Ansage:
In der ehemaligen Sowjetunion hat die Kampagne zur Privatisierung begonnen. Bis Ende 1992 soll der wichtigste Teil der bisherigen Staatsbetriebe in Privatbesitz überführt worden sein. Ein Volk von Eigentümern soll entstehen. Die Privatisierung, auch Entstaatlichung genannt, ist der zweite Schritt des „Schockprogramms“, mit dem Boris Jelzin nach der Ablösung Michail Gorbatschows die Empfehlungen des „Internationalen Währungsfonds“ in praktische Politik umzusetzen versucht. Neue Kreditzusagen des Fonds begleiten diesen Schritt. Man erwartet Erfolge.
Erzähler
Wer sich ins Land begibt, wird mit einer anderen Realität konfrontiert. Tausende stehen auf den Straßen. Sie verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist. In den Büros und Fabriken stockt die Arbeit. Überhöhte Steuern untergraben Handel und Produktion.
Auch die Valutahoheit hat der Staat wieder an sich gezogen. Damit sind alle Eigeninititiaven im Ost-West-Handel blockiert. Nichts geht mehr. Die kleinen Firmen stehen vor dem Bankrott.
Dima, Chef einer Computer-Kooperative in Moskau, die das neue Firmensterben bisher überstanden hat, beschreibt die Situation so:
Dima: (Take 1)
„Alles ist jetzt stehengeblieben. Alles ist gelähmt. Man verkauft nicht und kauft nicht. Irgendwelche alten Verträge werden noch erfüllt, die, die früher bezahlt wurden.“
Erzähler:
Zur Privatisierung befragt, erklärt Dima:
Dima:
„Ich denke, daß es überhaupt keine Privatisierung gibt, daß derselbe Kampf um die Macht läuft wie ehedem. Jeder zieht die Decke zu sich herüber. Nur, sie verstehen eine einfache Sache nicht: daß sie übertreiben! Wieviel Zeit ist schon vergangen? Die Decke reißt im Endeffekt einfach auseinander und keiner kriegt etwas. Alle erfrieren oder krepieren an Hunger.“
Erzähler:
Aber nicht jeder sieht die Lage so illusionslos wie dieser junge Unternehmer. Da sind zunächst die liberalen Befürworter der Jelzin-Linie, jene, die ihn im August `91 an die Macht brachten. Typisch ist Wladimir Markow. Markow ist Mitarbeiter am „Wernadski-Institut für natürliche Ressourcen“ in Moskau, dort verantwortlich für soziologische Regional-Analyse. Im Zuge der Perestroika wurde er vom wissenschaftlichen Beobachter zum regionalen Unternehmensberater, der den örtlichen Autoritäten von „Arsamas 16“, einem Distrikt im zentralrussischen Wolga-Raum, dabei helfen will, den Weg in die neue marktwirtschaftliche Wirklichkeit zu finden. Markow ist durchaus kritisch gegenüber Boris Jelzin. Er tritt für eine „sozialistische Privatisierung“ ein. Darunter versteht er die Schaffung einer leistungsorientierten Eigentümergesellschaft nach westlichem Vorbild.
Auf die Frage, was sich unter Jelzins Politik geändert habe, antwortet Wladimir Markow:
Wladimir Markov: (Take 2)
„Die wesentlichste Veränderung ist wohl die, daß jetzt ganz offensichtlich nach den Gesprächen über die Privatisierung die konkrete Handlung beginnt. Nur wird das noch auf der Ebene des örtlichen Verwaltungsapparates gemacht. (…) Eine Rückkoppelung zur Bevölkerung findet praktisch noch nicht statt.“
Erzähler:
Aber auch Wladimir Markov ist unzufrieden. Er kennt in seiner Region viele Menschen, die Unternehmer werden wollen. Aber ihre Ansätze bleiben stecken. Sie leben ständig in Sorge, daß der Staat alles wieder ändert.
Wladimir Markov:
„Die Bevölkerung in unserer Provinz ist ja mehr daran gewöhnt, Befehle auszuführen. Darin liegt eine der Schwierigkeiten unserer ganzen Entwicklung. Solange man unseren Leuten nicht etwas befiehlt – absurd, aber wahr – tun sie nichts. (…) Das ist ein Merkmal unserer russischen Gesellschaft. Es ist eine traditionelle Antipathie gegen die Macht, diese Überzeugung, daß du nicht der Träger von Bürgerrechten bist, sondern ein Objekt der Unterdrückung. Diese Antipathie ist schon genetisch bei uns. Sie zu überwinden, ist meiner Meinung nach eines der Hauptprobleme, das jetzt vor uns steht. Leider gibt sich nicht einer unserer Politiker Rechenschaft darüber, wie ernst diese Lage ist. Sie schicken nach wie vor mit neobolschewistischem Enthusiasmus Blitz und Donner, verschiedene Ukase, Befehle, Anweisungen, mit der Drohung von allem Möglichen. Daraus wird nichts. Sowas gab es sogar unter Stalin nicht. Wenn es das gab, dann mit schlechten Ergebnissen. Und jetzt ist das noch sinnloser.“
Erzähler:
Aber Markow will sich die Hoffnung nicht nehmen lassen. „Sozialen Optimismus“ nennt er das. Er ist überzeugt:
Wladimir Markow
„Man braucht nur einen klaren rechtlichen Rahmen, dann würde der Prozess der Eigentumsbildung losgehen, den aber giebt die Regierung nicht. So kommt alles zum Stillstand.“
Erzähler:
Der fehlende Rahmen kann es jedoch nicht sein, der den Stillstand verursacht. Schließlich gibt es durchaus Gesetze, wenn auch nicht gerade im westlichen Sinne demokratisch zustandegekommen. Grundlage der Privatisierungs-Kampagne ist ein „Ukas“, ein Erlaß des Präsidenten Jelzin vom 29.12.91, seit neuestem ergänzt durch ein „Memorandum“ der Regierung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik für das Jahr 1992, in denen privatisierungspflichtige, genehmigungspflichtige und nicht zur Privatisierung freigegebene Objekten detailliert aufgezählt werden.
Privatisiert werden sollen danach zuallererst kommunale Betriebe, das Transport- und Dienstleistungswesen, die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie. Für einige wenige kommunale Betriebe müssen besondere Genehmigungen eingeholt werden. Auch sie werden in dem „Ukas“ minutiös aufgezählt. Ein ausdrückliches Verbot der Privatisierung dagegen wird für alle natürlichen Ressourcen des Landes ausgesprochen, ebenso für Kultur und Wissenschaftsfonds, generell, wie es heißt, für alle Betriebe, die „gesamtstaatliche, strategische und kulturelle Interessen wahrnehmen“. Das beträfe nicht zuletzt Betriebe des sog. „Militärisch-industriellen-Komplexes.
Besonders hervorgehoben, wird die Notwendigkeit, Verlustbetriebe zu sanieren. Darauf soll vor allem auch das Interesse des ausländischen Kapitals gelenkt werden. Dessen Beteiligung an der Privatisierung profitabler Großbetriebe soll dagegen der Genehming der obersten russischen Behörden bedürfen. Dieser Passus ist allerdings zugleich der in der Öffentlichkeit am wenigsten bekannte.
Auch ein offizielles Verfahren wurde festgelegt: Laut Gesetz kann ein Antrag auf Privatisierung zwar von beliebigen Leuten eingeleitet werden. Das „Arbeitskollektiv“, also die Belegschaften, muß jedoch zustimmen. Eine durch die Kollektive kontrollierbare Privatisierungs-Kommission soll die Verkäufe dann durchführen und überwachen, nachdem die Betriebe als Aktiengesellschaft deklariert wurden. Die „Arbeitskollektive“ sollen außerdem mindestens 25% der Anteile umsonst erhalten. 5% sollen an die Betriebsleitung gehen, 10% zu ermäßigten Preis erworben werden können. Offizieller Stichtag für den Beginn der Kampagne war der 1. April.
Anders als die Liberalen, die die Verschleppung der Privatisierung beklagen, kritisiert die neue Opposition, Radikaldemokraten letzlich nicht anders als die Konservativen, deren unkontrolliertes Wuchern. Die Klagen der Regierung über den Boykott durch korrrupte Bürokraten sind in ihren Augen nur Ablenkungsmanöver, die die Bevölkerung über die eigentlichen Vorgänge täuschen sollen. Im „St. Petersbruger Jugendverband“, hervorgegangen aus dem „Komsomol“, der früheren Jugendorganisation der KPdSU, einer der opppositionellen Zellen St. Petersburgs, klingt das so:
Mitglied: Jugendverband: (Sollonninow) (Take 3)
„Offiziell ist die Privatisierung noch nicht verkündet worden. Offiziell fängt sie erst im April, Mai an. Aber in Wirklichkeit läuft sie schon, und das nicht erst ein Jahr. Das ist die sogenannte Nomenklatur- Privatisierung. Alles Wertvolle, was es bei uns im Staat noch gab – jene Werke, jene Produktionen, die rentabel waren, das, was man im Rahmen der Marktwirtschaft nutzen kann – wird verkauft, außerhalb der Gesetze, vorbei an irgendwelchen öffentlichen Kommissionen, ohne Einschaltung der Massenmedien, erst recht ohne die Beteiligung der Werktätigenkollektive. Das geht so in Privathand. Es kursiert jetzt ein Witz in der politischen Welt: Bei Beginn der Privatisierung wirde sich herausstellen, daß alles, was irgend nur möglich war, bereits privatisiert ist.“
Erzähler:
Der so spricht, ist Dimitri Sollonninow, Student der Informatik, Redakteur bei der St. Petersburger Jugendzeitung „Novaja Gasjeta“ und Aktivist des Jugendverbandes. Dimitri ist, wie die ganze Redaktion, erklärter Antistalinist, aber Sympathisant eines reformsozialistischen Weges. Auch Dimitri ist keineswegs prinzipiell gegen Privatisierung, vorausgesetzt, daß sie „zivilisiert“, darunter versteht er, kontrollierbar und im Interesse der arbeitenden Bevölkerung verläuft. Davon kann jedoch offenbar nicht die Rede sein. Verkauft wird, woran westliche Kreditgeber interessiert sind. Das sind keineswegs die Verlustbetriebe, sondern die besten Hotels, die interessantesten Plätze, die profitabelsten Fabriken. Die Belegschaften werden formal einbezogen, faktisch umgangen. Viele Beamte der staatsmonopolistischen Ministerien und Direktoren von Betrieben schieben sich die Aktienpakete auf inzwischen über 700 Börsen gegenseitig zu. Einen kontrollierbaren Kapitalmarkt, der die Preise für Angebot und Nachfrage kontrollieren könnte, gibt es nicht. Zurück bleibt der Schrott, verrottete Häuser, veraltete Produktion, ineffektive Arbeitsverfahren. Für diese Betriebe gibt es nur noch die Versteigerung, den Bankrott. Das gleiche gilt für die Privatisierung auf dem Lande.
Bitter resümiert Dimitri:
Dimitri Solloninow:
„Nichts hat sich geändert. Das System der Ministerien, der Sowchosen und Kolchosen funktioniert, wie es immer funktioniert hat. Es heißt jetzt nur anders. Das Minsisterium wird Konzern genannt, die Kolchose auf Erlaß des Präsidenten `Aktiengesellschaft geschlossenen Typs‘.
Erzähler:
Nostalgische Untertöne sind nicht zu überhören, wenn Dimitri fortfährt:
Dimitri Solloninow:
„Früher spielte die KPdSU die Rolle eines Mechanismus, der die Kontrolle über die Einhaltung von Regeln der Produktion, der Durchführung von rechtlichen Normen hatte – als all das zusammenbrach, blieb das Eigentum in alten Händen, aber das Kontrollsystem brach weg. Jetzt betrachtet jeder seine führende Stelle vor allem als Möglichkeit der eigenen Bereicherung.“
Erzähler:
Bereicherung ist auch das Stichwort Dr. Oxana Dimitriewas. Ihr kann man sicherlich keine Sympathie für sozialistische Nostalgie nachsagen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Finanz-ökonomischen Institut in St. Petersburg, empirisch tätige Soziologin und seit einigen Jahren Chefin eines Instituts zur Unternehmensberatung. 1989 erhielt sie einen Preis für das Konzept der „Selbstbewirtschaftung“ Leningrads. Ein Jahr später sah sie sich durch Pläne für eine „freie Zone Leningrads“ beiseitegeschoben, die statt des allmählichen Übergangs zu Marktverhältnissen deren sofortige Herstellung in einer Art Freihandelszone vorschlugen. Auch Frau Dimitriewa ist keineswegs prinzipiell gegen Privatisierung. Die aktuelle Politik der Regierung bezeichnet sie jedoch als „System der Mafianisierung“, das vor allem von priviligierten Westbeziehungen lebe. Die Entwicklung der „freien Zone“ ist für Frau Dimitriewa exemplarisch:
Oxana Dimitriewa: (Take 4)
„Ich habe Ihnen erzählt, daß das alles nur Worte waren, daß das niemals funktionieren würde. Und tatsächlich, es funktionierte nicht. Es hat nur den Leuten einige Vorteile gebracht, die darin engagiert waren. Sie reisten ins Ausland, hielten Vorlesungen, wurden dafür bezahlt. Das mag westlichen Leuten ziemlich gering erscheinen, aber für uns ist das, gemessen am Rubelkurs, ein großes Einkommen. Dafür müssen sogar Unternehmer auf höchster Ebene bei uns ein Jahr lang arbeiten. Diese Leute bekamen das dort für eine Vorlesung. Das ist eine ernsthafte Tatsache, die das Verhalten unseres Volkes, unserer Regierung beeinflußt und die man in Betracht ziehen muß: Reisen, Honorare für Vorlesungen, Artikel und sogar Bücher. Das muß man berücksichtigen, wenn man die Politik und das Verhalten der Macher der Politik analysiert. Ihr Wunsch nach Westkontakten ist nicht nur von objektiven Notwendigkeiten des Landes nach ökonomischen Beziehungen diktiert, sondern durch ihre persönlichen Interessen, solche Vergünstigungen zu erhalten. Ich möchte keine Namen nennen, aber viele, die ich kenne, haben es geschafft, von solchen Einkünften Wohnungen zu kaufen, Autos usw. Eine Wohnung z. B. kostet zur Zeit 2000 Dollar. Das ist gerade die Summe, die eine Person mit guter Ausbildung mit einigen Vorträgen im Westen einstreichen kann.“
Erzähler:
Frau Dimitriewa ist keine Anti-Westlerin. Sie hat in London studiert und verfügt selber über gute Kontakte zum Westen. Demokratie nach westlichem Standard für ihr Land zu erreichen, ist ihre Sehnsucht. Umso mehr wiegt ihr Urteil:
Oxana Dimitriewa
„So ist die ganze Sache mit der „feien Zone“ einfach ein Abenteuer und ein großer Reinfall. So haben sie die Leute zwei Jahre lang betrogen. Danach ist nichts! Die wirtschaftliche Situation in Leningrad ist schlechter als in vielen anderen Städten. (…) Aber dieselben Leute, die für diesen Unsinn verantwortlich sind, halten jetzt die Posten im Parlament und in der Regierung besetzt. Wie sie in den letzten beiden Jahren die St. Petersburger Bevölkerung getäuscht haben, so täuschen sie jetzt das ganze Land über ihre Wirtschaftspolitik. Nehmen wir zum Beispiel den Herrn Tschuwajs. Er war einer der Ideologen der „freien Zone“. Nachdem er die „freie Zone“ erfunden, die Leute genarrt, seine vollkommene Ingnoranz in wirtschaftlicher Praxis und Theorie bewiesen hat, hat er jetzt den Posten des Vorsitzenden der Privatisierungskommission in Moskau erhalten. So etwas ist in keinem anderen Land möglich.“
Erzähler:
Was der junge Unternehmer „Kampf um die Macht“, was Wladimir Markow „bürokratische“, was Dimitri Solloninow „nomenklaturische Privatisierung“ nannte, das nennt Frau Dimitriewa die „neue Welle“. Gemeint ist damit in allen Fällen dasselbe, nämlich die Erneuerung des Staatsdirigismus unter demokratischer Fahne. Alte und Neue Macht spielen sich Posten, Verbindungen und Gelder gegenseitig in die Hände. Vertreter der neuen Macht, die vor ihrem Aufrücken in die neue Bürokratie niemanden außer sich selbst und allgemeine demokratische Programme repräsentierten, vertreten inzwischen handfeste Interessen der so erneuerten herrschenden Schicht. Nicht Entstaatlichung, wie offiziell verkündet, sondern neuerliche Verstaatlichung sind die Folgen der gegenwärtigen Politik. Schon 1989 hatte Frau Dimitriewa den Antritt der „neuen Macht“ als bloßen Elitenwechsel kritisiert. Durch den Machtantritt Jelzins sieht sie diese Entwicklung in unheilvoller Weise vollendet:
Oxana Dimitriewa:
„Sie erdrosselten die unabhängigen Geschäfte und öffneten den Weg für sich selber. Das war der erste Widerstand gegen die Entstehung einer unabhängigen mittelständischen Unternehmerschicht. Das hat die Initiativen niedergeschlagen. Nun wiederholt sich die Situation, allerdings durch eine neue Welle von Bürokraten. Jede Welle nutzt ihre Zeit an der politischen Macht zur Akkumulation ökonomischer Macht. Aber, um das in westlicher Terminologie auszudrücken, das heißt nichts anderes als Korruption. Und es bedeutet, daß es unter diesen Umständen niemals einen Rahmen für unabhängiges Unternehmertum geben wird. Sie werden immer versuchen, die unabhängigen Unternehmer, die nicht mit ihnen verbunden sind, zu isolieren und ihr eigenes Monopol zu sichern. Diese Situation wiederholt sich jetzt. (…) Wir stehen vor einer Katastrophe.“
Erzähler:
Für Valeri Jewalkow, 22 Jahre ist die Katastrophe schon da. Er ist Facharbeiter bei „LOMO“, das ist die „leningrader optisch-technische Vereinigung“. Valeri möchte sich mit Freunden zusammen selbstständig machen. Sie möchten Keramik produzieren. Gefragt, wie er sich das konkret vorstelle, antwortet er:
Valeri Jewalkow: (Take 5)
„Erst müssen wir Geld verdienen, irgendwie, ohne Investitionen, durch Vermittlerdienste. Nehmen wir an: es gibt einen Verkäufer, der nicht weiß, wem er sein Geld anbieten soll. Ich finde für ihn einen Käufer und kriege dafür Prozente. Damit muß ich dann einen Haufen Geld machen, mir Produktionsmittel kaufen, ein Gebäude pachten, irgendwie auf die Beine kommen, mir eine materielle Basis schaffen. Dann muß ich aber auch schon mit der Produktion beginnen. Aber wie soll das jetzt funktionieren? Allein die Pacht und die Steuern würgen dich ab! (…) Ich habe viele Freunde, die in kleinen Unternehmen arbeiten, denen geht die Luft aus. Sie sitzen da und warten, daß sich die Steuerpolitik der Regierung ändert, damit man wenigstens irgendwas machen kann. (…) Die Regierung sagt, man soll dem Volk die Handlungsfreiheit geben, irgendwelche Vergünstigungen für Unternehmer, Möglichkeit hochzukommen. Aber sie fangen gleich an, alles abzuwürgen. Gerade hat einer angefangen und schon… “
Erzähler:
Für Valerie ist klar: Die Zukunft gehört nur den Großen. Bleibt zu ergänzen: Oder denen, die es geschafft haben, in den ersten Jahren der Perestroika soviel Kapital und politische Verbindungen zu akkumulieren, daß sie schon zu den Protegierten und nicht mehr zu den Opfern der „neuen Welle“ gehören.
Dies alles erweckt den Anschein, als ob in der ehemaligen Sowjetunion nur noch ein einziges Gesetz gilt, das Gesetz des „wilden“ Kapitalismus, das Wolfsgesetz. Aber die zu kurz gewordene Decke auf sich selbst zu ziehen, ist im Rußland der Privatisierung trotz allem nicht einfach identisch mit „persönlicher Bereicherung“. Offenbar ist es nicht einmal mit dem Kampf um die persönliche Vormachtstellung auf dem erhofften neuen Markt getan. Die Lage ist komplizierter: Es geht ums Überleben, und zwar nicht nur um das des Einzelnen, sondern um das Überleben jener kollektiven Strukturen, die die Existenz des Einzelnen erst garantieren.
Dimitri Solloninow versucht es so zu erklären:
Dimitri Solloninow:
„Logisch wäre es, scheint mir, das Geld aus den Privatisierungsverkäufen zur Modernisierung von Betrieben auszugeben. Das wäre von Vorteil, aber das passiert nicht. Für einen Teil des Geldes wird Konsumgut gekauft: Lebensmittel… Schuhe, all das, was früher über staatliche Wege besorgt wurde. Das macht der Betrieb, der verkauft wurde, selbst. Ein anderer Teil des Geldes geht an das Ministerium, zu dem der Betrieb gehört. Es versucht damit die Löhne zu erhöhen, die seiner Angestellten. Also versorgt das Ministerium, indem Teile eines Betriebes verkauft, im Endeffekt nur die Leute, die in ihm arbeiten. Es wird alles aufgegessen. Es geht nicht in die Modernisierung der Produktion im Land ein.“
Erzähler:
Ein Beispiel für das, was Dimitri beschreibt, ist das Kirowwerk in St. Petersburg. Früher war es einer der Musterbetriebe der Union. Panzer und schwere Landmaschinen wurden dort produziert. Ganz zu schweigen vom Rückgang der Rüstungsproduktion, stehen dort zur Zeit 1000 Traktoren auf Lager, das Stück zu 800.000 Rubel. Niemand kann solche Preise bezahlen, besonders nachdem den Sowchosen die Subventionen gestrichen worden sind, abgesehen davon, daß die Traktoren für die angestrebte Individualwirtschaft viel zu schwer sind. Jetzt wird dort in einer Schicht gearbeitet, vier Stunden. Das Werk soll privatisiert, also aus einem Staatsbetrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Noch aber ist nichts verkauft. Die Verhandlungen laufen. Nur durch Verkauf anderer Betriebe hat das Ministerium, dem das Kirowwerk, wenn man so sagen kann, gehört, noch Geld, den Arbeitern die Löhne zu zahlen. Ebenso macht es der Direktor des Betriebs selbst. Er verkauft nach und nach einzelne Teile des Werkes, einzelne Gebäude, einzelne Produktionsstätten, einzelne Werkbänke. Er verpachtet und verkauft den Vorrat an Metall, der noch vorhanden ist.
Dimitri Solloninow:
„Jetzt verkaufen alle Betriebe sich selbst auf diese Art. (…) Jeder weiß, daß ein nichtproduzierendes Werk Blödsinn ist. Es kann nicht bestehen. Das ist unnormal. Die Arbeiter müssen entlassen werden. Sie machen doch nichts! Aber wenn man sie entläßt, gibt es einen fürchterlichen sozialen Knall in der Stadt. Deshalb zieht man vor, das Werk Teil für Teil zu verkaufen.“
Erzähler:
Um zu verstehen, was Dimitri schildert, muß man sich die besonderen Strukturen der Wirtschaft der ehemaligen Sowjetunion vor Augen führen: Über 90% ihrer Betriebe sind staatlich. Monopolistische Großbetriebe sind die Norm. In Petersburg gehören allein 85% außerdem zum sog. militärisch-industriellen Komplex. Und nicht nur das: Jeder Betrieb ist ein Kosmos für sich. Er hat seine eigene Versorgungsstruktur, die parallel zur allgemeinen staatlichen verläuft. Er hat seine eigenen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Kindergärten, Ferienheime, ganze städtische Infrastrukturen sind Sache des Betriebes. Vor allem für Betriebe in der Provinz, wo häufig eine Stadt allein um ein Produkt herum entstanden ist, steht und fällt das eigene Wohlergehen daher mit Wohlergehen des Betriebes. Hier wird sichtbar, daß der Kampf um die Privatisierung weit über den bloßen Ärger wegen der neuen Korruption hinausgeht.
Auch Viktor Kamarow, Arbeiter bei „Elektron“, kann darüber einiges erzählen. Bei „Elektron“, wo die „nomenklaturische Privatisierung“ voll im Gange ist, zeigen sich die Folgen:
Viktor Kamarow: (Take 6)
„Es tauchen noch andere Schwierigkeiten auf. Sie sind damit verbunden, daß die Betriebe ihre Dienstleistungssphäre haben. Bei uns im Land war es ja so: Eine Gesellschaft hatte Krankenhäuser, Sanatorien, Pionierlager, Erholungshäuser. Das Kirowwerk hat beispielsweise ein Krankenhaus, das dem in nichts nachstand, in denen die Nomenklatura behandelt wurde, das Swerdlow- Krankenhaus. Dort wurden die Arbeiter s e h r gut behandelt, auf sehr hohem Niveau. Diese privilegierten Betriebe gab es bei uns. (…) Jetzt wird die Lage bei ihnen rapide schlechter.“
Erzähler:
Viktor Kamarow weiß, wovon er spricht. Bei „Elektron“ hat sich die Decke bereits als zu kurz erwiesen. Nach über 20jähriger Betriebszugehörigkeit wurde Viktor wie viele andere soeben entlassen. Er stände ohne Einkommen da, bezöge er nicht als Funktionär der „Föderation unabhängiger Gewerkschaften“ und aus kleineren publizistischen Tätigkeiten einen bescheidenen Unterhalt.
Die Privatisierung wird die Wirtschaft ruinieren, fürchtet Viktor. Zur Begründung verweist er auf die Besonderheiten der sowjetischen Produktion, in der profitable und nicht profitable Betriebe in einem System der Abhängigkeit miteinander verkoppelt waren.
Viktor Kamarow:
„Bei uns sind ja bisher verschiedene Betriebstypen in einem Konsortium zusammengefaßt. Ein Teil stellt Spezialprodukte her, ein anderer dient dem Konsum. Die `notwendige Produktion‘, wie wir das erste nennen, war profitabel. Das brauchten ja tausende vom Betrieben. Das für den Konsum ging so nebenbei. Die Betriebe waren aber verpflichtet, es zu machen, obwohl es nicht profitabel war, ja sogar am Rande des Verlustes lag. Aber es wurde durch die staatliche Förderung gedeckt und alles war in Ordnung. Jetzt läuft es andersherum. Jetzt wird Konsumgut gebraucht – na sowas wie Töpfe, Möbel, Lampen. Das wird jetzt lohnend. Die Produktion von Elektronik, von Zubehörteilen usw. wird dagegen unprofitabel. Der Staat hört auf, das zu fördern.“
Erzähler
Für Viktor liegen die Folgen auf der Hand: Zerreißen der gewachsenen Wirtschaftsverbindungen, Produktionsstillstand, Massenentlassungen.
Viktor Kamarow
„Heute haben wir eine verdeckte Arbeitslosigkeit. In Petersburg es zum Beispiel nur 10.000 offiziell registrierte Arbeitslose. Die Zahl ist jedoch sehr dehnbar. Die meisten Arbeitslosen sind nicht registriert. Sie schlagen sich irgendwie durch. Wissen Sie, nicht alles hat bei uns einen Herrn. Man kann bei uns von allem möglichen leben, ohne wirklich zu arbeiten. Aber wenn es zum massenhaften Stillstand der Betriebe kommt, dann wird es sehr schwer.“
Erzähler:
„LOMO“, Kirowwerk, „Elektron“, 30.000, 40.000, 100.000 Menschen, die ganze Industrie dieses Riesenlandes – Millionen sind in solche heillosen Debatten verstrickt. Noch gelingt es, die zu kurz gewordene Decke immer wieder von einer Blöße auf die andere zu schieben. Aber der Tag ist tatsächlich absehbar, an dem sie endgültig zerreißt. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine neue, paradox erscheinende Konfrontationslinie im Lande heraus: Direktoren, Manager, kleine Unternehmer und Belegschaften, selbst solche, die schon privatisiert haben, entdecken ihr gemeinsames Interesse gegen die Privatisierungslinie des Staates. Das gilt für Produktionsbetriebe nicht anders als für Sowchosen und Kolchosen. Immer öfter treten Direktoren namens ihrer Kollektive im Fernsehen, in der Presse oder in politischen Versammlungen gegen die liberale Linie der Total-Privatisierung auf. Die Erklärungen dafür sind verschieden: Oxana Dimitriewa sieht darin die paternalistische Verantwortung der Direktoren, die die Katastrophe verhindern wollen. Wladimir Markow fürchtet die Wiedergeburt des russischen Kollektivismus im Geist der „obschina“, der russischen Dorfgemeinde. Konservative beschwören eben diese mentalität als Qualität des russischen Volkes.
Boris Kagarlitzky, einer der Köpfe der reformsozialistischen Bewegung sagt es nüchtern:
Boris Kagarlitzky: (Take 8)
„Sie sind Technokraten. Sie wissen, daß nahezu jede Privatisierungsstrategie die Unternehmen ruiniert. In diesem Sinne erhöht jede Privatisierung das Risiko für die Direktoren, weil sie dann nichts mehr zu leiten hätten. Sie sorgen sich um ihre eigenen Arbeitsplätze. (…) Wenn sie also die Arbeitskollektive zerstören, selbst um den Profit des Unternehmens zu erhöhen, dann zerstören sie in einer Wirtschaft wie der, die wir heute haben, ihre eigenen Überlebensmöglichkeiten. (…) Sie müssen ihre Belegschaft so loyal sich gegenüber halten wie irgend möglich. Wenn sie anfangen zu entlassen, haben sie sofort das Risiko von Streiks.“
Erzähler:
Allen Hoffnungen auf eine „demokratische“, eine „sozialistische“ oder sonstwie „richtige“ Privatisierung, sei es aus dem liberalen, sei es aus seinem eigenen Lager, mit denen die Ausuferungen der nomenklaturischen Korruption zu korrigieren seien, setzt Boris Kagarlitzky die harte Realität entgegen:
Boris kagarlitzky:
„Natürlich, die Privatisierung ist heute bürokratisch, weil es keine andere Möglichkeit gibt, etwas zu privatisieren, denn es gibt keine Bourgeoisie, keinen Privatsektor, der etwas kaufen könnte. Daraus resultiert, daß es keine Privatisierung geben kann, die nicht bürokratisch ist. Etwas anderes ist eine totale Utopie, Unsinn. (…) Die `nomenklaturische Privatisierung‘ wurde nicht wegen der schlechten Leute so beherrschend, nicht weil die Nomenklatura darauf drängte. Sie ist auch der technisch leichteste und der erfolgreichste Weg, weil sie weniger von der Wirtschaft zerstört als irgendeine andere Strategie. Mit jeder anderen Strategie wäre der Zusammenbruch noch schlimmer.“
Erzähler:
Auch die Aufteilung der Unternehmen an die Arbeitskollektive ist für Boris Kagarlitzky kein Ausweg. Sie ein einfach zu Eigentümern der Unternehmen zu erklären, ohne die Rahmenbedingungen zu ändern, hält er für den besten Weg, sie in den Bakrott zu treiben. Unvermeidlich ist für ihn auch die Vernichtung der gegenwärtigen neuen Mittelschicht. Sie bekomme nur, was sie sich mit der hemmungslosen Unterstützung der Jelzin-Regierung selbst angerührt habe.
Boris Kagarlitzky:
„Es gibt keinen Ausweg. Die Katastrophe ist unvermeidlich und notwendig. Die Strukturen, die jetzt existieren, haben sich als unfähig erwiesen, auch nur das Problem ihres eigenen Überlebens zu lösen, auch nur die minimalsten technischen Voraussetzung für das eigene Selbstinteresse zu liefern. Wenn so etwas geschieht, dann heißt das, daß solche sozialen Strukturen nicht verdienen, fortgesetzt zu werden. Man muß die Gesellschaft von Anfang an wieder aufbauen.“
Erzähler:
Der Realität, die Boris Kagarlitzky ausspricht, kann sich kaum jemand, wer sich im Lande umsieht. Aber was ein „neuer Anfang“ ist, darüber gibt es in zur Zeit wohl soviel Meinungen wie Menschen in der ehemaligen Sowjetunion. Nur eins ist sicher: In der Privatisierung allein liegt er nicht.
Kai Ehlers, 7.4.92
Von Kai Ehlers erschien soeben:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, 19,80 DM.