Anderthalb Jahre nach dem versuchten Staatsstreich vom 19. August 1991 wurde in Moskau jetzt der Prozess gegen zwölf Mitglieder des „Notstandskomitees für den Ausnahmezustand“ eröffnet. Die Angeklagten waren alle Mitglieder der damaligen Regierung und ihres weiteren Apparates: Jannajew war Vizepräsident, Krjutschkow KGB-Chef, Lukjanow Vorsitzender des obersten Sowjet, Jasow Verteidigungsminister, Warennikow Kommandeur des Landheeres usw., Pugo schließlich, der sich selbst nach dem Scheitern des Versuchs tötete, war Innenminister .
Nach dem Prozess um die Zerschlagung der KPdSU ist dies der zweite juristische Anlauf, der zur Bewältigung der (post)-sowjetischen Geschichte unternommen wird. Der erste endete mit einer Teilung des Urteils: Die Spitzen der Partei wurden illegalisiert, die Grundorganisationen für legal erklärt. Der neue Prozess trägt schon am Eröffnungstag alle Merkmale desselben Spiels: Mit über 120 angekündigten Zeugenvorladungen, unter ihnen Michail Gorbatschow, Alexander Ruzkoi, Ruslan Chasbulatow, groß in Szene gebracht, wurde er doch schon am Eröffnungstag ausgesetzt. Einer der Angeklagten sei aus gesundheitlichen Gründen nicht verhandlungsfähig, heißt es.
Die unklare Verfassungslage des Landes, die schon das aktuelle Referendum erzwingt, verweist den Prozess darüberhinaus ins juristische Niemandsland. Nach welchem Gesetz soll geurteilt werden? Nach sowjetischem? Nach russischem? Nach G.U.S.-Vereinbarungen? Wer sind die Ankläger – wenn die Geschädigten, die Sowjetunion und ihr damaliger Präsident, moralisch mit auf der Anklagebank sitzen, wenn das Interesse der Bevölkerung an einer Bestrafung der Angeklagten laut Umfragen gegen Null geht, ja, Boris Jelzin nahestehende Blätter sogar einen „Honnecker-Effekt“ befürchten? Nicht zu Unrecht bestreiten die einundzwanzig Verteidiger zudem die Zuständigkeit des Militärgerichtes, wenn sein Vorgesetzter, der Verteidigungsminister Gratschkow, selber als Zeuge geladen sei.
So hat das Gericht, bevor es beginnen kann, über einen Befangenheitsantrag und einen Antrag auf Einrichtung eines G.U.S.-weiten Sondergerichtes zu entscheiden.
Bedauerlich, wenn der Prozess nicht zustandekäme. Verspricht doch eine Verhandlung entlang der Verteidigungslinie, die die Angeklagten inzwischen hinlänglich öffentlich dargelegt haben, interessante Einblicke in das, was sich im August `91 tatsächlich abgespielt hat: Die Angeklagten bestreiten, daß es einen Putsch gegeben habe. Gorbatschow habe von ihren Plänen gewußt, sie mit ihnen beschlossen, zumindest aber gebilligt.
Diese Sicht der Dinge, die im Westen immer noch Erstaunen hervorruft, war im Lande selbst schon eine Woche nach den August-Ereignissen Allgemeingut, nämlich, daß die gescheiterten Putschisten nur die Notstandsmaßnahmen ausgeführt haben, die sie als Regierung zuvor mit Gorbatschow gemeinsam beschlossen hatten.
Selbst in der westlichen Presse konnte, wer wollte, in den Monaten zuvor den atemberaubenden Notstands-Fahrplan der Regieung Gorbatschow verfolgen: Seit dem Sommer 1990 kursierten Putschgerüchte in der Union. Die zunehmende Aushöhlung der Präsidentenmacht gab der Diskussion um den „chilenischen Weg“ zunehmend Stoff. Wie heute Boris Jelzin verlangte damals Michail Gorbatschow Sondervollmacht nach Sondervollmacht. Nach den ersten, noch halbherzigen Preisfreigaben im März `91, nach den Toten in Wilna, mit den Bergarbeiterstreiks und mit unionsweiten Demonstrationen erreichte die Unuhe in der Bevölkerung erstmalig den Charakter einer Volksbewegung. Dies war Anlaß für Gorbatschow, Jelzin und die Führer von weiteren acht Republiken, ihre Rivalität zugunsten einer gemeinsamen Befriedungspolitik aufzugeben. Dies fand seinen Ausruck in dem „Neun plus Eins“-Konmpromiß für einen neuen Unionsvertrag Ende Aopril ’91, der die sozialen und nationalen Probleme wieder regierbar machen sollte.
Als „Gemeinsame Erklärung über unverzügliche Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage im Lande und zur Überwindung der Krise“ erblickte der Kompromiß das Licht der Welt. Unter die darin beschlossenen Maßnahmen fielen neben der sofortigen Beendigung der Streiks durch Untersstellung der Kohlegruben unter die Verwaltungshoheit der russischen Republik die beabsichtigte Einführung eines besonderen „Regimes der Arbeit“, eine Ausweitung der vorher nur punktuell praktizierten Streikverbote auf praktisch alle Industriebetriebe, sowie die Verkündung des „Endes der Gesetzlosigkeit und des Schlendrians in der Wirtschaft und Verwaltung“. Mit der Durchführung der letztgenannten Aufgabe wurde KGB betraut, dessen Kompetenzen damit ausgeweitet wurden. Proteste zur Durchsetzung politischer Ziele wurden für nicht legitim erklärt. Die Medien wurden erneuter Zensur unterstellt. Ein Notstandskomitee, dem unter anderem Ministerpräsident Pawlow, Innenminister Pugo, sowie andere der heutigen Angeklagten engehörten, wurde gegründet.
Zwei Wochen später verkündete Minuisterpräsident Pawlow ein Anti-Krisen-Programm im Sinne dieser Vereinbarungen. Nach weiteren vier Wochen beanspruchte er Sondervollmachten zur Durchsetzung von Notverordnungen im Rahmen des Programms. Einen Tag danach warfen Verteidigungsminister Jasow, KGB-Chef-Krjutschkow und Innenminister Pugo dem Präsidenten Gorbatschow namens der erzkonservativen „Sojus“-Fraktion des obersten Sowjets, dem Vorläufer der heutigen „Einheit“ wegen seines Vorpreschens in Sachen Unionsvertrag Verfassungsbruch vor und pochten auf die Einhaltung der vereinbarten Notstandsbeschlüsse. Demokratische Abgeordnete des obersten Sowjet kritisierten zu dem Zeitpunkt öffentlich die „koordinierte Kampagne“ zum Sturz Gorbatschows. Gorbatschow selbst wiegelte ab. Pawlows Verlangen liege ganz und gar auf der Linie der „Gemeinsamen Erklärung“.
Seine Reise zum Londoner Gipfel der „G-7“-Staaten im Juni `91 unternahm Gorbatschow mit einem einträchtig zwischen ihm und seinem Innenminister ausgehandelten Anti-Krisen-Programm. Erst als Gorbatschow mit leeren Händen aus London zurückkam, weil die „G-7“-Staaten die von ihm angebotenen Strukturanpassungs-Maßnahmen für nicht ausrechend erklärten, wurden die Mahnungen aus seinem Umkreis zur Einhaltung der Notstandsbeschlüsse drängender. Jetzt müsse man auf die eigenen Kräfte bauen, verkündete Ministerpräsident Pawlow. Gorbatschows Politik der Balance war gegen diesen Druck nicht mehr zu halten. Pawlows letzte Warnung stammt vom 13. August. Er kündigte an, Löhne und Gehälter einzufrieren und warnte zugleich vor einem Machtvakuum, wenn der Zentralregierung durch die beabsichtigte Unterzeichnung des Unionsvertrags der Einfluß auf die Wirtschaftspolitik entzogen werde. Jelzin, der sich parallel zu Gorbatschows Londoner Bemühungen zu Beratungen über sein wirtschaftliches Schockprogramm, bekannt als „500-Tage-Programm“, in den USA aufgehalten hatte, verschärfte die Lage durch einen Erlaß zum Verbot der Strukturen der KPdSU in den Betrieben der russischen Republik, ließ aber im Übrigen keine Absichten erkennen, aus der Notstandsfront auszusteigen. Wenige Tage später verkündete das „Komitee für den Notstand“ Pawlows letzte Warnungen und die früher beschlossenen Maßnahmen der „Gemeinsamen Erklärung“ als ihr politisches Programm.
Soweit die bekannten Fakten.
Die Frage, die in dem Prozess gekärt werden könnte: Kann eine Regierung, zumal eine vom Zuschnitt der damaligen sowjetischen Staats-Parteileitung, die die von ihr und ihrem Präsidenten gemeinsam beschlossene Notstandspolitik gegen dessen Zaudern in die Tat umsetzt, des Putschismus beschuldigt werden – zumal sie offensichtlich den Einsatz von Militär vermied? Was hat Gorbatschow davon gewußt? Anders, was hat er gegen diesen absehbaren Schritt unternommen? Und Jelzin? Was ist von dem im Lande weit verbreiteten Vorwurf zu halten, er habe ein doppeltes Spiel getrieben, indem er das Notstandskomitee in dem Glauben ließ, er stehe hinter den Maßnahmen – um sich im entscheidenen Augenblick mit Rückenwind aus Amerika, mit Hilsversprechungen des IWF und der „G-7“-Staaten gegen das „Notstandskomitee“ zu wenden? Auf Enthüllungen von Einzelheiten zu diesen Fragen dürfte man mit Recht gespannt sein, dies umso mehr, da Boris Jelzin sich heute in einer Situation befindet, die in manchem der damaligen von Michail Gorbatschow gleicht. Es ist aber zu befürchten, daß die Chance zur Korrektur falscher Mythen wieder einmal nicht genutzt wird.