Vorspann: Die ehemalige Sowjetunion hat sich in die G.U.S. verwandelt. Schon ächzt die russische Föderation in allen Fugen. Weitere Teilungen des früheren Imperiums kündigen sich an. Aber der Wandel geht noch tiefer: Es zerfällt nicht nur das frühere Imperium, es zerfällt auch der Industriegigant, der sich jahrzehntelang als Spitze des Fortschritts verstand. Jetzt sieht man sich an dessen Ende versetzt. Die vermeintliche Bastion des Fortschritts, droht auf das Niveau eines Schwellenlandes wie Argentinien, Brasilien, ja, manche befürchten auf das Niveau von Indien oder darunter zu sinken. Dieser Entwicklung wurde bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. In einer Folge von Beiträgen wollen wir diesen Tatsachen im Lande selber nachgehn.

take 1: Versammlung im MOSSOWJET, Moskau (0,50)
Regie: Langsam hochfahren, einen Moment stehen lassen, dann den Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler:   Dezember 1991, Versammlungsaal im MOSSOWJET, dem             Gebäude des Moskauer Stadtparlaments. Eine Gruppe reformlinker Abgeordneter hat öffentlich eingeladen, um über eine Alternative zur Regierungspolitik zu diskutieren. Das Wort bekommt Dr. Andre Kolganom, ein junger Wirtschaftsfachman der Moskauer Universität:

take 2: Rede A. Kolganom  (0,50)

Regie: Einen Moment stehen lassen, dann abblenden, Übersetzung darüber legen.

Übersetzer: „Es besteht die wachsende Gefahr von sozialen             Konflikten in Verbindung mit den bevorstehenden Massenentlassungen. Perspektiven der jetzigen Wirtschaftsreformen entsprechend der Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds sind für uns alle nicht erfreulich. Nach Auffassung des IWF soll sich unser Land auf die Produktion von landwirtschaftlichen Gütern, Rohstoffen und Energieträgern spezialisieren.“

Kommentator: Die Studie des IWF, die einem russischen Publikum             hier erstmals nahegebracht wird, wurde im Februar 1991 von denselben Leuten verfaßt, die wenige Jahre zuvor das sog. Schockprogramm für Polen ausgearbeitet hatten. In ihr wird dargelegt, was die Führer der Sowjetunion zu tun haben, wenn sie die die Unterstützung der internationalen Kapitalorganisationen zu Bewältigung ihrer Krise gewinnen möchten: Zuerst die Preisreform, dann die Privatisierung, danach alles Weitere. Boris Jelzin übernahm die Empfehlungen in seine erste Regierungserklärung. Im März `92 folgte ein „Memorandum“ der Regierung zur Wirtschaftspolitik auf derselben Linie. Im Mai `92 erließ Boris Jelzin Richtlinien zur Umwandlung der Sowchosen und Kolchosen in Aktiengesellschaften und zur Abgabe von Land an private Bauern. Bis Ende 1993 soll dieser Prozess abgeschlossen sein.

Erzähler:  Im Bezirkszentrum Bolotnoje bei Nowosibirksk in             Sibirien erhielt ich einen handfesten Eindruck davon, was das in der Realität bedeutet. Auf einem Gebiet von der Größe Hamburgs ist Bolotnoje Kopf für sechzehn Sowchosen und einige Kolchosen, die ihrerseits je drei bis fünf Dörfer zusammenfassen.
Früher war die Pyramide perfekt: Korn, Fleisch, Milch und sonstige landwirtschaftliche Produkte flossen von den spezialisierten Sowchosen und Kolchosen ins Zentrum, bzw. auch nach Nowosibirsk und von da bis Moskau zur Weiterverarbeitung und zum Verbrauch. Was übrig blieb, fand seinen Weg als Fertigprodukt zurück in den Dorfladen. Den gleichen Weg gingen die Gewinne. Als Budgetzuteilung kam, was nicht in die Zentren abfloß, an die Menschen im Dorf zurück.
Jetzt ist auch in Bolotnoje die neue Zeit angebrochen. In zwei Einheiten habe die Privatisierung schon begonnen, erfahre ich bei Fjodr Soloteika, dem derzeitigen Chef der Landwirtschafts-Verwaltung, die praktisch auch heute noch das landwirtschaftliche Produktions-Monopol innehat. Sehr überzeugt klingt er allerdings nicht:

take 3: Bei der Agrarverwaltung des Bezirks Bolotnoje (1,35)
Regie: Anfahren lassen, dann abblenden und Übersetzung darüberlegen.

Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute etwas             mehr aufzuklären. Offen gesagt, ich glaube, daß wir bei den beiden Gemeinschaften nicht viel erreicht haben. Die Leute haben die Sache nicht wirklich begriffen. Und die Beziehung zur Arbeit ist im Prinzip die alte geblieben. Keiner glaubt daran, daß das jetzt sein Anteil ist, daß er jetzt dort der Herr ist, daß er jetzt irgendein Kapital besitzt. Meiner Meinung nach ist das alles zu schnell gegangen. – Aber Befehl ist Befehl – und den muß man erfüllen…“

Erzähler: Der nächste Weg führt uns zu Wladimir Bachom, dem             Administrator des Bezirks. Er erweist sich als jüngerer dynamischer Mann, früherer Kolchosdirektor. „Natürlich ehemaliger Kommunist“, lacht er. Heute ist er der Arm Jelzins vor Ort, Kopf der Bezirksexekutive und damit verantwortlich für die Durchsetzung der neuen Politik. „Privatisieren, ja, aber bitte nichts forcieren“, ist sein Motto.
take 4: Administrator von Bolotnoje. (1,30)

Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegt laufen lassen.

Übersetzer:  „Ich möchte, daß Sie mich richtig verstehen. Ich bin             dagegen, daß heute Sowchosen und Kolchosen liquidiert werden. Ich spreche für verschiedene Formen des Eigentums. Aber angesichts des Zustands, in dem sich bei uns heute die private Bauernwirtschaft befindet… Also, erstens gibt es von ihnen wenige. Wenn bei uns heute zum Beispiel 200 000 Hektar gepflügt werden, die Farmer davon aber nicht einmal 6000 schaffen, dann muß natürlich heute jeder die Kolchosen und Sowchosen kräftigen und unterstützen.
Und was die soziale Infrastruktur angeht, haben Sie vollkommen recht: Das muß der Staat natürlich auf die Schultern nehmen. Das gilt allgemein. Der Bezirk mit seinem Budjet, also wir, sollten ja Mittel erhalten, Steuern usw. usw., Budgetgelder, Sie verstehen. Aber heute sind die privaten Bauern für die Zeit von fünf Jahren alle von den Steuern befreit. Das heißt, von daher kommt keine Unterstützung. Und wir vom Rayon können nichts geben. Nötig wären Gelder aus dem staatlichen Budget. Subventionen. Nun, heute geht das bei uns noch:  Wir haben die Kindergärten jetzt in unsere Obhut genommen, auch die Schulen haben wir praktisch alle übernommen. Aber allgemein kann man heute die Tenzenz feststellen: In den Bezirken gibt es kein Geld. In den Kolchosen und Sowchosen hat man aufgehört, Geld in diesen Bereich zu stecken. Das bedeutet: Das Leben der Bevölkerung erstarrt.“

Take 5: Im Büro der Sowchose Lebjaschewo (1,30)

Regie: Anlaufen lassen, dann Erzähler-Text darüber

Erzähler: Verwaltungsbüro der Sowchose Lebjaschewo, einer der             Betriebe, in der die Privatisierung schon begonnen hat: Iwan Michailowitsch, Hauptingenieur, also ein Mitglied des Leitungskollektivs, beantwortet die Fragen, was sich seit der Privatisierung bei ihnen verändert habe: Ja, sie hätten mit der Aufteilung der Anteile begonnen, sagt er. Eine Versammlung habe man durchgeführt, eine Aktiengesellschaft begründet. Was das konkret bedeute, könne er nicht sagen. Das verstehe er selber nicht. Man befinde sich in einer Übergangszeit. Die Praxis müsse es zeigen.
Unmißverständlich äußert sich dagegen ein knöteriger alter Sowchosnik, der mir dort im Düro als Mechanisator vorgestellt wird:

take 6:  Mechanisator (1,55)

Regie: Ton voll anfahren, dann runtergehen, der Übersetzung, dann dem Erzähler unterlegen.

Übersetzer: „Wie soll ich sagen, nun, ich habe hier ja schon ein             ganzes Leben hinter mir, siebenundsechzig Jahre. Meiner Meinung nach war das Leben, als wir im Kollektiv waren, besser und freundschaftlicher. Ich sage das geradeheraus. Was haben wir jetzt dafür eingefangen? Wohin gehen wir jetzt? Wofür arbeiten wir jetzt? Was machen wir?“

Erzähler: Eine Illusion sei es, meint er, daß die             Arbeitsmotivation steige. Die privaten Bauern kämen hinten und vorn nicht zurecht: Maschinen zu teuer, Preise für die Produkte zu niedrig. Sie könnten ja kaum sich selbst ernähren. Jeder denke nur noch an sich. Geklaut werde wie nie zuvor. Alle Ordnung drohe sich aufzulösen. Der Maschinenpark zerfalle. Die Straßen und Wege würden zusehends schlechter, die Kantine ebenso. Das habe es in den siebzig Jahren sowjetischer Macht nicht gegeben. „Früher haben wir das alles finanziert“, erklärt er, „das war unsere Arbeit. Die Sowchose war ja für alles verantwortlich. Wer macht das jetzt?“

Take 7: Gebrüder Kelm (2,25)

Regie:    O-Ton Ankunft bei den Brüdern Kelm kurz stehen lassen, dann runterziehen und Kommentar drüber.

Erzähler:    Die Kelms finde ich auf dem Feld. Sie gehören zu             denen, die es gewagt haben. Die Kelms, das sind drei Brüder, ihre Frauen und Kinder. Viktors Frau ist Lehrerin, die Frau Saschas arbeitet bei der Post. „Nur vom Farmereinkommen können wir nicht leben“, erklären sie. Allein komme man schon gar nicht zurecht. Sie bestätigen, was ich schon im Sowchosenbüro gehört habe: Zu teure Kredite, fehlende, zu teure Maschinen; Schwierigkeiten, sich außerhalb der eingefahrenen kollektiven Wege zu bewegen. Die Sowchosenleitung stehe zwar formal hinter der Privatisierung. In der Praxis verweigere aber der erste Ingenieur zum Beispiel die Anlage zum Trocknen des Getreides. „Ohne diese Anlage sind wir aufgeschmissen, da verfault uns das Korn, besonders bei diesem Wetter!“

Kommentator: Für den Verkauf ihrer Produkte gibt es keinen Weg an             der „Agroprom“, der zentralen Landwirtschafts-Verwaltung vorbei. Die neue Organisation „AKor“, „Assoziation der Farmer und Kooperativen“ stellt keine Alternative dar. Sie muß sich selbst der vorhandenen Einrichtungen bedienen – und die sind nun einmal durch und durch kollektiviert, zentralisiert und monoplolisiert.

Erzähler: Von Zusammenarbeit mit anderen privaten Bauern             wollen die Brüder Kelm nichts wissen. „Das gibt nur Streit. Das würde nur die alten Formen wiederholen. Später vielleicht.“ Früher hätten sie in einem der `Kollektive besonderer Intensität‘ gearbeitet, höre ich. „Jetzt probieren wir es eben so!“, lachen sie. „Neue Namen, alte Probleme.“ Die frühere Form, so ihr Urteil, sei effektiver gewesen. Dafür sei man jetzt sein eigener Herr. Einen Weg zurück gebe es nicht. Das sei nur durch Blut möglich. Das ist für sie sicher.

Erzähler: Die Kelms stehen mit ihren Ansichten nicht allein.             Ähnliches hörte ich in weiteren sibirischen Regionen, die ich besuchte, ebenso wie bei Neubauern im Altai oder an der Wolga. Die Unterschiede in der Haltung zur Privatisierung sind groß, aber in einem gleicht sich das Bild überall:
Kommentar: Viele Sowchosen und Kolchosen sind bereits lange             unprofitabel. Die ungleichzeitige Entwicklung der Preise wirft die Landwirtschaft jetzt völlig zu Boden. Während die Preise für Korn, Fleisch, Milch usw. unter die Produktionskosten sinken, steigen zugleich die für Maschinen und sämtliche Güter des täglichen Bedarfs. Selbst in traditonellen Viehaltungsgegenden wie dem Altai wird der Kuhbestand abgebaut, weil die Haltung der Tiere teurer ist als die Einnahmen aus Milch- oder Fleischverkauf. Viele Sowchosen und Kolchosen stehen vor dem Bankrott, noch mehr haben schon seit Monaten keine Löhne gezahlt. Die privaten Bauern andererseits können sich unter diesen Umständen gar nicht erst entwickeln.

Erzähler:Im Bezirkszentrum Zivilski bei Tscheboksary an der             mittleren Wolga bringen zwei Redakteure einer Bezirkszeitung die Entwicklung auf den Punkt:

take 8: O-Ton Regionalredakteure an der Wolga (1,20)
Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegen, Übersetzer drüber.

Übersetzer: „Eigenproduktion an Ort und Stelle wäre nötig: Du             verarbeitest, was Du hervorbringst. Vor Ort müßte das stattfinden. Fleischzentren müßte man vor Ort eröffnen, eine Kwaßanlage, eine Molkerei us. usw. Kleine Anlagen vor Ort. So was hat es ja früher gegeben. Aber heute gibt es das nicht. Nichts ist da. Alles geht nach Tscheboksary, ins Zentrum. Für alles andere fehlt das Geld!“

Erzähler:  In Moskau, wieder im MOSSOWJET, nahm ich an einer             Beratung mehrerer Organisationen zur Agrarfrage teil. Hauptpunkt aller Beiträge war die Forderung der Entwicklung von produktiven und sozialen Infrastrukturen vor Ort. Die Realität aber ist umgekehrt: Die vorhandenen Strukturen werden weiter abgebaut. Für den Aufbau der neuen – fehlt das Geld. Kredite versickern auf ihrem Weg von Moskau zu ihrem potentiellen Empfängern vor Ort in den Amtsstuben der neuen und alten Bürokratie. Aus dem ehemaligen Industriegiganten droht bei Fortsetzung dieses Kurses nicht einmal ein Agrarland, sondern ein nachindustrielles Trümmelfeld zu werden.
*

Von Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

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