Ein Votum für vorgezogene Neuwahlen des Präsidenten wie auch des Kongresses hatten Optimisten sich von dem Referendum erhofft. Nun ist der Präsident Sieger. Bei einer Beteiligung von 62 Prozent sprachen nach vorläufigen Hochrechnungen 58,8 Prozent Boris Jelzin ihr Vertrauen aus. 52,2 Prozent stimmten für seine Wirtschaftspolitik. Neuwahlen aber wird es nicht geben: Nur 32,8 Prozent stimmten für Neuwahl des Präsidenten, 42,9 Prozent für die des Kongresses. Das reicht für eine Mehrheit nicht aus, selbst wenn auch für diese Fragen die vom Verfassungsgericht noch kurzfristig korrigierte Zählweise gelten würde, nach dem 50 Prozent der Beteiligten, statt der gesamten 106 Millionen Wahlberechtigten als Zustimmung zu rechnen seien.
Alle Beteiligten interpretieren das Ergebnis zu ihren Gunsten: Boris Jelzin wertet es als Vertrauensbeweis für seine Person, für seine Politik und insbesondere für seine noch am Abend vor dem Referendum vorgebrachte Ankündigung einer Verfassungsänderung, die er – das positive Votum vorausgesetzt – verwirklichen wolle. Sie soll die seit Ende des Jahres `92 faktisch nicht mehr legitimierten Ausnahmerechte des Präsidenten als verfassungsmäßige Präsidialherrschaft, ergänzt durch ein Zweikammerparlament festschreiben. Darin hätte der Präsident das Recht, die Regierung zu ernennen, Erlasse mit Gesetzeskraft herauszugeben, Neuwahlen für das Parlament anzusetzen und wäre zudem oberster Kriegsherr. Der oberste Volkskongress dagegen soll abgeschafft werden, seine Entsprechungen auf Landes- und Ortsebenen ebenso. Für den Fall seines Sieges hat Boris Jelzin zudem die Durchführung nicht näher spezifizierter „harter Maßnahmen“ angekündigt.
Seine Gegenspieler im Kongress erklären, nichts sei entschieden. Sie kündigen die Fortsetzung der Auseinandersetzung an.
Dies alles könnte als Geplänkel beiseite gelassen werden, das üblicherweise nach Volksabstimmungen oder Wahlen veranstaltet wird, wenn es nicht um Russland ginge, wo nichts auf üblichen Wegen läuft, sondern die Übergangssituation das Alltägliche ist.
So ist als Ergebnis des Referendums festzuhalten:
– Für die von Boris Jelzin angekündigte Verfassungsänderung mit der logischen Konsequenz einer Liquidierung des Kongresses und Neuwahl eines Parlaments gibt es weder ein Mandat, noch eine verfassungsmäßige Grundlage. Nach wie vor gilt die alte Verfassung. Unklar ist auch, wie eine verfassungsgebende Versammlung zustande kommt. Boris Jelzins Ankündigungen einer neuen Verfassung können nur gegen den Widerstand des Kongresses durchgesetzt werden.
– Das Wahlergebnis ist zwar ein klarer Sieg, aber keineswegs einheitlich. Es differenziert sich vielmehr nach Stadt und Land, nach reich und arm. In den Zentren wie Moskau, wie St. Petersburg oder auch einigen sibirischen Industrieregionen lag die Wahlbeteiligung mit 64 oder 65 Prozent über dem Durchschnitt. Die Zustimmung zu Boris Jelzin lag in Moskau bei 75,3 Prozent, die zu seiner Wirtschaftspolitik bei 70,1 Prozent. Nur 20,8 Prozent stimmten für die Neuwahl des Präsidenten, aber beachtliche 51,1 Prozent für die Neuwahl des Kongresses. Ähnlich in St. Petersburg und anderen Zentren, sowie reicheren, genauer rohstoffreicheren Provinzen, die sich von der Öffnung zum Weltmarkt Vorteile versprechen können.
Auf dem Lande dagegen und in weniger reichen Provinzen und Republiken, beispielsweise an der mittleren Wolga bei den Utmurten und Mordwinen beispielsweise bekam Boris Jelzin ein Klares Nein zu seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die Tataren waren ohnehin gegen das Referendum: Man sieh die alten Strukturen zerfallen; an den Neuerungen hat man keinen Anteil, fühlt sich stattdessen zusätzlich zu den alten nun auch noch von den neuen Moskauer Monopolen ausgebeutet.
Das Vertrauen für Boris Jelzins ist vor diesem Hintergrund ein Votum der reichen Zentren für eine starke Zentralmacht zur Niederhaltung der sozialen und nationalen Unruhe, keineswegs für Demokratie und föderale Selbstbestimmung.
– Schließlich hat Boris Jelzin zwar das Mandat für seine Politik erneuert, er hat dies aber mit Versprechungen und Zugeständnissen erkauft, die er jetzt so wenig zu erfüllen imstande sein wird wie bisher: So verfügte er noch vor dem Referendum, dass die Ersparnisse, die Minimalrenten und Mindestlöhne künftig nicht mehr inflationsbedingt entwertet würden. Sie sollen vielmehr ständig neu indexiert werden. Den Bergleuten in Kemerewo versprach er eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Den Studenten sagte er eine Erhöhung der Stipendien zu, der Soldaten eine Anhebung ihres materiellen Lage. Er nahm die eben erst verkündete Preiserhöhung für Benzin zurück. Schließlich verfügte er, ganz auf der Linie der Direktoren, eine Begrenzung der Arbeitslosigkeit. Danach sollen bei Bankrotten zukünftig 70 Prozent der Beschäftigten übernommen werden, wenn auf Basis des alten Betriebes neue errichtet werden. Außerdem müssen sich die Betriebe verpflichten, ausstehende Löhne und Sozialleistungen für die Arbeiter zu begleichen, bevor sie Konkurs anmelden.
Es ist offensichtlich, dass Boris Jelzin der Forderung der Gewerkschaften nach „Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen“, insbesondere auch dem Bündnis zwischen Gewerkschaften und der „Bürgerunion“, also den Direktoren, damit das Wasser abgraben will. Er bietet sich stattdessen selbst als Garant eines sozialen Kurses der Reformen an. Ebenso offensichtlich ist aber, dass ein solcher Kurs Geld kostet. Manch einer mag jetzt noch oder kurzfristig wieder glauben, dass Boris Jelzin seine Versprechungen aus den Unterstützungsfonds von IWF und Weltbank begleichen wird. Sehr schnell aber wird deutlich werden, dass die 87 Milliarden Mark, die kürzlich beim Treffen der G7-Staaten als Russlandhilfe vereinbart wurden, ihrerseits noch nicht mehr sind als Versprechungen. Darüber hinaus sind sie an Auflagen gebunden, die von der russischen Regierung verlangen, die Sozialausgaben zu kürzen, nicht aufzustocken und unproduktive Anlagen zu rationalisieren, also Arbeitslosigkeit flächendeckend in Kauf zu nehmen. Nach dem Sieg wird Boris Jelzin nun sehr schnell zum Offenbarungseid kommen.