionen erhöht. Zu wenig immer noch, aber immerhin doch.“

Erzähler:     Szuganow findet sie auch nicht schlecht. Bei ihm werde das Brot wieder billig. Andere Kandidaten kommen für sie nicht in Frage. Gorbatschow? Um Gottes Willen! Der hat doch mit all dem angefangen, Perestroika, Zerfall! Schirinowski? Nein, der ist ihr zu aggressiv. Weitere Namen kennt sie nicht. „Entweder für Szuganow, schließt sie, oder für Jelzin. So ganz habe sie sich noch nicht entschieden.

O-Ton 9: Zweite Alte auf dem Platz    0,37

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin kurz hochziehen

Erzähler:     „Ich, ich bin für Szuganow“ antwortet eine andere Alte, die am Wegrand Samen verkauft. „Dem Volk geht es schlecht“, schimpft sie: „Nur den Chefs geht es gut. Szuganow wird die Produktion wieder ankurbeln und die Landwirtschaft in Ordnung bringen.“ Wer Handel treiben wolle, bitte sehr! Aber vor allem brauche das Volk Arbeit. „Ich bin die Frau eines Helden der Sowjetunion“, wettert sie. „Jetzt verkaufe ich hier Samen. Finden Sie das richtig? Eine Schande ist das. Ich schäme mich!“
…menja stidna, Kind lacht

O-Ton 10: Mann in Jarzewa        0,24

Regie: Hart anschließen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Zwei Arbeiter aus der stillgelegten Fabrik: Er werde für Schirinowski stimmen, sagt der eine. Sein Begleiter nickt. Viele Kollegen, bestätigt er, dächten wie sie.
Wieso ausgerechnet Schirinowski?

Übersetzer:     „Weil Schirinowski sagt, was ist und weil er das tut, was er sagt. Den Anderen kann man nicht glauben. Das ist alles.“
… nje mogu skasats

O-Ton 11: junger Mann, Jarzewa        0,55

Regie: Hart anschließen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Für Szuganow werde er auf keinen Fall stimmen, meint dieser junge Mann. Auch nicht für Schirinowski. Der junge Geschäfstmann ist aus Moskau zu Besuch und zum Trinken an einen der Kioske gekommen. In den kleinen Städten verstünden die Leute eh nicht, worum es ginge, meint er.

Übersetzer:     „Sie stimmen für das, was man ihnen sagt: für Wurst, Wodka und Hering. Hier denkt man nicht, hier wird man durch das Leben belehrt – nachher! Aber man muß denken: Wenn Szuganow gewählt würde, wäre das eine Katastrophe. Man läßt ihm keine Chance. Sie schlagen ihn einfach tot. Banditen gibt es genug in Moskau, ganz normale.“
…mnoga, normalni, Kioskmusik

O-Ton 12: weiter unterwegs, Irina    0,36

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, verblenden

Erzähler:    Wieder unterwegs: „Der Junge hat recht“, kommentiert Irina meine Aufnahmen von Jarzewa. Eigentlich müsse man sogar sagen: In kleinen Dörfern wird getan, was das große Dorf, Moskau, sagt. Vor allem jetzt werde das sichtbar, während der Wahl. „Die Leute“, sagt Irina, „fügen sich ja wie Wachs unter der Agitation.“
…na agitaziju

O-Ton 13: Kirche in Petuschki        1,12

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, dem Erzähler unterlegen, nach Erzähler verblenden mit O.Ton 14

Erzähler:     Wie wenig Verlaß in der jetzigen Situation des Landes indes selbst auf die vertrautesten Klischees ist, erfuhr ich schon beim nächsten Halt in Petuschkin. Das ist eine kleine Stadt nur wenige Stunden vor Moskau: Soeben aus der Abendandacht gekommen, überraschen mich eine Bäuerin und ihr Sohn mit einer Analyse der Wahlkampagne, die jedem demoskopischen Institut zur Ehre gereichen könnte:

O-Ton 14: Bäuerin und ihr Sohn in Petuschkin    0,31

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun ich denke, bei uns gibt es jetzt zwei; auf die beiden verteilt sich das Volk fünzig zu fünzig: Jelzin und Szuganow. Jelzin schlief, Jetzt ist er aufgewacht. Er macht jetzt sehr viel. Die Leute hatten ihren Glauben an ihn verloren. Jetzt glauben sie wieder. Viele stehen jetzt auf seiner Seite. Er hat versprochen, daß jeder sich mit dem befassen kann, was er angefangen hat, das heißt, daß ich das tun kann, was ich will.“
…xotschitsja to djelats

Erzähler:     Ihr Sohn sekundiert:

O-Ton 15: Sohn der Bäuerin    0,17

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, er verspricht viel, natürlich. Aber die Entwicklung ist inzwischen so, daß es keine Alternative gibt. Selbst Szuganow könnte nichts mehr zurückdrehen. Wenn es keinen Krieg geben soll, dann muß es so weitergehen wie jetzt. Verstehen Sie? Stabilität!
…ponimajete, stabilnost

O-Ton 16: Sohn, Forts.        0,22

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, unterlegt lassen, allmählich hochziehen, nach Übersetzer frei stehen lassen.

Erzähler:     Den übrigen Kandidaten geben die beiden keine Chance: Jawlinski? Zu intellektuell. Fjodorow? Besser, er bliebe Arzt. Lebed? Ein General! Schirinowski? Faschist! „Und Faschismus“, sagt der Sohn, „kommt in Rußland nicht durch!“
… nje proidjot

Erzähler:    Die verbleibenden finden sie „einfach nicht seriös“. Bleibt also Jelzin. Aber auch an ihn sind die Erwartungen nicht hoch. Hauptsache, alles bleibt, wie es war. Ob ein neuer Präsident Jelzin seine Versprechen einhalten wird, ist aus ihrer Sicht schon nicht mehr interessant:

O-Ton 17: A kto snajet…?    0,08

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehn, abblenden
…prosnulsja

Übersetzerin: „Wer will das Wissen? Ja, kann durchaus sein, daß er dann wieder einschläft.“

O-Ton 18 Abfahrt, Fahrt, unterwegs    0,51

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung hochziehen

Erzähler:    Irina und Pawel zeigen sich überrascht. „Die beiden haben dir ihre helle, vernünftige Seite gezeigt“, meint Irina. Mir komme das vielleicht normal vor, fügt sie hinzu, aber sie hätte nicht gedacht, daß einfache russische Leute in kleinen Orten so gut sprechen könnten.
…takoi prostoi, Fahrtgeräusche

O-Ton 19: Luberci, Vorstadt, Frauen    0,39

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler (1) vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen

Erzähler:     Jenseits von Moskau, in der berüchtigten Trabantenstadt Luberci treffen wir auf die andere, die dunkle Seite:

„Ich weiß nicht, ich bin für Schirinowski“, sagt diese Frau. Die Rückkehr Stalins fordert sie. Ordnung gab es da, findet sie. In der Fabrik wurde nicht lange gefackelt. Mit Säufern wurde kurzer Prozess gemacht. Mangel? Stagnation? Terror? „Ach was!“, winkt sie ab, „wir haben gekriegt, was wir brauchten. Wir haben gelebt, besser als jetzt.“
… no mi schili

Erzähler:    Mein Hinweis, Schirinowski wolle doch auch Kapitalismus, sei sogar selbst Kapitalist, provoziert nur Gelächter:
„Ja, soll er doch! Wir sind auch für den Kapitalismus! In einem halben Jährchen ist sowieso alles vorbei!
… Gelächter

Von Schuganow?.

O-Ton 20: Frauen in Luberci, Forts.    0,09

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Auch das noch! Wenn´s jetzt schon schlimm ist, dann wird`s noch schlimmer! Das muß ich nicht haben. Nein ich brauch Schirinowski!“
… Schirinowski nado, Lachen

O-Ton 21: TV im Hotel, Jelzin    1,02

Regie: Allmählich aufblenden, kurz stehenlassen, nach Beginn von Jelzins Rede abblenden, unterlegen, nach Übersetzung hochziehen.

Erzähler:     Abends im Hotel. Nachrichten. Jelzin auf allen Kanälen. Auf schneeigem Bild und in schlechtem Ton kommt seine polternde Absage an den Dialog mit Szuganow daher. Vergleichbare Informationen über andere Kandidaten sucht man vergebens:

Übersetzer:     „Ich war dreißig Jahre Kommunist. Ich habe es satt, diese Demagogie weiter zu hören. Ich kann sie mit meiner heutigen demokratischen Weltanschaung nicht mehr ertragen.    Ich sage klar, daß mir seine Debatte nichts bringt: Ich stehe zu Meinem! Er aber will zurück und will kommunistische Revanche. Das wird es nicht geben. Um keinen Preis!
…nje sa schto, Klick

O-Ton 22: Nischni-Nowgorod

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Nischni-Nowgorod ist die nächste Station. Hier frage ich vor allem nach Grigorij Jawlinski und seinem Partner, dem Bürgermeister der Stadt, Boris Nemzow. Beide gelten als junges, dynamisches Team. Sie stehen für ein alternatives Modell von Reformen. Doch heißt die Antwort auch hier:

O-Ton 23: Junger Mann         0,20

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen:

Übersetzer:     „Jelzin, Jelzin! Warum? Er ist im Prinzip in Ordnung. Mit gefällt, was im Land vorgeht. Es ist eine Zeit für die Jugend. Das gefällt mir. Es gibt große Wahlmöglichkeiten, wo man arbeiten will, Möglichkeiten, die eigenen Kräfte zu entwickeln. Was will man mehr?
… tscho jetschtscho?

Erzähler:     Der junge Mann ist Student. Zur Zeit verdient er als Barmann das Geld für sein weiteres Studium. Im Prinzip sei er durchaus für Jawlinski, erklärt er. Aber damit würde er seine Stimme verschenken und deshalb werde er Jelzin wählen. Auf Jelzins rücksichtslose Sozialpolitik und auf den Krieg in Tschetschenien angesprochen, konkretisiert er:

O-Ton 24: junger Mann, Forts.    0,21
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich stimme für Jelzin bloß deshalb, damit es keine globalen Veränderungen gibt, wie das vermutlich geschehen würde, wenn die Kommunisten drankämen. Dann ginge es wieder in Richtung Bürgerkrieg.“
…graschdanskie woinje

Erzähler:     Den Krieg befürchtet auch er allerdings nicht von Szuganow selbst, sondern von denen, die einen Wahlsieg der Kommunisten nicht akzeptieren würden: von den Bankiers, von den neuen Reichen und von der Mafia.
Vor wenigen Tagen erst, erinnert er sich, hätten die neuen russischen Finanzbosse in einem offenen Brief, der in allen großen Zeitungen erschien, nicht näher genannte „Maßnahmen“ für den Fall eines Wahlsiges der Kommunisten angekündigt.

O-Ton 25: Hund                0,41

Regie: Allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, allmählich ablenden

Erzähler:    Von Nischni Nowgorod sind wir der Wolga weiter ins Herz Rußlands gefolgt. Die Wolgaregion ist zugleich das ethnisch vielfältigste Gebiet der heutigen russischen Föderation. Sechs ethnische Republiken liegen hier beieinander: Tatarstan, Tschuwaschien, El Mari, Mordawzien, Utmurtien und Baschkortastan.
Wir nahmen zunächst Kurs auf die tschuwaschische Republik. Dort nächtigen wir jetzt als Gäste des Schrifstellers Michail Juchma auf dem Dorf. Juchma, Aktivist der tschuwaschischen Kulturbewegung, gibt uns ein Bild der Wahl aus der Sicht der kleineren Völker:
…Hundegebell

O-Ton 26: Michail Juchma    1,17

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Was kann man zu den Wahlen sagen?
Es gibt keine Kultur der Wahl in der Bevölkerung. Das Volk wählt zufällig. Wen es wählen wird, ist absolut offen. Alles, was die Statistiker zur Zeit voraussagen, wird so nicht kommen. Alles entscheidet sich in den letzten zwei, drei Tagen. Das ist das Eine.
Das Zweite ist: Niemand kann garantieren, daß die Wahl nicht in bestimmten Abhängigkeiten verläuft: Ich weiß aus Erfahrungen in unserer Republik, daß häufig nicht Einzelne entscheiden, sondern die Vorstände der Kolchosen, die bezirklichen und die dörflichen Wahlkomitees.“
…selskich wibernich komitetow

Erzähler:     Das Pendel drohe für Szuganow auszuschlagen. Jelzin habe zu viele Versprechungen nicht eingelöst.

O-Ton 27: Juchma, Forts.    0,45

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:     „Das Wichtigste ist jedoch der Krieg in Tschtschenien. Das gilt vor allem für die ethnischen Republiken. Er verliert eine gewaltige Menge Stimmen in Tschuwaschien, bei den Mari und bei den Völkern des nördlichen Kaukasus. Wegen des Krieges werden sie gegen ihn stimmen. Aus diesem Grunde kann Szuganow drankommen.“
…moschit proiti.

O-Ton 28: tschuwaschische Musik    2,11

Regie: Unter dem Erzähler langsam kommen lassen, am Ende des Erzählers frei stehen lassen, allmählich abblenden, wenn der Erzähler wieder einsetzt.

Erzähler:     Juchmas Traum eines Auswegs heißt: Michail Gorbatschow. Ihn hält er für den berechenbarsten Kandidaten. Ihm allein traut er zu, den Krieg in Tschetschenien wirklich zu beenden. Zusammen mit anderen demokratischen Bewerbern könne er eine dritte Kraft bilden. Wenn sie sich nur einigen könnten! Politischer Ehrgeiz und mangelnde demokratische Kultur allerdings, fürchtet Michail Juchma, sprechen dagegen. Seine Gäste aus Nowosibirsk stimmen ihm zu. Unter solchen Erörterungen und bei einem kräftigen tschuwaschischen Bier, aus eigenem Hopfen selbst gebraut, vergeht der Abend schnell.
…Musik

Regie: kurz freistehen lassen, mit einsetzem Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:     Vor der neuen Moschee in UFA, der Hauptstadt der baschkirischen Republik, sieht alles wieder ganz anders aus. Forsch offenbart mir der örtliche Imam, ein Baschkire, seine politischen Prioritäten, nachdem er mich zuvor daran gehindert hat, die Frauen zu befragen, die vor dem Tor betteln:

O-Ton 29: Imam der Moschee    0,38
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Man muß natürlich Jelzin wählen. Obwohl ich ihn persönlich nicht liebe, weil er die Ttschetschenen als Banditen bezeichnet. Sie sind keine Banditen. Sie kämpfen um ihre Freiheit. Jelzin und seine Leute haben Grosny zerstört, wie Hitler Stalingrad. Dann noch von Banditen zu reden! Trotzdem muß man Jelzin wählen. Er hat angefangen, soll er jetzt also auch bis zum Ende gehen. Kommt ein anderer, dreht der sich um 180 Grad oder geht wer weiß wohin.“
…kuda nibud

O-Ton 30: Bettlerin        0,54
Regie: Allmählich aufblenden, nach dem Erzähler hochziehen, frei stehen lassen

Erzähler:     Kaum ist der Imam fort, kommt eine der Frauen, die ich nicht befragen durfte, hinter mir hergerannt. Sie erklärt sich gegen Jelzin. Sie ist für Szuganow. Den Imam beschimpft sie. Ein Dieb sei er! Ein Trinkgeld, was er ihnen gebe! Sie schüttelt die Münzen. Drei Datschen, drei Autos habe er. Pfui, Teufel! Wie kann man! Empört spuckt sie aus.
…wi moschesch?!

Erzähler:     Welten prallen hier aufeinander. Nicht die nationale, mehr die soziale Frage scheint hier die Menschen zu trennen.
Das Innere der Moschee ist ganz mit Teppichen ausgelegt. Hier wachen ein paar rüstige Alte. Der eine war früher Ingenieur in einem Atomkraftwerk. Der andere Brigadeführer beim Bau. „Jetzt sind wir gläubig geworden“, sagen sie.
Sie versuchen das Alte mit dem Neuen verbinden. Auf meine Frage nach Szuganow und Jelzin antwortet einer von ihnen:

O-Ton 31: Alter in der Moschee    0,39

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer (1) vorübergehend hochziehen, dann weiter unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, wenn Suganow drankommt, ist das nicht wünschenswert. Man darf die Religion nicht beenden. Gleich, ob bei Christen oder in unserer Religion: Gott kommandiert die ganze Zivilisation. Sofern er Gott nicht anrührt, ist auch der Kommunismus in Ordnung. Er war ja auch nicht schlecht. Religion muß sein. Der Gläubige tut nichts Schlechtes. Er betrügt nicht, stielt nicht, macht andere Nationen nicht runter. Er gibt allen ihre Möglichkeiten. Alle Nationen sind gleich.“
…swje nazi odinakowo

Erzähler:    Auf Jelzins Politik in Tschetschenien hingewiesen, lacht er:

Übersetzer:  (2) „Nun, gut, soll er dazu lernen! Soll er sich beraten lassen. Dann wird er schon sehen! Die Tschtschenen setzen sich doch nicht ab! Wie denn!? Ohne älteren Bruder, ohne den Sohn, ohne gegenseitige Hilfe kann man nicht leben.“
…nje moschet schits, lachen

O-Ton 32: Sowchose        0,35

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:    Wieder im Bereich des Profanen: das Büro der Sowchose „Austrum“, jetzt Aktiengesellschaft. Sie liegt an der Grenze von Baschkortastan zum Verwaltungsbezirk von Tschjeljabinsk, einem der ödesten Gebiete im südlichen Ural. Hier hat man andere Sorgen. Ein starker Mann soll her, der endlich etwas für das Dorf tut. Das ist hier klar. Aber wer? Jelzin hat das Dorf verraten. Auch darüber ist man sich einig. Szuganow hat außer der Rekollektivierung nichts anzubieten. Ein General muß her, schlägt eine Frau vor. Alexander Lebed zum Beispiel! Löst ein General die Probleme?

O-Ton 33: Sowchose, 1. Frau     0,42

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:    „Aber ja!“ lacht die Frau. „Wir brauchen doch bloß jemanden, der mal richtig richtig zufassen möchte. Da wird uns doch gleich viel wohler!“
Der sexuelle Unterton ist unüberhörbar. Schirinowskis Anbiederungen aber lehnen die Frauen ab: Er sei ein grobschlächtiger Kerl, finden sie. Von der Sorte hätten sie genügend auf der Sowchose. Da könnten sie ja gleich einen Stallburschen nehmen.
Gorbatschow? Jawlinski? Fjodorow? Müde winken die Frauen ab. Keiner von denen sagt ihnen zu:

O-Ton 34: Sowchose, Ende    0,40

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:     „Aus dem größeren Übel wählen wir das Kleinere aus“, erklärt eine Frau. „Aber wer das sein wird, wissen wir noch nicht“
„Sie sind doch alle gleich“, murrt eine andere: „Viel Worte, keine Taten. Alles für ihre Taschen – für uns tun sie nichts!“
„Wir entscheiden am Tag vor der Wahl“, meint eine dritte. „Je nach dem Wetter?“, versuche ich zu scherzen. „Genau! Nach dem Wetter!“ geben die Frauen zurück.
…da, pagoda

O-Ton 35: Tür, Fahrt, Pawel    1,30

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:     „Er ist ein Mensch des Übergangs“ kommentiert Pawel während der weiteren Fahrt Boris Jelzins bemerkenswerte Auferstehung:

Übersetzer:     „In schwierigen Momenten aktiviert er sich und beginnt zu kämpfen. Er muß siegen. In alltäglichen, friedlichen Zeiten verfällt er in Depressionen, trinkt Wodka. Niemand weiß es genau, aber sein Gesicht sieht so aus. Jetzt ist er aktiv geworden, hat Versprechungen abgegeben. Einige davon bemüht er sich sogar zu erfüllen. Wenn er Präsident bleibt, wird er sich in einem halben Jahr wieder beruhigen und alles wird sein wie es war. Es kann sogar sein, daß das nicht schlecht ist für Rußland. Im Moment ist jede Veränderung gefährlich. Neue Leute könnten kommen, die das Bisherige niederreißen – aber nur in ihrem Interesse. Wie es immer in Rußland war. Dann kommen wieder neue und reißen wieder alles ein. Wann diese irre Situation aufhört, weiß ich nicht.“
…duratski situazi, ja nje snaju

O-Ton 36: Kolotschinsk, Bus-Ankunft    0,22

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mehrmals zwischendurch hochziehen

Erzähler:     Busbahnhof Kolotschinsk, sibirische Industriewüste. Unsere letzte Station. Der Ort besteht aus einer Ansammlung von kasernenartigen Bauten mitten auf freiem Feld. In dem halb verrosteten Bus warten Dörfler aus der Umgebung. Man sieht ihnen an, daß sie zu den Opfern, nicht zu den Gewinnern der Perestroika zählen. Hier mindestens hatte ich eine Stimmung für Szuganow oder Schirinowski erwartet:

O-Ton 37: Im Bus            0,50

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch nach Belieben hochziehen, nach Erzähler ganz hochziehen

Erzähler:     „Bloß nicht Suganow!“ krächzt eine Alte, „Laß Jelzin bloß bleiben!“ schallt es mir stattdessen von allen Seiten entgegen.. Schirinowski? Der hat doch auch keinen Rubel. „Wofür wählen?“ meint eine junge Frau, „das bringt doch nur Unruhue, sonst nichts!“
„Weiter wie es ist“, „Ordnung“, „Ruhe“, Stabilität“, „Soll er bloß weitermachen“. Das sind die Ansichten, die durch den Bus schwirren, als die Türen sich vor mir schließen.
…Abfahrt des Busses

O-Ton 38: Irina            1,12
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Wieder unterwegs. Die letzten Kilometer vor Nowosibirsk. „Das Alte“, kommentiert Irina die letzte Szene im Bus, „scheint ja immer besser als das Neue.“

Übersetzerin: „So war war es bei uns mit den Säuberungen, mit Stalin und mit Breschnjew. Ein Grund dafür, daß Leute Stalin wollten, war auch, daß man daran gewöhnt war. Alles war schon eingeübt. Die Musik war geschrieben und wurde gespielt, wieder und wieder.“
…igrali, ras sa ras

Erzähler:     Der Reformator Jelzin ist zum Symbol des Konservativismus geworden. Das Volk will keine Revolution. Es will Ruhe. Es will Ordnung. Und es wird den wählen, der diese Ordnung glaubhaft verspricht. Was man von Jelzin zu erwarten hat, weiß man oder glaubt es zu wissen. Was die anderen Kandidaten bringen werden, ist ungewiß.
Vor diesem Hintergrund entscheidet nicht das Programm, sondern persönliches Charisma und materielle Präsenz. Damit ist der amtierende Präsident, der Wahlgeschenke großzügig verteilen kann, allemal in der Vorhand.
Die wahrscheinlichste Variante des Wahlausgangs ist daher wohl ein wiedergewählter Boris Jelzin mit einem Gennadij Szuganow als starkem Opponenten. Das ist vermutlich auch der einzige Weg, der einer allmählichen Entwicklung in Rußland eine Chance gibt.

gesendet: Radio Bern

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