Einführung: Fakten statt Klagen
Seit dem letzten Bankenkrach im Sommer 98 gehören Klagen zum Standard, wenn von Russland die Rede ist. Dieses Ritual soll hier nicht wiederholt werden. Auch Kritik an der Russlandpolitik des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist inzwischen üblich. Daran gilt es allerdings zu erinnern, denn, kaum erhoben, scheint sie schon wieder in Vergessenheit zu geraten. Horst Köhler war es, der Präsident der Osteuropabank, der zur Jahrestagung des IWF, welcher dem Bankenkrach folgte, öffentlich erklärte, der Fond müsse von dem Versuch wegkommen, Russland per Kreditversprechen westliche Vorstellungen aufzwingen zu wollen. Der Westen müsse stattdessen an den traditionell gewachsenen Strukturen des Landes anknüpfen, wenn er an einer Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft in Russland interessiert sei. Bundeskanzler Gerhard Schröder schloss sich diesen Ausführungen bei seinem Antrittsbesuch in Moskau an.
D´accord! Das sind Forderungen, die von einsichtigen Beobachtern seit Beginn der Perestroika, noch mehr seit Boris Jelzins Übergang auf die Schocktherapie 1991/2 erhoben werden. Gut, dass diese Einsicht nun auch in Finanz- und Regierungskreisen formuliert wird. Wie aber weiter?
Welcher Art sind die gewachsenen Strukturen, an denen angeknüpft werden soll? Darüber hört man nur wenig. Genau darüber aber muss jetzt gesprochen werden. Es geht, um es vorweg zu sagen, um Russlands korporative Grundordnung. Sie zu verstehen, ist Voraussetzung jeder Erneuerung deutscher Politik in Russland und darüber hinaus im nachsowjetischen Raum.
In sieben Schritten wird sich der folgende Essay diesem Thema nähern:
1. Geschichte des Korporativismus. 2. Etappen der Modernisierung. 3. Das sowjetische Modell vor Perestroika. 4. Gescheiterte Entkollektivierung. 5. Restauration als Alternative? 6. Autoritärer oder demokratischer Weg? 7. Aussichten auf eine andere Russlandpolitik.
1. Bedingungen und Geschichte des russischen Korporativismus
Russland ist – entgegen weitverbreiteter Vorstellungen – nicht Europa. Es ist der Durchgangsraum zwischen Asien und Europa. Es ist aus den großen Völkerbewegungen entstanden, die im Lauf der Geschichte vom Osten des euroasiatischen Raums nach Westen und vom Westen nach Osten, zwischen Pazifik und Atlantik hin und her fluteten. Das waren die Hunnen kurz nach der Zeitenwende bis zum Höhepunkt ihres Sturms unter Attila im fünften Jahrhundert, das waren die Mongolen im dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, danach noch einmal die Türken. In der Gegenbewegung, immer wieder von Westen nach Osten, der Deutschritterorden, die Russen selbst, Napoleon, zuletzt Hitler.
Russland, die Sowjetunion, heut wieder Russland ist die Vielvölkerordnung, die sich aus diesen Völkerbewegungen herausbildete. Das russische Imperium entstand in der europäischen Gegenbewegung zum mongolischen Weltreich, im Zuge eine Kolonisation, die den mongolischen Einfluss Schritt für Schritt – einmal kämpfend, einmal in geschickter Bündnispolitik – nach Osten zurückdrängte, dabei aber die Raumordnung der Mongolen, ihre Herrschafts- und zu geringeren Teilen auch ihre Sozialstruktur, insbesondere deren nomadische Elemente, als Eigenes adaptierte, transformierte, integrierte.
Im Jahrhunderte langen Mit- und Gegeneinander, in wechselnden Bündnissen, in Kriegen, Revolten und Kämpfen ging vor allem die mongolische Gefolgschaftsordnung auf das russische Imperium über. Das bedeutet im Wesen: Völker, Stämme, auch Fürsten ordnen sich der Zentralgewalt unter, welcher sie den Zehnten als Tribut zahlen und der sie Heeresfolge leisten. Im Übrigen können sie nach ihren eigenen Traditionen und Gesetzen unter eigener Führung leben. So wie vorher der Groß-Chan, wurde der Moskauer Groß-Fürst, später der Selbstherrscher aller Reussen, der Zar, zur Klammer, welche die vielen verschiedenen Völker, Kulturen und Gegenden des euro-asiatischen Raumes verband, während die Menschen in den Weiten des Landes nach eigenen Vorstellungen lebten.
Russland ist auch klimatisch nicht Europa. Russland erstreckt sich über sieben Zeit-, dazu von Norden nach Süden über nahezu sämtliche Klimazonen, vom Polargebiet bis zur Hitzewüste, in denen völlig unterschiedliche Bedingungen für Ackerbau, Viehzucht und menschliche Lebensführung bestehen. Darunter bilden solche, wie wir sie aus Europa kennen, den kleinsten Teil. Entsprechend unterscheiden sich die Wirtschaftsräume Russlands voneinander. Das alte Moskau hat es nie geschafft, diese ungleichzeitigen Entwicklungen zu egalisieren. Erst der Sowjetunion gelang es, die unterschiedlichen Entwicklungen über eine gewisse Zeit und in einem beschränkten Maße zu vereinheitlichen. Das hat gewaltige Entwicklungskräfte freigemacht; genau daran ist die Union aber auch, nachdem sie ihre Schuldigkeit als Anschubmotor getan hatte, auseinandergebrochen.
Unter all diesen Bedingungen entwickelte sich die besondere Struktur des russischen Imperiums, der Sowjetunion, geografisch, ökosozial, mental: Das Zentrum als politische Klammer – vor Ort die korporative Einheit.
Diese Einheit war das Volk, das Fürstentum, der Stamm, die Kultur- oder Religionsgemeinschaft, die Stadt und schließlich das Dorf, alles in vielfacher Weise einander überlagernd. Im Dualismus von Zar und Dorf – oder an Stelle des Zaren: Kirche, Gutsherren – fand diese Grundordnung schließlich ihre institutionelle, staatstragende Grundform. Die Dorfgemeinschaft war die Verwaltungseinheit des Zarismus, sie hatte entsprechend der Anzahl der in ihr gemeldeten „Seelen“ Steuern und junge Männer für den Kriegsdienst abzuführen. Im Übrigen war sie für ihre wirtschaftliche Entwicklung und ihre inneren Verhältnisse selbst verantwortlich. Nach außen wurde die Gemeinschaft durch den Dorfältesten vertreten. Dessen Entscheidungen waren, war er einmal gewählt, widerspruchslos hinzunehmen; nach innen genoss sie Selbstverwaltung. Innerhalb der Gemeinschaften wurden Entscheidungen, wir würden heute sagen, basisdemokratisch auf Grundlage einer gemeinschaftlichen Eigentumsordnung in einer Mischung aus Konsens- und Mehrheitsprinzip getroffen. Die wichtigste Einrichtung war dabei die regelmäßig für jede Generation neu in öffentlicher Versammlung vorgenommene Umverteilung des Gemeineigentums. Dabei wurde das Land nach Zahl der Köpfe an die einzelnen Familien des Ortes zur zeitlich begrenzten Nutzung übergeben. Auch dies vollzog sich in öffentlicher Versammlung und durch Zuruf.
In dieser Herrschaftsform, der Verbindung von absoluter Selbstherrschaft mit selbstverwalteter Dorfgemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe, fanden sich die Grundzüge der mongolischen Tribut- und Gefolgschaftsordnung wieder, einschließlich der Jurten- bzw. Hordendemokratie, angewandt auf eine sesshafte Dorfkultur. Charakteristikum der mongolischen Ordnung war ja ebenfalls: langes basisdemokratisches Palaver, Entscheidungen in einer Mischung aus Konsens- und Mehrheitsprinzip, nach der Entscheidung aber unbedingter Gehorsam gegenüber dem gewählten Führer.
Diese Form der Herrschaft war für die Moskauer Zaren äußerst
bequem, garantierte sie ihr doch den direkten Zugriff auf Finanzen und Truppen – ohne dass sie sich um die Entwicklung vor Ort weiter kümmern musste. Die Dörfer hatten umgekehrt die Gewissheit, unter dem Schutz des Zaren zu stehen, ohne nach fremden Traditionen und Gesetzen leben zu müssen. So war beiden Seiten gedient: dem Zentralismus und der Demokratie, ja, Anarchie, Anarchie im Sinne selbstbestimmter, von unmittelbarer Herrschaft abgeschirmter Räume. In dieser Doppelstruktur entwickelte sich das russische Imperium.
Es hatte damit einen Weg eingeschlagen, der sich klar von den Entwicklungslinien im westlichen Europa, aber auch in Asien unterschied, wo die gemeineigentümliche, selbstverwaltete Bauerngemeinde schon früh in den feudalen Strukturen der Lehnsordnungen verschwand. In Russland dagegen wurde diese Bauerngemeinde zur Grundzelle gesellschaftlichen Seins, zur Grundeinheit staatlicher Verwaltung, ja, insofern die mit dem Zaren verbundene Kirche sie als gottgewollt absegnete, zur moralischen Grundeinheit. Aber nicht nur das: Festgeschrieben durch Verordnungen aus dem 15. Jahrhundert, war dem Bauern verboten, sein Dorf zu verlassen. Zur gleichen Zeit, als im Westen die Leibeigenschaft tendenziell überwunden wurde, geriet die Landbevölkerung Russlands in einen sozialen Status, für den es im Westen nicht einmal einen Begriff gibt: Die Bauern wurden selbstverwaltete Leibeigene, klar gesagt also, Hörige, Sklaven, die nach Willkür des Zaren oder seiner Stellvertreter verschenkt, verkauft oder bis aufs Blut ausgesaugt und gepeinigt wurden – dies alles aber, während sie zugleich unter basisdemokratischen, urkommunistischen Verhältnissen der Selbstverwaltung und gegenseitiger Hilfe lebten. Dies brachte unter anderem solche Paradoxien hervor wie den sogenannten „Obrok“-Bauern. Er war eigener Unternehmer im Dorfe und doch Leibeigener. Manche dieser leibeigenen Dörfler wurden bei der auch in Russland allmählich einsetzenden Industrialisierung später sogar zu reichen Dorffabrikanten, die ihrerseits Mitbewohner und -bewohnerinnen des Dorfes als hörige Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen konnten.
2. Modernisierungsschübe
So bequem die duale Grundstruktur: Zar – Dorf, Zentrum – Region für den Moskauer Hof auch war, barg sie doch einen Widerspruch, der immer wieder zu Entwicklungsstörungen führte: Da er für die innere Entwicklung der Dörfer nicht verantwortlich war, neigte der Zar, neigten Adel und Kirche zu deren rücksichtsloser Ausbeutung. Die Ignoranz gegenüber den Notwendigkeiten des Dorflebens führte immer wieder – sich tendenziell steigernd – zu gefährlicher Verelendung der Landbevölkerung. Hungerkatastrophen, Krisen und Revolten auf dem Lande waren die Folgen. Immer wieder versuchten Dörfer, ganze Regionen, die oft auch mit Volksgruppen identisch waren, sich von der Zentralgewalt loszumachen. Aber niemals kam es dabei zu Revolutionen, welche die Grundkonstellation der Herrschaft, die von Zentrum und lokaler Gemeinschaft nämlich, in Frage gestellt hätten. Die radikalsten Revolten wie der Aufstand des Stenka Rasin 1670 oder der des Jemeljan Pugatschow 1773-1775 kamen nicht über die Perspektive hinaus, an die Stelle eines unfähigen Zaren einen fähigeren setzen zu wollen.
Auch mit Reformen von oben gelang es nicht, den Bann zu brechen, obwohl dies – beginnend mit Peter I. nach den verheerenden Revolten des Stenka Rasin – immer wieder und immer öfter versucht wurde. Eine ganze Kette von Modernisierungsschüben zeugt von diesen Ansätzen.
Peter I., der sogenannte Große, versuchte das Problem von der urbanen Seite aus zu lösen. Er importierte bürgerliches westliches Know How, implantierte eine nach westlichen Standards produzierende Kriegsindustrie, ging in frontale Konfrontation mit den Traditionen verschlafener Selbstgenügsamkeit in der herrschenden Schicht, rekrutierte junge Männer aus den Dörfern für langandauernde Eroberungskriege. Den Grundkonflikt zwischen Zar und Dorf aber erkannte er noch nicht, zumindest packte er ihn nicht an. Er nutzte die bestehenden Beziehungen von Zar und Dorf vielmehr dafür, den ersten Industriellen zu ermöglichen, ganze Dörfer zu kaufen, um deren Bewohner in Fabriken als Leibeigene arbeiten zu lassen.
Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte Zar Alexander II., dass die Leibeigenschaft der Bauern, damals 80% der Bevölkerung Russlands, sich zum unüberwindlichen Hemmnis für die Modernisierung des Landes entwickelt hatte. 1861 erklärte er die Bauern daher zu freien Bürgern. Damit war die Einheit von Zar und Dorfgemeinschaft von oben gekündigt. Jeder Bauer sollte fortan eine eigene juristische Person sein, selbst verantwortlich für sein eigenes Leben. So wollte Alexander II. einerseits Arbeitskräfte für die explodierende industrielle Entwicklung Russlands freisetzen, andererseits einen kräftigen Stand privat wirtschaftender Bauern schaffen.
Es kam aber anders: Indem Alexander die Dorfgemeinschaften zu den Organisatoren der Landverteilung machte, welche mit der Befreiung verbunden war, geschah das Unerwartete: Die Bauern, selbst diejenigen, die vorher die Dörfer verlassen hatten, um Arbeit in den Fabriken zu suchen, strömten in die Dörfer zurück, um bei der Landverteilung berücksichtigt zu werden. Die Dorfgemeinschaften, statt aufgelöst zu werden, wurden in diesem Prozess zur bestimmenden Kraft. Nur war der Zar, war der Adel, war die Kirche von nun an der Pflicht zur Fürsorge, die sie vorher wenigstens formal für ihre „Seelen“ noch gehabt hatten, gänzlich entledigt. Das bedeutete, dass sich in den Dorfgemeinschaften einige Großbauern durchsetzten, während die Dorfarmen noch mehr verelendeten als zuvor – nur jetzt ohne jeglichen Schutz.
1907 machte Pjotr Stolypin, Minister des Zaren Nikolaus II., den nächsten Versuch, das Problem der Dorfgemeinschaften in einer, wie er meinte, fortschrittlichen Weise, zu lösen. Er entzog den Dörfern das Recht der Selbstverwaltung, untersagte gemeineigentümliches Wirtschaften und verfügte die Auflösung der Dorfgemeinschaften. Auch bei ihm war der Grundgedanke: Die Armen des Dorfes sollten als Arbeiter in die Industrie abwandern, die übrigen Dörfler sich zu einem Stand privat produzierender Mittel- und Großbauern entwickeln, der imstande wäre, mit der Ausfuhr seiner Produkte die Kosten für die entstehende Industrie zu tragen.
Pjotr Stolypin stieß auf den entschiedenen Widerstand der Bauernschaft, den er mit Terror zu brechen suchte. Er wurde 1911 Opfer eines Attentats. Die Reform blieb stecken. Bis heute streiten sich die Gelehrten, ob sie steckenblieb, weil der Krieg sich ankündigte oder ob der Krieg, was die russische Seite betrifft, ein Produkt der unlösbaren Widersprüche war, in die Zarentum und Bauernschaft miteinander geraten waren.
Nicht strittig ist, dass die Beziehung zwischen den Bauern und dem Zaren wesentlicher Impuls für Ausbruch und Verlauf der Revolutionen von 1917 war. Schon die Februarrevolution stand unter dem Versprechen einer Landreform. Als es im Sommer des Jahres 1917 zu neuen Landverteilungen kommen sollte, warfen die Bauernsöhne in den Schützengräben die Gewehre fort, um in ihre angestammten Dorfgemeinden zurückzukehren, denn nur so konnten sie sicher sein, bei der Landverteilung nicht übergangen zu werden. Lenin konnte die derart aufgebrachten Bauern für sich gewinnen, indem er jedem nicht nur Frieden, sondern auch ein Stück Land versprach, selbst wenn er nicht Mitglied einer Dorfgemeinschaft war. So gewann Lenin die Arbeiter- und Soldatenräte, die faktisch Arbeiter- und Bauernräte waren.
Entschieden aber wurde die Frage auch von Lenin nicht: Im „Dekret über den Boden“, das die Revolutionsregierung als eine ihrer ersten Verordnungen erließ, wird das Gemeineigentum nach Art der Bauerngemeinschaft zum Grundprinzip des neuen Sowjetstaates erklärt. Nach ihm wurden hinfort auch die Betriebsgemeinschaften organisiert; gleichzeitig aber kehrten die Bauernsöhne unter dem Versprechen zurück, ein eigenes Stück Land zur privaten Nutzung zugeteilt zu bekommen. Damit war der Konflikt zwischen privater Nutzung und gemeineigentümlicher Ordnung, zwischen Selbstverwaltung und Zentralismus aufgeschoben, aber nicht aufgehoben, ja, seine Zuspitzung war geradezu programmiert.
Den nächsten Versuch der Lösung dieses Konfliktes unternahm Josef Stalin, als sich nach der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) innerhalb der Dorfgemeinschaften, ähnlich wie seinerzeit zur Zeit Stolypins, wieder eine reiche Privatbauernschaft, als Kulaken bekannt geworden, herausgebildet hatte. Die Kulaken bestimmten das Geschehen in den Dorfgemeinschaften. Als sie sich weigerten, die Abgaben für die von der Partei beschlossene Industrialisierungskampagne zu erbringen, mobilisierte Stalin die Dorfarmut gegen sie. Dies geschah wiederum in der Absicht, der Arbeiterschaft neue Kräfte zuzuführen, aus den Resten der Dorfarmut und den Mittelbauern ein kräftiges Mittelbauerntum zu schaffen. Und wieder geschah das Unerwartete: Nachdem die Kulaken und mit ihnen viele, die als solche nur denunziert worden waren, in einer gewalttätigen Kampagne zu Millionen getötet, vertrieben oder deportiert waren, blieben die Dörfer, ihrer aktivsten Kräfte beraubt, in elendem Zustand zurück. Er zwang die Verbleibenden, sich zu Notgemeinschaften zusammenzuschließen, die Stalin schließlich als Kolchosen und Sowchosen legalisierte. Stalin tat das, indem er die freiwilligen Zusammenschlüsse zu kollektiven Wirtschaften (Kolchos = kollektive Wirtschaft) staatlicher Lenkung unterstellte und die übrige, noch individuell betriebene Landwirtschaft von Staats wegen in Sowchosen (Sow-Chos = sowjetische Wirtschaft) zusammenfasste. So wurde aus einer Kampagne, die mit dem Ziel der Auflösung der Dorfgemeinschaften begonnen worden war, deren endgültige Erhebung zur Grundeinheit des sowjetischen Staates; die Dualität von Zar und Dorf, Zentrum und korporativer Einheit vor Ort, die mit der Abschaffung des Zarentums 1917 ins Ungleichgewicht gekommen war, reproduzierte sich in der Form von Partei und Kolchose, beziehungsweise Sowchose. Diese Struktur blieb – mit kleineren Schwankungen – verbindlich bis zum Einsetzen der Perestroika.
3. Das sowjetische Modell vor Perestroika
Verweilen wir ein wenig bei diesem Stand der Entwicklung.
Wie sahen diese Strukturen praktisch aus? Auf dem Lande war es die Kolchose oder Sowchose. Der Unterschied zwischen beiden war in den 80ern nahezu nivelliert; er bestand nur noch darin, dass Direktoren der Sowchosen von der Partei eingesetzt, Direktoren von Kolchosen nach ihrer Wahl durch die Dorfgemeinschaft von der Partei nur bestätigt wurden.
In der Industrie, in der Wissenschaft oder im Dienstleistungsbereich war die Betriebsgemeinschaft nach denselben Prinzipien organisiert.
Ländliche wie städtische Kollektive bildeten Pyramiden, die Produktion, Alltag, Freizeit und Politik in ihren Spitzen zusammenführten. Eine solche Pyramide konnte identisch mit einer ganzen Stadt sein, auch einem Stadtviertel, in dem ein Betrieb zwanzig-, dreißigtausend Menschen umfasst. Es waren einzelne, manchmal auch mehrere Dörfer gemeinsam, die eine Kolchose bildeten. Manchmal waren es ganze Landstriche.
Alle diese Einheiten waren nach dem Prinzip der Dorfgemeinschaften organisiert: Autoritäre Unterordnung nach außen, Selbstbestimmung und Prinzip der gegenseitigen Hilfe nach innen, Wirtschaften auf gemeineigentümlicher Basis.
Der Staat ist ein Netz solcher Pyramiden, besser vielleicht, eine Großpyramide, die aus vielen solcher kleiner Pyramiden besteht. Innerhalb der jeweiligen Pyramiden wird getauscht, außerhalb, zwischen ihnen wird gehandelt. Innerhalb wird Arbeit in materiellen Werten vergütet, in Nahrungsmitteln, in sozialen Dienstleistungen wie Kindergartenplätzen, Schulunterricht, Altenbetreuung usw., in Versorgung der Betriebsgemeinschaft mit der lebenswichtigen Infrastruktur wie Wohnungen, Straßen, Verkehrsmitteln, Gas, Wasser, Elektrizität usw. usf., in Angeboten zur Erholung, zur medizinischen Versorgung, zur Altersversorgung bis hin zur Friedhofspflege. Für Produkte, die von außerhalb bezogen werden, wird Geld gebraucht. Aber selbst im Austausch werden Produkte anderer Gemeinschaften oft im Tausch gegen die eigenen erworben und dann innerhalb der eigenen Gruppe als materielle Vergütung weitergereicht. Auch dem Staat, als der Gesamtheit aller Kollektive, steht die einzelne Gemeinschaft nicht in einer Geld-, sondern ebenfalls in einer Tauschbeziehung gegenüber. Es werden eigene Produkte gegen Sach- und Dienstleistungen abgegeben, die der Staat garantiert.
Das ist die alte Tributordnung mongolischer Herkunft in moderner Form. Einen voller Geldkreislauf, vergleichbar dem des westlichen Geld-Ware-Geld-Umlaufs, bei dem der Austausch zwischen Individuen ausschließlich, jedenfalls hauptsächlich über den offenen Markt stattfindet, ist nicht entwickelt. Hier ist es das Individuum, dort ist es die Gruppe, die im Austausch steht: Geld hat in diesem Verbund korporativer Gemeinschaften keine grundlegende, es hat nur eine ergänzende Funktion. Anders, um es vielleicht mit einem Schlaglicht verständlich zu machen, wäre es nicht möglich, dass eine Bevölkerung, der seit Jahren kein Lohn, keine Pension, keine Sozialversicherungen mehr gezahlt werden, nicht verhungert.
Diese Ordnung, in der russischen Geschichte spontan entwickelt, von der sowjetischen auf die Ebene eines prinzipiellen gesellschaftlichen Modells gehoben, hat sich in die Wirklichkeit des russischen, ehemaligen sowjetischen, genereller gesagt, euroasiatischen Raums zwischen Pazifik und Atlantik, zwischen Nordpol und den Hitzewüsten im Süden eingeschrieben. Sie hat geografische Gliederungen, wirtschaftliche Einheiten, soziale Strukturen, psychische Reaktionsmuster und Denkweisen entstehen lassen, die nicht aufgelöst werden können, ohne eine allgemeine Desintegration zu riskieren. Wenn sie dagegen als Voraussetzungen für Veränderungen akzeptiert werden, liegt gerade in diesen Strukturen die Chance, eine lebensfähige Ordnung hervorzubringen, die über das bisherige Entweder-Oder von privater oder gemeineigentümlicher, zentralistischer oder anarchischer, kapitalistischer oder sozialistischer Lebensweise hinausgeht.
4. Aktuelle Reformversuche – gescheiterte Entkollektivierung
Der neueste Ansatz zur Modernisierung, den wir zurzeit in Russland erleben, wiederholt die historischen Fehler. Michail Gorbatschow ging noch einen vorsichtigen, seine Kritiker sagen unentschlossenen Weg. Boris Jelzin und insbesondere sein erster Premier Jegor Gaidar setzten dagegen auf Konfrontation. Die von ihnen eingeleitete Schocktherapie, war nichts anderes als eine Kampagne zur Entkollektivierung, mit der sie die korporativen Strukturen endgültig aufzulösen versuchten.
Das Programm der Privatisierung, mit dem die Regierung Gaidars Ende 1991 antrat, legte fest, dass die Betriebskollektive bei der Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften unter keinen Umständen Aktienmehrheiten erwerben dürften. In der kollektiven Organisation der Betriebe, sowohl der Land- als auch der Industriebetriebe wie auch in denen des Dienstleistungssektors und der Wissenschaft, sahen die Reformer von 1991, ganz in der Tradition Pjotr Stolypins und in Übereinstimmung mit ihren Beratern aus Harvard und vom IWF die Ursache der sowjetischen Krise, ja, wie sie es formulierten, das Grundübel russischer Rückständigkeit. Nur wenn die Herrschaft der Kollektive gebrochen werde, sei die Krise zu überwinden und eine Modernisierung zu erreichen.
Mit Betriebskollektiven war die Einheit von Betriebsleitung und Belegschaft gemeint. Ihr gemeinsamer Anteil an Aktien sollte unter allen Umständen unter 50% gehalten werden, um zu vermeiden, dass die Betriebskollektive weiter die Geschicke des Landes bestimmen könnten. An die Stelle der bisherigen korporativen Organisation der Gesellschaft auf Betriebsbasis sollte ein modernes demokratisches Staatswesen treten, eins in dem nicht nur die Gewalten geteilt, sondern vor allem auch Produktion und gesellschaftliches Leben voneinander geschieden und statt dessen durch einen Geldkreislauf miteinander verbunden sind, wie man es aus dem Westen kennt. Dafür sollte die Abgabeordnung durch eine Lohn- und Steuerordnung ersetzt werden, welche die Kommunen in den Stand setzen sollte, die infrastrukturellen, sozialen und kulturellen Aufgaben zu übernehmen, die bis dahin die Betriebe getragen hatten. Die arbeitende Bevölkerung sollte durch die Umwandlung der Vergütungs- in eine Lohnstruktur in die Lage versetzt werden, sich auf dem Markt mit den nötigen Mitteln zum Leben zu versorgen, angefangen bei der Versorgung mit Wohnraum, Gas, Wasser usw. bis hin zur Freizeit und Kultur. So ist es in den Expertisen des IWF zur Sowjetunion aus den Jahren 88/89 nachzulesen; so steht es, fast wörtlich übernommen, in den Programmen, mit denen die neue russische Regierung Ende 1991 antrat.
Auch diesmal kam es anders als erwartet: Tatsächlich in Privathand überführt wurden nur die Gemeinschaftsvermögen, welche schnellen Gewinn versprachen: Rohstoffverarbeitende Betriebe, Rohstoffe selbst, Handelsunternehmen, Banken usw. Hier wuchsen in atemberaubender Geschwindigkeit jene Finanzimperien heran, die heute als „Oligarchen“ bekannt sind. Die Mehrheit nicht so profitabler Betriebe ging dagegen entweder direkt in den Besitz und in die Regie von Betriebskollektiven über, die damit die Grundlage ihrer eigenen Existenz retteten oder dümpelt in unentschiedenen Mehrheitsverhältnissen vor sich hin, die keine effektiven Entscheidungen zulassen. Die beabsichtigte Entflechtung von Staat und Unternehmertum, Unternehmertum und Belegschaften, Arbeit und Leben, Produktion und Konsumption, oben und unten, fand nicht statt.
Genauer gesagt, sie fand nur teilweise statt: Den Betrieben wurden die Rechte, wie auch die Mittel entzogen, den Versorgungskreislauf innerhalb der korporativen Einheit aufrechtzuerhalten. Ab sofort galt der Anspruch, dass die Kommunen, die Regionalverwaltungen oder das nationale Budget für Straßenbau, Wasserversorgung usw., für soziale und medizinische Versorgung, für Bildung und Kultur zu sorgen habe. Aber die Kommunen bekamen weder die nötigen Mittel, noch reichte ihre organisatorische, personelle und intellektuelle Kapazität, um die alten Funktionen zu übernehmen, ganz zu schweigen davon, neue zu entwickeln.
Klarster Ausdruck dieser Situation ist die neurussische Volksweisheit: „Der Staat zahlt keinen Lohn – und wir zahlen keine Steuern.“ Das heißt eben, es gibt keinen funktionierenden Geldkreislauf. Russland ist auf das Stadium des Naturaltausches zurückgesunken. Was aber vor der Privatisierung Ausdruck eines funktionierenden Systems war, das ist jetzt Ausdruck des Zerfalls. Ergebnis der versuchten Entkollektivierung ist eine wirtschaftliche, rechtliche, staatliche, vor allem anderen aber soziale und auch moralische Desintegration, die an die Grenzen der Vernichtung russischer Existenz und Identität führt.
Aus dieser Situation erwächst zurzeit der Drang nach sozialer Restauration im Lande. Betriebskollektive verstehen sich, ähnlich wie in vergleichbaren historischen Situationen, als Notgemeinschaften, die das Überleben ihres Dorfes, ihrer Stadt, ihres Betriebes, ihres Institutes organisieren. Dazu suchen sie die Hilfe örtlicher Bürokraten. Die korporativen Einheiten, die Gegenstand der Angriffe der Reformer waren, erweisen sich auf diese Weise als spontane Elemente des Überlebens, als letzter Rettungsanker eines Dorfes, eines Betriebes, einer ganzen Stadt. Schon lange ist keine Rede mehr davon, dass Betriebskollektive die Betriebe nicht führen dürften. Solche Erscheinungen breiten sich im Lande aus, während der nach westlichen Vorstellungen modernisierte Sektor von Spekulations-, Korruptions- und Finanzkrisen geschüttelt wird. Was nützt der schnelle Kauf eines Betriebes, wenn seine Belegschaft, ja, darüber hinaus auch noch die potentielle Arbeiterschaft im Einzugsbereich des Standortes oder der Umgebung des Betriebes sozial soweit desintegriert ist, dass keinerlei Arbeitsmotivation mehr besteht? Eine Phase der Restauration der sozialen Beziehungen scheint unvermeidlich. Die Frage ist allein – wie; wird sie mit Gewalt von oben implantiert oder als demokratischer Prozess von unten entwickelt?
5. Mögliche Alternativen
Was ist zu beobachten? Einfach gesagt, eine Annäherung von unten und von oben; wie Stalaktiten und Stalagmiten einer Tropfsteinhöhle wachsen die Bedürfnisse nach lebensfähigen Gemeinschaftsstrukturen von unten und die nach lenkungsfähigen Strukturen von oben zurzeit aufeinander zu. Betriebsgemeinschaften bilden Notkollektive, die Betriebe notdürftig aufrechterhalten, Bürgervertretungen bilden sich heraus, Interessengruppen, die Verantwortlichkeiten von Betrieben einklagen, welche durch die Privatisierung außer Kurs geraten sind usw.
Von oben wird die Restauration gewerkschaftlicher Strukturen initiiert, werden ganze Branchengewerkschaften neu gegründet, mindestens gefördert oder finanziert. Neuerdings ist von einem sogenannten „Tertiären Sektor“ die Rede. Er erwächst aus den Initiativen und Aktivitäten von Selbsthilfe- und Interessengruppen der unterschiedlichsten Art, die von staatlicher Seite zusammengeführt, ideell gefördert, und wo es geht, auch finanziert werden.
Es bilden sich örtliche Krisen- und Planungsstäbe, die sich aus Vertreterinnen oder Vertretern der örtlichen oder regionalen Verwaltungen, der Betriebe, unabhängiger Experten und Interessengruppen aller Art zusammensetzen. Sie versuchen eine gemeinsame Planung unter staatlicher Führung einzuleiten. Es bilden sich lokale und regionale Märkte, die mit Moskau in Konkurrenz um die Außenhandelsbeziehungen treten und für deren horizontale Vernetzung miteinander neue Wege gefunden werden müssen.
Dieser Prozess ist nur sehr schwer in bestimmten Formen zu beschreiben. Er verläuft sehr diffus und äußerst ungleichmäßig, ja, widersprüchlich, zum Teil auch kontraproduktiv und zeitweilig gegen die Haupttendenz, die in der Befreiung der Produktivkräfte von den Fesseln uneffektiver Produktionsverhältnisse zu sehen ist. Er läuft bereichsweise, zeitweise auch insgesamt scheinbar ziellos, destruktiv oder gar katastrophisch. Aufs Ganze gesehen aber geht es um eine neue Verbindung von persönlicher Initiative und Gemeinschaftsbindung, die aus der Transformation der bestehenden Verhältnisse einfach hervorgehen muss, wenn die Menschen überleben wollen.
Die Entwicklung ist doppeldeutig wie die Strukturen selbst. Sie enthält rückwärtsgewandte Elemente, die bis ins Faschistoide hinüber weisen. Diese Elemente resultieren aus dem autoritären Zentralismus. Sie enthält ebenso Impulse zu Demokratie und sozialer Solidarität. Sie erwachsen aus den Elementen der Selbstbestimmung und gegenseitigen Hilfe.
Analytiker wie Boris Kagarlitzki oder Oleg Woronin, beide ehemalige Reformlinke, heute freischwebende Intellektuelle, und andere erkennen diesen Prozess. Kagarlitzki spricht von Restauration der Tradition der Obschtschina. Das ist der russische Ausdruck für Bauerngemeinschaft. Er meint damit die Wiedererstarkung der aus der Geschichte der Bauern- und Industriegemeinschaft kommenden Tradition auf neuer, demokratischer, das heißt auch privatwirtschaftlicher Basis.
Leg Woronin spricht von sozialer Restauration einer durch Stalin deklassierten Gesellschaft, die ihre sozialen Schichtungen und deren wirtschaftliche und politische Beziehungen erst wiederfinden müsse.
Hauptkraft der gegenwärtigen Entwicklung sind aber die aus zehn Jahren mühseliger Transformation gewonnenen bitteren Erkenntnisse bei der politischen Führung wie auch in der Bevölkerung selbst, dass an den bestehenden Strukturen angeknüpft werden muss, also Zentralismus und korporativer Bau des Landes als Ausgangspunkt für eine Föderalisierung und Demokratisierung des Landes akzeptiert, je, geradezu benutzt werden müssen, ob man will oder nicht, statt sie zu zerschlagen und zweitens ist es die Bereitschaft, diese Erkenntnisse in Kooperation von „oben“ und „unten“ praktisch umzusetzen und dabei Spreu vom Weizen zu trennen.
Für die Gemeinschaft vor Ort bedeutet das, die demokratischen Elemente der gemeineigentümlichen Ordnung, der Selbstbestimmung und der sozialen Fürsorge mit ihrem Kern der Hilfsbereitschaft auf Gegenseitigkeit für die Entwicklung von Mitbeteiligung, Mitbestimmung und einer gemeinschaftlichen Sozialfürsorge zu nutzen – dabei aber die autoritären und etatistischen Elemente als alte Zöpfe zurückzudrängen, indem zivilen, informellen, nicht-staatlichen Organisationsformen vor bürokratischen der Vorrang eingeräumt wird. In diesen Auseinandersetzungen um die konkrete Zusammensetzung der neuen Gemeinschaftsorgane vollzieht sich der Prozess der sozialen Restauration, entscheidet sich, ob er sich zur demokratischen oder zur autoritären Seite hin wendet.
Für die Gesellschaft als Ganzes bedeutet es, die geografische, ethnische, wirtschaftliche und kulturelle Differenzierung der ehemaligen Sowjetunion als Chance für eine föderale Reorganisation der Beziehungen in diesem Raum zu begreifen. Demokratisierung heißt in diesem Fall als erstes schlicht einmal Dezentralisierung, Entwicklung regionaler Binnenmärkte, politischer Souveränität und soziokultureller Eigenständigkeit.
Aber auch das vertikale Element kann nicht einfach über Bord geworfen werden. Es hat nicht nur seine historische Funktion, sondern als vermittelnder Koordinator, als politische Clearingstelle, als Ort des Austausches auch seine aktuelle und zukünftige Berechtigung, wenn der euroasiatische Raum sich nicht nach seinen Rändern hin auflösen und damit ein gefährliches Vakuum in seiner Mitte erzeugen soll, das die Möglichkeit einer politischen, sozialen und mentalen Implosion Euro-Asiens heraufbeschwört.
Im politischen Raum dürfte eine föderal differenzierte Steuerreform der wichtigste Baustein der zukünftigen Neuordnung sein, denn in ihr muss sich der Ausgleich zwischen den lokalen, regionalen oder saisonalen Räumen des naturalen Austausches und dem Geldkreislauf der in den Weltmarkt einbezogenen Gesamtgesellschaft herstellen. Zu erwarten ist, dass sich das mongolische Prinzip des Zehnten auf neuer Ebene wiederherstellt, das heißt, dass lokale Einheiten, Regionen und Länder einen festgelegten Teil an die zentralen föderalen Verwaltungsorgane abführen, während sie im übrigen der Selbstversorgung bis dahin überlassen sind; es bedeutet, dass große Teile ihres Austausches sich unterhalb des vom Weltmarkt diktierten zentralen Geldkreislaufs abwickelt. Hierin zeigen sich im übrigen Elemente einer neuen Wirtschaftsweise, deren Entstehung unter dem Diktat der Globalisierung heute überall auf der Welt zu beobachten ist. Die aus der Globalisierung des Weltmarktes resultierende Nivellierung der Lebensniveaus ruft das Bedürfnis, die Notwendigkeit und die Möglichkeit von lokalen, regionalen oder saisonalen Inseln marktfreier Beziehungen zwischen den Menschen hervor, in denen nicht das Weltgeld (in welcher Währung auch immer), sondern soziale, intellektuelle oder mentale Werte lokal, partiell oder zeitweise zum Äquivalent werden. Diese Erscheinungsformen im Subraum des Weltmarktes weisen, wie es scheint, weit in die Zukunft einer Gesellschaft, in der Geld nicht mehr alles ist. Die Entwicklung bekommt, auch wenn es gegenwärtig und noch auf einige Zeit hin umgekehrt zu sein scheint, aus der russischen Entwicklung heraus einen gewaltigen Impuls. Andere Impulse kommen direkt aus dem Zentrum des westlichen Kapitalismus, aus den USA, wo sich zwischen Staat und Produktion die Sphäre des „Dritten Sektors“ herausgebildet hat. Auch in Ländern der ehemaligen „Dritten Welt“, sowie in den sogenannten Schwellenländern sind solche Erscheinungen zu beobachten. Ökonomen nennen sie in Ermangelung anderer Termini zurzeit „real life economy“. In diesen Phänomenen deutet sich eine revolutionäre Umgestaltung unserer gesamten heutigen Welt an, für die sich die gegenwärtige Geldwirtschaft alsbald in ähnlicher Weise zur Fessel entwickeln könnte wie weiland in Frankreich der Adel für die entstehende bürgerliche Gesellschaft.
6. Aktuell: Autoritärer oder demokratischer Weg?
Russlands statistisches Führungszeugnis weist zurzeit weiter bergab. Seit der letzten großen Krise im Sommer des Jahres 98 steigt die Inflationsrate wieder, die Produktivität sinkt. Auch wenn die Reserven des Landes unerschöpflich scheinen, so ist doch klar, dass das nicht immer so weitergehen kann.
Um den amtierenden Präsidenten ist es ruhig geworden. Von ihm sind keine neuen Impulse zu erwarten. Das hat wenig mit seiner Gesundheit, dafür um so mehr damit zu tun, dass seine Zeit politisch vorbei ist. Die Phase der schnellen Umverteilung, gemeinhin Privatisierung genannt, ist weitgehend abgeschlossen. Was wird, was kann politisch geschehen?
Eine Ausgrenzung der nicht möglichen Wege ist schnell getroffen.
Jefgeni Primakow ist ein Übergangspremier. Von ihm wird nicht mehr als von einem guten Schiedsrichter erwartet, nämlich, sich möglichst nicht allzu sehr ins Spiel einzumischen. Würde er mehr versuchen, wäre sein letzter Tag als Premier schnell gekommen. Das gilt umso mehr für Boris Jelzin. Seine letzte große Aufgabe besteht darin, solange physisch präsent zu bleiben, bis das Amt des Präsidenten in neue Hände übergegangen ist. Das ist, ungeachtet des Spottes, der dem alten Mann gegenwärtig entgegenschlägt, eine für Russland lebenswichtige Funktion, denn jeder weiß, was eine Destabilisierung der Zentralmacht zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten würde.
Umsturz und anschließende Diktatur kann gegenwärtig niemand wollen, am allerwenigsten die Kräfte, die gemeinhin mit der Mafia in Verbindung gebracht werden. Gerade sie profitieren von der Unentschiedenheit der gegenwärtigen Situation; darüber hinaus brauchen sie eine ruhige Entwicklung, um ihre Gelder schrittweise zu legalisieren.
Ähnliches gilt für die regionalen Eliten, die gegenwärtig mit Nachdruck dabei sind, ihre Positionen gegenüber der geschwächten Zentralgewalt auszubauen. Weit entfernt davon eine Katastrophe zu sein, zeigt sich gerade in der wachsenden regionalen Souveränität eine, wenn nicht die zukunftsweisende Kraft des neuen Russland – nur befindet sich dieser Prozess noch in einem solch zarten Stadium, dass jede Destabilisierung ihn nicht nur unterbrechen, sondern in gewaltsame Auseinandersetzung mit dem Zentrum verwandeln könnte.
Die Kommunisten schließlich, um auch diese Seite nicht zu vergessen, verfolgen schon lange, entgegen allem Anschein, den ihre laute Propaganda erwecken könnte, keinerlei umstürzlerische Ziele mehr. Das kurze Aufbäumen 1991 und noch einmal 1993 hat die letzten revolutionären Kräfte dieser Partei verbraucht. Danach ist sie vollkommen auf das zurückgesunken, was sie schon vor Perestroika war: eine Partei des Establishments. Nur ist sie dies jetzt nicht mehr als Partei der Macht, sondern der Opposition, einer Opposition allerdings, die fest in die regionalen und lokalen Macht- und Verwaltungsstrukturen verwoben ist.
Ihre Impeachment-Kampagne gegen den Präsidenten ist nur das Überdruckventil, durch das nicht integrierbare Kritik stabilitätsfördernd abgeführt werden kann.
Die Zweideutigkeit dieser politischen Situation drückt sich darin aus, dass zwar niemand gegenwärtig ernsthaft daran denkt, die Regierung Jewgeni Primakows aus dem Sattel zu werfen; niemand aber auch – außer dem aus Prinzip quertreibenden Wladimir Schirinowski – an einer formgerechten Festschreibung eines neuen Burgfriedens interessiert ist.
Die Kräfte, die effektive Alternativen zum jetzigen Kurs repräsentieren, halten sich zurück, auch ohne sich formal an einen Burgfrieden zu binden. Das sind vor allen anderen Juri Luschkow in Moskau und Alexander Lebed in Krasnojarsk; beide sind potentielle Kandidaten für die Neubesetzung des Präsidentenamtes im Sommer 2000.
Was sie als wichtigstes Argument für sich ins Feld führen, ist nicht allein ihr Wille zur Stabilisierung; darin unterscheiden sie sich nicht wesentlich von weiteren potentiellen Kandidaten. Sogar die ehemaligen Privatisierer um Jegor Gaidar, Anatoly Tschubajs, Boris Nemzow ua. machen solche Versprechungen. Was die Neuen für sich ins Feld führen, ist ihre Fähigkeit, die anstehende Restauration praktisch in die Wege zu leiten. Dafür brauchen aber auch sie Zeit.
Juri Luschkow kann eine Boomtowm Moskau vorweisen, Moskau als „Modell“. Nun weiß jeder, dass dies nicht allein auf seinem Mist gewachsen, sondern der Tatsache zu verdanken ist, dass 80% der Einnahmen der russischen Föderation nach Moskau fließen, jedoch keine 30% des Haushalts an die Regionen zurückgehen, dass sich in Moskau Mittel und Know How des Landes konzentrieren usw. usf.
Juri Luschkows anerkannte Leistung besteht aber immerhin darin, diesen Reichtum genutzt zu haben, indem er die Stadt Moskau zum größten Unternehmer Moskaus machte. Diese Botschaft versucht er zu exportieren, indem er als Bürgermeister von Moskau ärmeren Region bei profitverheißenden Projekten finanziell, personell und mit Know How unter die Arme greift.
Alexander Lebed hat sich entschlossen, genau vom anderen Ende her zu beginnen: Er, der seine Karriere in Afghanistan begann, über seine Friedensschlüsse in Transnistrien 1992, über seine Rolle in Tschetschenien 1994 und 1995 und als dritter bei den Präsidentenwahlen 1996 in die Moskauer Machtzentrale kam, versucht diese heute von der Region her einzunehmen.
Gegensätzlicher – und doch im Wesen identisch – könnten Kandidaten nicht sein: Zivilist der eine, General der andere. Für Alexander Lebed ist Afghanistan zur Lehre geworden, dass Krieg kein Mittel zur Lösung der russischen Krise sein könne. Alexander Lebed begann seinen politischen Weg mit starken nationalistischen Tönen; heut hält er sich von dem extrem nationalistischen und antisemitischen „Kongress russischer Gemeinden“ fern.
Zivilist Juri Luschkow dagegen warf sich mit nationalistischen Argumenten für eine starke Schwazmeerflotte ins Gefecht, inszenierte rassische Säuberungskampagnen gegen Kaukasier in Moskau und wirbt neuerdings um eben jenen „Kongress der russischen Gemeinden“. Gemeinsam mit ihm wirft er Alexander Lebed wegen des Friedensschlusses in Tschetschenien bis heute Verrat nationaler Interessen Russlands vor.
Noch einiges dieser Art ließe sich aufzählen. Das alles aber bleibt politisches Make-up angesichts dessen, worin sich die beiden Kandidaten gleichen: Es ist der Pragmatismus der Macht, der die bestehenden ökosozialen Strukturen von Staats wegen nutzt, statt sie aufzulösen und weitere soziale Desintegration zu riskieren. Bürgermeister Luschkow schaffte es, Anatoly Tschubajs das Recht abzutrotzen, Moskau in eigener Regie privatisieren zu dürfen. So wurde zwar auch Moskau privatisiert, das heißt, Staatskapital in Aktienkapital umgewandelt, aber Moskaus größter Besitzer, Unternehmer und Finanzier in einer Person wurde die Stadt Moskau selbst, vertreten durch politisch kontrollierte Banken, das heißt, letztlich durch Bürgermeister Luschkow als politische Vaterfigur. Viele Betriebe blieben zudem, im Gegensatz zu der von Anatoly Tschubajs, Alfred Koch ua. vertretenen Linie, in der Hand der Betriebskollektive.
Was so in Moskau entstand, ist ein staatlich regulierter, korporativ-paternalistischer Staatskapitalismus mit gewählten Leitungen und Direktoren, in dem die wenigen unabhängigen Kleinunternehmer sich nach der staatlich vorgegebenen Decke strecken müssen, wenn sie überleben wollen. Das betrifft auch ausländische Firmen. Das ist – entgegen jedem Anschein – keine Marktwirtschaft westlichen Zuschnitts, sondern Verwaltungskapitalismus nach russischer, das heißt eben, korporativer Art.
Alexander Lebed demonstriert dasselbe Modell in Krasnojarsk, seine Parteigänger in Städten wie Nowosibirsk oder anderswo. Der Form nach handelt es sich bei dem, was da entsteht, um kollektive Privatisierung, staatlich gefördert und reguliert. Man bemüht sich, die noch bestehenden kollektiven Arbeits- und Versorgungsstrukturen der Betriebe als Basis für Mitbeteiligung und Mitbestimmung zu nutzen und auch die Versorgungsstrukturen zu erhalten.
Die Wege, die Alexander Lebed ebenso wie Juri Luschkow zur Erreichung dieser Ziele einschlagen, sind: 1. Ordnungskampagne gegen Korruption und Mafia; für eine „Diktatur des Gesetzes“, wie Alexander Lebed es formuliert. 2. Sichtbare Entrümpelung der Bürokratie. 3. Kleinarbeit vor Ort, in den Betrieben, Institutionen, Kommunen, auf dem Lande. Eine frontale Konfrontation mit der Mafia wird es nicht geben – weder bei Juri Luschkow noch bei Alexander Lebed. Alexander Lebed etwa differenziert in Verbrecher, in eine Grauzone der Illegalität und in Kleingewerbetreibende, die durch eine falsche Steuerpolitik illegalisiert werden. Die von ihm ins Auge gefassten Maßnahmen lauten dementsprechend: Todesstrafe für Verbrecher, Einbeziehung der Grauzone in staatliche Verantwortung, Entkriminalisierung der kleinen Steuerzahler durch eine Neuregelung der Steuerpolitik.
Etwas weiter entwickelt bei Juri Luschkow: Er muss sich gegen Behauptungen wehren, er sei bei dem Versuch, die Mafia auszuhebeln, selbst von ihr nicht mehr zu unterscheiden. Dies hat er bisher allerdings in allen Fällen geschafft.
So viel aber ist sicher: Vorausgesetzt Boris Jelzin bleibt bis zu den Wahlen im Sommer 2000 physisch präsent, wird es keinen abrupten, keinen gewaltsamen, sondern einen sanften Übergang geben. Dabei spielt es eine unterordnete Rolle, ob Juri Luschkow oder Alexander Lebed das Rennen macht. Chancen haben sie beide, der eine weil er aus dem Zentrum, der andere weil er nicht aus dem Zentrum agiert. Pragmatiker der Restauration sind sie ebenfalls beide. Eventuelle Konkurrenten könnten nur auf dieser Linie erfolgreich agieren. Diese Konstellation könnte Boris Jelzin sogar noch zu einem Leben über den politischen Tod hinaus verhelfen.
7. Perspektiven einer anderen Russlandpolitik
Das Ende der Ära Jelzin ist zugleich ein Wendepunkt bisheriger westlicher Russlandhilfe. Der Internationale Währungsfonds ist wegen seiner Misserfolge selbst in den eigenen Reihen in die Kritik gekommen. Treibendes Motiv der Russlandpolitik Helmut Kohls seit 1988 war die Wiedervereinigung. Sie war ihm die Lieferungen von Hilfsgütern, Kompensationszahlungen und Soforthilfekredite in der Höhe von 60 Milliarden DM wert. Damit stand das damalige Westdeutschland in den Jahren 1989 bis 1991 einsam an der Spitze der ersten Russlandhelfer.
Angesichts dieser starken Belastung versuchte die Bundesregierung die übrigen Mitglieder der „G-7“ gleichfalls zu stärkerem Einsatz zu bewegen. Die, allen voran die USA unter Präsident George Bush, sodann England unter Margaret Thatcher, machten ihre Unterstützung jedoch von der Durchführung radikaler marktwirtschaftlicher Reformen in Russland abhängig. Japan verweigerte generell wegen der ungelösten Kurilenfrage jegliche Hilfe.
Erst als Boris Jelzin Michail Gorbatschow 1991 mit dem Programm einer „Schocktherapie“ ablöste, waren die übrigen „G-7“-Länder zu größeren Einsätzen bereit. Dynamik bekamen die Einsätze allerdings erst im Zuge der von Bill Clinton seit seinem Amtsantritt 1993 propagierten neuen Partnerschaft mit Russland. Er instrumentalisierte dafür vor allem den IWF, den er dahin drängte, „leichte Kredite“ zu geben.
Praktisch hieß das: Jedes Mal, wenn die russische Krise sich akut zuspitzte, waren IWF, Weltbank und auch die „European Bank for Reconstruction and Developement“ (EBRD) mit neuen Kreditpaketen zur Stelle, die dabei immer an die Forderung nach „konsequenten Reformen“ gekoppelt waren.
Insgesamt wurden auf diese Weise bis heute Kredite in Höhe 200 Milliarden Mark an Russland in Aussicht gestellt, allerdings keineswegs alle gezahlt. Nach der Sommerkrise dieses Jahres, die Russland an den Rand des Zusammenbruches brachte, stellte der IWF die Zahlungen vorläufig ein, allerdings nicht ohne der russischen Regierung Hoffnungen zu machen, dass bei „konsequenten Reformen“ doch wieder gezahlt werden könnte. Was gemäß der Statuten des IWF als Wirtschaftshilfe definiert ist¸ erweist sich derart als ein politisches Instrument, mit dem versucht wird, die nachsowjetischen Gesellschaften auf einen vom Westen definierten Reformkurs zu zwingen.
Dieser Kurs wurde im Frühjahr 1991 in Gesprächen festgelegt, die Boris Jelzin – damals Präsident der Russischen Republik im Rahmen der noch bestehenden UdSSR – in Washington führte. Das geschah parallel zu dem Londoner Gipfel der „G-7“, der Gorbatschow die Unterstützung verweigerte, wenn er nicht erst seine „Hausaufgaben“ gemacht habe, wie es die Presse seinerzeit formulierte.
Das Programm, mit dem Boris Jelzin und seine Mannschaft um Jegor Gaidar dann antraten, entsprach bis hinein in einzelne Formulierungen den ausgearbeiteten Vorgaben des IWF. Kern des Programms war die radikale Privatisierung bei gleichzeitiger „Politik des knappen Geldes“, in deren Zuge durch Währungsreform, Abbau von Subventionen, Streichung sozialer Leistungen etc. Geld aus dem Lande in die neu entstehenden, vor allem Moskauer, Finanzzentren gezogen werden sollte. Den politischen Rahmen für die Reformen sollten die Umwandlung der sowjetischen Rechtsordnung in eine solche demokratischen Typs und die Einbindung Russlands in das europäische Sicherheitssystem bilden; später kam die Ausweitung der NATO nach Osten hinzu.
Das Ergebnis: Nicht freie Marktwirtschaft, sondern Entindustrialisierung, nicht Demokratisierung, sondern soziale Desintegration, nicht mehr Sicherheit, sondern politische Instabilität.
Die Privatisierung schuf kein produzierendes Privateigentum, sondern zerlegte das frühere Gemeineigentum unter der Vorgabe der Entstaatlichung in einen Sektor hochkonzentrierten spekulativen Kapitals auf der einen und die Mehrheit einer vom Geld abgespaltenen Bevölkerung, die von Naturaltausch, Schatten- und Subsistenzwirtschaften lebt, auf der anderen Seite. Das schließt Direktoren kleinerer Betriebe mit ein.
Die Sicherheitspolitik schuf kein verlässliches neues System gleichberechtigter Partner auf dem euroasiatischen Kontinent, sondern eine gefährliche Halbheit: Als Mitglied der Europäischen Union wurde Russland zum Teil Europas erklärt, während es durch die NATO-Erweiterung faktisch bedroht, mindestens aber halb eingekreist wird. Im Ergebnis läuft das auf den Versuch einer Neutralisierung Russlands hinaus. Diese Tatsache wird durch Russlands beratende Stimme im NATO-Rat nicht gemildert, sondern im Gegenteil noch verstärkt.
Angesichts solcher Ergebnisse wird verständlich, dass es inzwischen nicht wenige Menschen in Russland gibt, die diese Reformen nicht nur als Fehler betrachten, sondern dahinter die politische Absicht des Westens, speziell der USA vermuten, den sowjetischen, danach auch noch den russischen Konkurrenten zu schwächen und in einer Spirale von wechselnden Kreditversprechungen und deren Verweigerung von sich abhängig zu machen und zu neutralisieren. Daraus ist eine antiwestliche Stimmung von gefährlicher Kraft entstanden, die sich ausbreitet.
Die Kritik von Horst Köhler, dem Präsidenten der Osteuropabank, dass der Westen damit aufhören müsse, Russland seine Vorstellungen per Kreditpolitik des IWF aufzuzwingen und stattdessen an den gewachsenen Strukturen des Landes anknüpfen solle, wenn er Demokratie und Marktwirtschaft ein Russland stärken wolle, war die schärfste, die aus den eigenen Reihen kam.
Würde man sie ernst nehmen, was durchaus zu wünschen wäre, dann würde sie als Erstes bedeuten, das Primat der Privatisierung aufzukündigen, das die letzten Jahre bestimmt hat. Die Reformen haben ja zum Teil den Charakter einer Zwangsprivatisierung angenommen. Unterstützenswert ist statt dessen die Entwicklung einer gemischten Wirtschaft, in der die immer noch bestehenden Staatsbetriebe in privatwirtschaftlich organisierte Beteiligungsmodelle verwandelt werden, während das neu entstandene und weiter entstehende Privatkapital andererseits einer Sozialpflichtigkeit unterworfen wird. Solche Reformen können nur auf den gewachsenen kollektiven sozioökonomischen Strukturen aufbauen. Das bedeutet, sie müssen von der realen Existenz der kollektiven Landwirtschaft, also den Gemeinschaftsproduktionen von Kolchosen und Sowchosen, der Existenz ganzer Betriebsdörfer oder Produktionsstädte ausgehen, die als bloße Ansammlung privatisierter Individuen nicht existenzfähig wären, im Verlauf der Reformen aber in vielen Fällen Träger einer kollektiven Privatisierung wurden. Dies ist nicht nur die einzige, es ist auch die von der tatsächlichen Entwicklung der letzten Jahre vorgezeichnete Alternative zu den vom IWF vorgeschlagenen Massenentlassungen und der einzige Weg zu Verhältnissen, die demokratischen Charakter tragen, auch wenn die paternalistischen Formen dieser Demokratie nicht westlichen Vorstellungen entsprechen.
Neu wären auch die Beziehungen Europas zu Russland zu definieren. Der Westen muss die Tatsache anerkennen, dass Russland nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, politisch und sogar ethnisch zwischen Asien und Europa liegt. Es ist vollkommen unsinnig, Russland zu einem Teil Europas oder gar des atlantischen Verteidigungsbündnisses machen zu wollen – und es dann durch die NATO-Erweiterung wieder auszugrenzen. Es müssen vielmehr neue Formen gefunden, bzw. auch vorhandene wie KSZE oder OSZE so entwickelt werden, dass Russland zum Teil eines Sicherheitssystems werden kann, welches Asien und Europa verbindet, das heißt, eines weltweiten Netzes. Darin haben die russisch-deutschen, bzw. die russisch-europäischen Beziehungen den Stellenwert bilateraler Beziehungen, die sich in das Gesamtnetz einfügen.
Schließlich müsste eine Politik auf der von Köhler skizzierten Linie sich von der Zentrierung allein auf Moskau lösen. Die Unterstützung regionaler Entwicklungsprojekte von deutscher Seite ist nicht nur im Interesse kontrollierbarer Effektivität dringend geboten. Sie würde auch die Umwandlung des Zentralstaats in eine Organisation gleichberechtigter politischer Subjekte und somit eine langfristige Demokratisierung und Stabilisierung der Beziehungen zwischen Ländern und Völkern auf dem euroasiatischen Kontinent stärken. Sie muss sich dabei aber hüten, innerrussischen Entscheidungen vorzugreifen, die sich in der Fragestellung „Föderation oder Konföderation“ ausdrücken.
An der Haltung zu diesen drei Punkten: Privatisierung, Europabindung Russlands, Moskauer Zentralismus wird eine zukünftige deutsche Russlandpolitik gemessen werden müssen.
Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hamburg und des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg unter dem Thema: „Krise in Russland – Welche Perspektiven bieten Demokratie und Marktwirtschaft?“