Eine komplizierte Situation ist entstanden: Nach dem gescheiterten Putsch vom August `91 zerfiel nicht nur die UdSSR, mit der Zerschlagung der KPdSU wurde auch die alte Staatsspitze liquidiert. Ein nach sowjetischem Recht gewählter Kongress einer früheren Teilrepublik der Union avancierte unvermutet zum höchsten Staatsorgan des neuen russischen Staates. Er ist zu Zweidrittel aus Betriebs- und Institutsvertretern und einem Drittel aus Kandidaten der damals oppositionellen Bewegung demokratisches Russland zusammengesetzt. Damit repräsentierte er die reale Sozialstruktur des Landes. Heute will er einen Präsidenten wieder unter Kontrolle nehmen, den er selbst erst zum Präsidenten der Republik und nach dem August `91 durch Sondervollmachten zum Alleinherrscher machte, damit er sein „500-Tage-Programm“ von oben ohne Behinderung durchsetzen könne. Faktisch entstand dabei aber nur eine Doppelstruktur, bei der dem Präsidenten die soziale Basis und der sozialen Basis die politische Macht fehlt. Der Ausgleich soll unter der Kontrolle eines Verfassungsgerichtes geschehen, dessen Kompetenzen ebenfalls noch aus der sowjetischen Zeit stammen und das auf der Grundlage der alten Verfassung arbeitet. Es ist klar, dass das Land unter solchen Bedingungen zunehmend in Clanstrukturen, Patronage und offen korrupte Seilschaften zerfallen muss.
Mit dem Referendum am 25.4. soll nun der Versuch gemacht werden, der Staatsmacht eine neue Legitimation zu verschaffen. Vier Fragen soll die Bevölkerung nach anderthalb Jahren Jelzin-Herrschaft beantworten: Vertrauen Sie dem Präsidenten? Billigen Sie seine Wirtschaftspolitik? Sind sie für vorgezogene Neuwahlen des Präsidenten? Sind Sie für vorgezogene Neuwahlen des Kongresses?
Noch wenige Tage vor dem Stichtag nimmt das Taktieren, das schon die letzten Monate bestimmt hat, kein Ende: Boris Jelzin will per Dekret den Abstimmungsmodus ändern. Die Gegenseite erklärt seine Absicht als verfassungsfeindlich. Die einen erklären ein Misstrauen gegen den Präsidenten, die anderen das gegen den Kongress als Katastrophe und wollen das Referendum als Abstimmung über Fortsetzung oder Abbruch des Reformkurses erscheinen lassen. Folgerichtig fordern beide ihre Anhänger und Anhängerinnen auf, gegen vorgezogene Neuwahlen zu votieren – die Jelzinisten gegen die des Präsidenten, die Deputierten gegen die des Kongresses.
Neulinke Kritiker, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager zurechnen, geben ein vollkommen anderes Bild von der Lage: „Zwei nein, zwei Ja“ erwartet Boris Kagarlitzki, ein auch im Westen bekannter Analytiker. Er ist heute einer der Köpfe der reformlinken und gewerkschaftsorientierten „Partei der Arbeit“, die seit Sommer `92 einen Kurs zwischen Regierung und Alt-Kommunisten zu finden versucht und sich dabei zunehmend den Kräften des „Zentrums“ angenähert hat. Seine Prognose: „Es wird so sein, dass die Leute nicht zur Abstimmung gehen, die Mehrheit. Kann sein, dass die Hälfte zur Stimmabgabe geht. Ehrlich gesagt, ich hoffe sehr, dass die Mehrheit für die sofortige Neuwahl von Parlament und Präsident abstimmt, also die gleichzeitige Wahl des einen und der anderen.“
Jelzin und der Kongress, so Kagarlitzki weiter, seien heute gleichermaßen unpopulär. „Meiner Meinung nach ist die Macht menschenfeindlich, aber die Opposition ist nicht viel besser. Und weder die Macht noch die Opposition werden wirklich von den Menschen unterstützt; daher die einzigartige Möglichkeit, diese Situation zu ändern. Deshalb ist das sehr positiv, was da kommt.“
Eine große Koalition aus „Bürgerunion“ und linken Gruppierungen habe sich gebildet, berichtet er, einschließlich der „Partei der Arbeit“ bis hin zu „Sozialistischen Partei der Werktätigen“. Auch die Gewerkschaften gehörten dazu. Die „Kommunistische Partei Russland“ sei isoliert. Ihre Positionen in dieser Frage seien aber dieselben wie die der Koalition.
Keineswegs, so Kargarlitzki, gehe es um die Alternative: Fortsetzung oder Abbruch des Reformkurses. Vielmehr gehe es um Korrekturen, die die Fortsetzung der Reformen ermöglichten: Boris Jelzin habe seine soziale Basis verloren, seine soziale Unterstützung. „Es gab ja einen großen Block für die Marktreformen. Dann haben sie die sozialen Schichten differenziert und so die soziale Basis desintegriert. Und auch einige, sozusagen bürgerliche Schichten oder quasi-bürgerliche Schichten sind oppositionell geworden, ebenso Technokraten. Bei den neo-liberalen Reformen geschieht ja nichts, praktisch kommt nichts voran. Daher sind viele soziale Gruppen und Schichten, die `91 oder `90 für Jelzin waren, jetzt gegen ihn.“ Nicht die Kommunisten seien Boris Jelzins Problem. Sie hätten zu ihrer Neugründung ganze 200.000 Leute mobilisieren können. Nein, die Ex-Jelzinisten seien es gerade, wie Alexander Ruzkoi, wie Ruslan Chasbulatow, die zu einer sehr aggressiven und sehr starken Opposition herangewachsen seien.
Andere Teile der Linken sind mit der zentristischen Orientierung der „Partei der Arbeit“ nicht einverstanden. So Vadim Damier, Historiker, Grüner Aktivist, Anarchist. Er setzt seine Hoffnung auf einen Boykott des Referendums. In der Beurteilung, worum es bei dem Referendum gehe, ist man sich jedoch vollkommen einig: „Natürlich erstens um die Macht. Zweitens wohl um die Neuverteilung des Eigentums, obwohl man darüber nicht offen spricht. Das heißt, es ist ganz klar, dass zwei verschiedene Konzepte der Privatisierung existieren und zwar seitens der Regierung und der Direktoren. Das ist zum einen vor allem Vermittler- und Mafia-Kapital, während die Direktoren andererseits die Rolle des industriellen Kapitals spielen. Wichtig ist außerdem, dass der internationale Währungsfond Subventionskürzung fordert. Für die Direktoren heißt das praktisch Verlust der Betriebe, also der kontrollierten Zonen.“
Die regierenden Kräfte, so Vadim weiter, seien vor allem für das Aktionierungs-Modell nach dem tschechischen Muster. „Das heißt“, erklärt er, „dass ein Großteil praktisch in die Hände der Mafia gerät. Für die Direktoren geht es theoretisch um die Übergabe des Kontrollpakets in die Hände des Kollektivs, der Belegschaft; praktisch heißt das natürlich unter die Kontrolle der Direktoren, weil die Aktien innerhalb der Belegschaft ganz ungerecht verteilt werden.“
Auch Vadim kann in dem Referendum keine Alternative zwischen Kommunisten und Demokraten sehen: „Nein, Quatsch, Quatsch, das ist Quatsch. Eigentlich sind die Kommunisten überall, in allen Gruppen. Sie sind im nationalistischen Lager, bei den Zentristen und überall, nicht offen natürlich, auch im Jelzin-Kommando – Jelzin selbst, ja?! Wer ist er?“ Klar unterstütze die nationalistisch-kommunistische Koalition gegenwärtig den zentristischen Block gegen Jelzin, aber die Interessen seien nicht dieselben.
Die Polarisierung sei künstlich gemacht, um davon abzulenken, dass die konstruktiven Vorschläge zurzeit alle aus der „zentristischen Opposition“ kämen, erklärt Viktor Komarow, Sekretär der gewerkschaftsoppositionellen Zeitung „Solidarnost“ in St. Petersburg. „Dabei“, so Viktor, „ist das linke Zentrum wohl noch der konstruktivere Teil.“ Die Extreme dagegen, die Radikalliberalen, also die Jelzinisten auf der einen und die national-bolschwistischen Kräfte auf der anderen Seite, könnten dabei weg brechen. In der breiten Öffentlichkeit sei das alles leider wenig bekannt.
Worin besteht die Alternative des Blocks? Die Reformen müssten menschlicher werden, fordert der Gewerkschafter Viktor. Darin sei man sich mit dem Zentrum einig. Das stimmt im Übrigen mit den Forderungen der „Föderation unabhängiger Gewerkschaften“ überein, die unter der Parole „Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen“ im Oktober ’92 erstmals föderationsweit zum Widerstand gegen die Regierungspolitik aufgerufen hatte. Vor allem müsse man die staatlichen Vermögen und Unternehmen stärken. „Dass heißt, „so Viktor, „die Privatisierungspolitik ändern. Sie muss zugunsten der arbeitenden Kollektive stattfinden, für die, die im Unternehmen arbeiten.“
Boris Kakarlitzki wird deutlicher. Wirtschaftliche Alternative heißt für ihn in der gegebenen Situation: „Staatseigentum, mehr Keyneseanismus, mehr Vergesellschaftung und Regulation, aber natürlich die legislative Garantie für Privateigentum, vielleicht, ich habe das nicht gern, auch einige legislative Garantien für ausländische Unternehmer. Der Staat aber muss der wichtigste ökonomische Agent sein, der mehr wiederaufbauen kann, der den Staatssektor der Wirtschaft reorganisiert usw.“
Das klingt wie ein Rückgriff auf kommandosozialistische Vorstellungen und die Gefahr besteht durchaus, dass der Zug auf dieses Abgleis kommt. Die Absichten zielen auf Anderes. Worauf, das kann man von Oleg Woronin hören. Woronin ist Dozent der Geschichte in an der Universität in Irkutsk und ebenfalls Mitglied der „Partei der Arbeit“. Wie Kagarlitzki hofft er auf eine Entscheidung zur Neuwahl. „Die Reformen kommen nicht vom Fleck. Nur in Sachen Privatisierung geschieht noch etwas. Deshalb denke ich, dass es jetzt einfach unumgänglich ist, die Reformen schneller zu betreiben. Das aber kann nur eine normale Macht bewerkstelligen und nicht eine solche, wie sie uns aus der Vergangenheit übriggeblieben ist.“
Bleibt zu wünschen, dass die Bevölkerung diesen Auftrag, eine „normale Macht“ zu bilden, am 25. formuliert. Was dann geschieht, ist offen. Keiner der Befragten macht sich darüber Illusionen. Denn was unter den Bedingungen der russischen Krise unter einer „normalen Macht“ zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.