Perestroika:

Drei Thesen und ein Ausblick

Alle reden vom Scheitern der Perestroika. Es sieht es so aus, als ob Gorbatschows Tage als Held des „neuen Denkens“ und Garant für eine demokratische Öffnung der UdSSR gezählt seien. Nachdem es im Herbst noch darum gehen sollte, die Krise mit einem Privatisierungs- und Stabilitätsprogramm binnen 500 Tagen zu überwinden, macht sich ein „Nationales Rettungskomitee“, die aktuelle Sammlungsbewegung der „Konservátori“, nunmehr anheischig, Chaos und Anarchie in 100 Tagen erledigen zu wollen. Gorbatschow, so hat der Sprecher des Komitees, Woronin, wissen lassen, brauche nur seinen Hut zu nehmen und die Steuerung der Unionsgeschicke dem Komitee zu überlassen, dann werde alles geregelt. Gorbatschow seinerseits beschwört den langen Atem einer Notstandsdiktatur.   Tatsächlich, dies alles könnte sehr schnell in der Herrschaft einer Junta nach chilenischem Muster enden, wie es sowjetische oppositionelle bereits öffentlich als Befürchtung ausgesprochen haben. Gescheitert, so meine erste These, ist aber nicht Perestroika. Gescheitert sind die Illusionen in Perestroika als schnelle demokratische Revolution, und das mehr noch im Westen als in der UdSSR selbst.
Perestroika bedeutete aber mehr, vielleicht besser zu sagen weniger als Demokratisierung. Perestroika bedeutete Modernisierung der sowjetischen Industriegesellschaft. Unter dem Stichwort der „Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung“ präsentierte das turnusmäßig tagende Plenum der KPdSU einer aufmerkenden Öffentlichkeit im In- und Ausland 1985 ein gigantisches Modernisierungsprogramm. Atom-, Computer- und Biotechnologie sollten verstärkt ausgebaut, die übrige Produktion intensiviert, rationalisiert und effektiviert werden. Zur Jahrtausendwende sollte der wissenschaftliche, technologische und soziale Vorsprung des Westens eingeholt, von diesem Zeitpunkt an überholt sein.
Was die Welt aufmerken ließ: nicht der seit Jahrzehnten ritualisierte bürokratische Appell zu mehr sozialistischer Aufbauleistung, sondern die Aktivierung des Faktors Mensch, wie die neue Sprachregelung lautete, sollte die Grundlage des geplanten Sprungs ins Zweite Jahrtausend sein: Perestroika durch Glasnost, Wandel durch Demokratisierung.
Im Februar 1986 gab der 27. Parteitag der KPdSU dem Programm die Weihe der revolutionären Erneuerung des Sozialismus. Er betonte allerdings zugleich den systemimmanenten Charakter der geplanten Reformen. Der „Faktor Mensch“ sollte motiviert werden, jedoch nicht zu revolutionärem Umsturz der herrschenden Macht- und Besitzverhältnisse, sondern zu besserer Arbeitsleistung im Rahmen der gegebenen Ordnung.
Während der Westen noch die ungewohnten Worte ‚Perestroika‘ und ‚Glasnost‘ buchstabieren lernte, überschwemmte Gorbatschows Lieblingsparole `delo, delo, delo‘, etwa: `mach, mach, mach`, ‚Tat, Leistung, Verantwortung‘, bereits in Broschüren, auf Plakaten, Ansteckern und Versammlungen das Land. Zwar verschwieg Gorbatschow nicht, dass der Weg zum westlichen Lebensstandard über die Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten des sozialistischen Schlendrians, möglicherweise gar durch eine vorübergehende Krise führen werde. Aber erst Tatjana Saslawskaja, Soziologin, Wegbereiterin der Perestroika noch vor Gorbatschows Berufung, danach vorübergehend in seinen engsten Beraterkreis aufgerückt, heute eine unter den schärfsten Kritikerinnen Gorbatschows, konfrontierte die sowjetische Öffentlichkeit in den Jahren ’87 und ’88 mit der hässlichen Seite der Perestroika.
Gestützt auf umfangreiche statistische Daten und Meinungsumfragen zu den Ursachen und dem bisherigem Verlauf der Perestroika erklärte sie ungeschminkt, Perestroika werde zu einer „klaren Abgrenzung der gewissenhaften Arbeiter von den Schluderern“ führen. Überhaupt sei Perestroika keineswegs eine soziale Revolution, etwa der Arbeiter und Bauern gegen den Apparat, den Handel und das Dienstleistungsgewerbe. Dazu sei die Mehrheit der Bevölkerung weder bereit noch fähig. Perestroika ziele vielmehr auf Aktivierung der qualifiziertesten Kräfte aller Klassen, Schichten und Gruppen, sei eine politische Revolution der demokratisch gesinnten gegen die rückständigen und reaktionären Teile des Volkes. Im Besonderen werde Perestroika eine aktive soziale Mittelschicht entstehen lassen. Andererseits werde Perestroika die Lage der sozialen Gruppen zueinander grundlegend verändern, wobei die einen auf Kosten der anderen Vorteile erlangen würden. Die notwendige Rationalisierung werde zu Arbeitslosigkeit, vielleicht zu Massenelend führen. Nicht zuletzt Frauen mit Kleinkindern, Kranke, Alte, sowie, allgemeiner gesehen, schwächer entwickelte Teile der Union würden davon betroffen. Zwangsläufig, so Frau Saslawskaja damals, müsse man mit erheblichen sozialen Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Perestroika rechnen. „Das“, so ihre Schlussfolgerung, sei das „organische Ergebnis der Umgestaltung, jener ’soziale Preis‘, den man für die beschleunigte sozial-ökonomische Entwicklung des Landes und die Überwindung seiner Rückständigkeit zahlen“ müsse.
Spätestens mit Frau Saslawskajas Warnungen war das Dilemma der Perestroika öffentlich benannt: Die Katze sollte gewaschen werden, ohne sie nass zu machen. Die jahrzehntelange Gleichmacherei sollte aufgebrochen werden, aber ohne soziale Differenzierungen. Eine Revolution wurde propagiert, jedoch nur soweit es der Erneuerung der bestehenden Verhältnisse, letztlich der des Eigentums, dienen würde. Frau Saslawskaja hatte die Ausarbeitung einer, wie sie es nannte, „Strategie der sozialen Leitung der Perestroika“ empfohlen, in der das Maß des unvermeidlichen sozialen Preises gegen die daraus entstehende Unruhe abgewogen werden sollte. Wer aber Objekt, wer Subjekt dieser Strategie sein sollte, darauf blieb die Theoretikerin die Antwort ebenso schuldig wie Gorbatschow in der Praxis. Was blieb, war der Aufruf der Reformer zur Demokratisierung und die Formel, ‚das Leben selbst‘ werde das richtige Maß herstellen.
Als ‚Neues Denken‘, ‚Glasnost‘, ‚Selbstverwaltung‘ eroberte die demokratische, die reformistische Seite der Perestroika, getragen von Gorbatschows Charisma, die Herzen der sowjetischen Intelligenz und, wie von Tatjana Saslawaskaja vorausgesehen, der aktiven Teile der arbeitenden Bevölkerung. Die sog. Informellen, bis dahin ausgeschlossen von politischer Gestaltung, stürzten sich auf die Vorbereitungen der Wahl zum obersten Sowjet. Als dieser im Sommer ’88 mit einem Achtungserfolg der demokratischen Kräfte konstituiert war, gingen die Aufmerksamkeit und die Hoffnung der neuen Bewegung auf die unionsweit bevorstehenden Wahlen für die Republik- Stadt- und Bezirkssowjets über. Programmdebatten überschwemmten das Land. Die Kandidatensuche begann. Wer irgend verfügbar war, wurde zur Kandidatur überredet. Es galt, die neue Macht zu installieren. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.
Die ökonomische Seite, die zunehmende soziale, bald auch nationale Differenzierung, der soziale Preis der Perestroika, wie es Tatjana Saslawskaja genannt hatte, rutschte ins Abseits der demokratischen Aufmerksamkeit, wurde in Statistiken, Kommissionen, theoretische Wettbewerbe, auf die Schreibtische der Bürokraten, letztlich also ins Belieben der nach wie vor im Hintergrund aktiven Vertreter der alten Macht verdrängt.
Schon im Sommer 89 gab es Stimmen in der Opposition, die davor warnten, sich im Getriebe des neuen Parlamentarismus zu verbrauchen. Nach der Kommunalwahl vom Frühjahr ’90 war die Desillusionierung allgemein. Zwar zog die Wahlbewegung gegen heftigen Widerstand der konservativen Kräfte, insbesondere der KPdSU, als neue Macht in die Rathäuser Moskaus, Leningrads, Kiews, der baltischen Hauptstädte sowie vieler kleinerer Orte ein. In rückständigeren Landesteilen konnte sie mindestens ihre Position als legale Opposition ausbauen. Ihr Machtantritt offenbarte aber zugleich ihre Machtlosigkeit. Die Bevölkerung entdeckte die Grenzen der neuen Macht. Die neue Macht begann die Grenzen der Demokratisierung zu entdecken. Die ökonomische Frage, d.h. die reale soziale Differenzierung in Gewinner und Verlierer der Perestroika, die ungebrochene ökonomische Macht der alten herrschenden Klasse, die die neuen Initiativen entgegen der offiziellen Propaganda mit Steuergesetzen und anderen bürokratischen Einschränkungen hart bedrängt, z. T. sogar in die Kriminalität abgedrängt hatte, rückte ins Zentrum. Wachsende Unsicherheit über den sozialen Preis der weiteren Entwicklung und darüber, wer ihn zu zahlen haben würde, erfasste das Land.
Ende ’90 hatte sich die Desillusionierung bis zur Aufkündigung des demokratischen Konsenses gesteigert. Von allen Seiten wurde, der Weimarer Situation Deutschlands hierin nicht unähnlich, die Schwäche der neuen Macht, wurde Inkompetenz und Geschwätzigkeit der neugewählten Sowjets beschworen.
Damit sind wir bei der zweiten These: Perestroika geht nicht zu Ende, wendet sich schon gar nicht zurück. Sie geht aus der Phase der Differenzierung und Polarisierung über in die der offenen Konfrontation. Man komme jetzt, wie es z.B. Andranik Migranjan, bekannter Ideologe der neuen Macht im Herbst in der „Istwestija“ formulierte, zur „autoritären Etappe der Modernisierung“. Demokratie könne sich erst auf dieser Grundlage entwickeln. Wenn die autoritäre Etappe der Modernisierung nicht greife, werde das Ergebnis ein Mann wie Hitler sein.
Wo liegen die aktuellen Pole der Konfrontation? Sie liegen bei den Inhabern der alten Macht auf der einen, der arbeitenden Bevölkerung auf der anderen Seite. Dazwischen erhebt sich die Schicht der „neuen Kapitalisten“, Manager und Kooperativen, sowie aktiver Teile der Bauernschaft, insgesamt Menschen, die den Aufruf zur unternehmerischen Eigeninitiative ernst genommen haben. Im Interesse der alten Macht, deren frühere Kommandoposten nicht mehr gesichert sind, liegt eine schnelle Privatisierung des Staatseigentums bei gleichzeitiger Verzögerung der allgemeinen Freigabe des Privatbesitzes an Produktionsmitteln. Angesichts der realen Machtverteilung würde der Staatsbesitz bei einem solchen Verfahren in ihre private Verfügung übergehen. Durch diese Umverteilung wäre ihre Position als herrschende Schicht gesichert.
Im Interesse der „neuen Kapitalisten“, Manager, Kooperativen und einiger Bauern liegt die sofortige Freigabe des Privateigentums an Produktionsmitteln bei gleichzeitiger Verzögerung der Privatisierung als bloßer Umverteilung. Unter den gegebenen ungleichen Konkurrenzbedingungen zwischen ihnen und den Vertretern der alten Macht, die noch alle Fäden in den Händen halten, während sie um ihre Existenz kämpfen, würden diese Gruppen durch eine schnelle Privatisierung zum jetzigen Zeitpunkt ökonomisch an die Wand gedrückt.
Die arbeitende Bevölkerung hat so oder so die Lasten zu tragen. Die eine wie die andere Variante hat einen sinkenden Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung zur Folge: steigende Preise bei stagnierenden Löhnen, Arbeitslosigkeit ohne soziales Netz, Zunahme der ungleichzeitigen Entwicklung der Republiken, Verschärfung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land, der ökologischen Bedrohung durch eine Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen, die durch den wachsenden Profitzwang noch brutalisiert wird. Einen „diki Kapitalsm“, einen „wilden Kapitalismus“ nach Manchesterart wird es geben. Das erwarten linke wie rechte Kritiker gleichermaßen und richten ihre Agitation darauf ein.
Wohin Versuche führen, diesen Knoten durch Restauration des Zentralismus gewaltsam zu lösen, muss offen bleiben. Sicher ist, dass die UdSSR für absehbare Zeit der destabilisierende Faktor Nr. Eins in der heutigen Weltordnung bleiben wird. Das ist meine dritte These. Mit der UdSSR bricht nicht nur die Utopie einer über den bisherigen Kapitalismus hinausweisenden sozial gerechten Gestaltung des industriellen Fortschritts, dort bricht auch das letzte noch territorial organisierte Imperium der sog. Neuzeit zusammen. Ohne den Zusammenbruch der Ordnungsmacht UdSSR im Ost-West-, als Vielvölkerstaat aber auch im Nord-Süd-Konflikt wäre der Golfkrieg nicht führbar geworden. Was geschieht, wenn eine Junta den aktuellen Zusammenbruch aufhalten, den Prozess gar zum Ruhm einer neuen mächtigen Sowjetunion umkehren möchte? Das ist unabsehbar. Es ist zu befürchten, dass es die globalen Konflikte noch zuspitzt.
Bleibt die Frage nach dem Positiven, natürlich. Was kann man angesichts dieses dunklen Horizonts tun? – In der Union selbst heißt die aktuelle Hoffnung demokratischer Kräfte Boris Jelzin. Sein Name steht für den Versuch einer Konföderation selbstbestimmter Republiken von unten, für den Versuch einer dezentralen, demokratischen, friedlichen Lösung der Konflikte, statt ihrer neuerlichen zentralistischen Zuspitzung.
Auf dem Weg bilateraler Gespräche hat Jelzin, ausgehend von der RFSSR, außer den baltischen, die ukrainische, weißrussische und Armenische Republik bereits zu einem Bündnis für einen Unionsvertrag von unten zusammengeführt. In der Frage der Eigentumsordnung steht sein Name gegen schnelle Privatisierung, dagegen für sofortige Zulassung privaten Eigentums an Produktionsmitteln, also gegen die Restauration der alten Macht auf dem Weg der Umverteilung des Staatseigentums, für die Stärkung der Initiativen von unten, um eine Schicht von professionellen Managern, kleinen Unternehmern, Kooperativem, Bauern, kurz einem unternehmerischen Mittelstand entstehen zu lassen.
Schon morgen, wenn auch die kleinen und kleinsten autonomen Republiken der RFSSR eigene Wege gehen wollen, kann Jelzin für die RFSSR werden, was Gorbatschow heute für die Union ist, Konservator des Zentralismus. Heute aber repräsentiert und sammelt er die reale Gegenmacht gegen die Kräfte der großrussischen Restauration. Auf ihn wird die Wucht eines Staatsstreichs sich konzentrieren.
Uns im Westen, besonders uns Deutschen, stände es besser an, nicht den Zusammenbruch der Perestroika zu beklagen und uns abzuwenden, sondern aktiv unseren Teil dazu beizutragen, die Gorbomanie der ersten Perestroikajahre in konkrete Unterstützung der demokratischen Kräfte gegen einen im Bereich der UdSSR drohenden Faschismus zu transformieren. Der deutsche Faschismus liefert genug Lehrstoff über Wurzeln, Methoden und Ergebnis dieser Art von Krisenbewältigung, der zu gemeinsamem Nutzen aktiviert werden kann.

Kai Ehlers

22.2.91

Perestroika:
Drei Thesen und ein Ausblick

Alle reden vom Scheitern der Perestroika. Es sieht es so aus, als ob Gorbatschows Tage als Held des „neuen Denkens“ und Garant für eine demokratische Öffnung der UdSSR gezählt seien. Nachdem es im Herbst noch darum gehen sollte, die Krise mit einem Privatisierungs- und Stabilitätsprogramm binnen 500 Tagen zu überwinden, macht sich ein „Nationales Rettungskomitee“, die aktuelle Sammlungsbewegung der „Konservátori“, nunmehr anheischig, Chaos und Anarchie in 100 Tagen erledigen zu wollen. Gorbatschow, so hat der Sprecher des Komitees, Woronin, wissen lassen, brauche nur seinen Hut zu nehmen und die Steuerung der Unionsgeschicke dem Komitee zu überlassen, dann werde alles geregelt. Gorbatschow seinerseits beschwört den langen Atem einer Notstandsdiktatur.   Tatsächlich, dies alles könnte sehr schnell in der Herrschaft einer Junta nach chilenischem Muster enden, wie es sowjetische oppositionelle bereits öffentlich als Befürchtung ausgesprochen haben. Gescheitert, so meine erste These, ist aber nicht Perestroika. Gescheitert sind die Illusionen in Perestroika als schnelle demokratische Revolution, und das mehr noch im Westen als in der UdSSR selbst.
Perestroika bedeutete aber mehr, vielleicht besser zu sagen weniger als Demokratisierung. Perestroika bedeutete Modernisierung der sowjetischen Industriegesellschaft. Unter dem Stichwort der „Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung“ präsentierte das turnusmäßig tagende Plenum der KPdSU einer aufmerkenden Öffentlichkeit im In- und Ausland 1985 ein gigantisches Modernisierungsprogramm. Atom-, Computer- und Biotechnologie sollten verstärkt ausgebaut, die übrige Produktion intensiviert, rationalisiert und effektiviert werden. Zur Jahrtausendwende sollte der wissenschaftliche, technologische und soziale Vorsprung des Westens eingeholt, von diesem Zeitpunkt an überholt sein.
Was die Welt aufmerken ließ: nicht der seit Jahrzehnten ritualisierte bürokratische Appell zu mehr sozialistischer Aufbauleistung, sondern die Aktivierung des Faktors Mensch, wie die neue Sprachregelung lautete, sollte die Grundlage des geplanten Sprungs ins Zweite Jahrtausend sein: Perestroika durch Glasnost, Wandel durch Demokratisierung.
Im Februar 1986 gab der 27. Parteitag der KPdSU dem Programm die Weihe der revolutionären Erneuerung des Sozialismus. Er betonte allerdings zugleich den systemimmanenten Charakter der geplanten Reformen. Der „Faktor Mensch“ sollte motiviert werden, jedoch nicht zu revolutionärem Umsturz der herrschenden Macht- und Besitzverhältnisse, sondern zu besserer Arbeitsleistung im Rahmen der gegebenen Ordnung.
Während der Westen noch die ungewohnten Worte ‚Perestroika‘ und ‚Glasnost‘ buchstabieren lernte, überschwemmte Gorbatschows Lieblingsparole `delo, delo, delo‘, etwa: `mach, mach, mach`, ‚Tat, Leistung, Verantwortung‘, bereits in Broschüren, auf Plakaten, Ansteckern und Versammlungen das Land. Zwar verschwieg Gorbatschow nicht, dass der Weg zum westlichen Lebensstandard über die Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten des sozialistischen Schlendrians, möglicherweise gar durch eine vorübergehende Krise führen werde. Aber erst Tatjana Saslawskaja, Soziologin, Wegbereiterin der Perestroika noch vor Gorbatschows Berufung, danach vorübergehend in seinen engsten Beraterkreis aufgerückt, heute eine unter den schärfsten Kritikerinnen Gorbatschows, konfrontierte die sowjetische Öffentlichkeit in den Jahren ’87 und ’88 mit der hässlichen Seite der Perestroika.
Gestützt auf umfangreiche statistische Daten und Meinungsumfragen zu den Ursachen und dem bisherigem Verlauf der Perestroika erklärte sie ungeschminkt, Perestroika werde zu einer „klaren Abgrenzung der gewissenhaften Arbeiter von den Schluderern“ führen. Überhaupt sei Perestroika keineswegs eine soziale Revolution, etwa der Arbeiter und Bauern gegen den Apparat, den Handel und das Dienstleistungsgewerbe. Dazu sei die Mehrheit der Bevölkerung weder bereit noch fähig. Perestroika ziele vielmehr auf Aktivierung der qualifiziertesten Kräfte aller Klassen, Schichten und Gruppen, sei eine politische Revolution der demokratisch gesinnten gegen die rückständigen und reaktionären Teile des Volkes. Im Besonderen werde Perestroika eine aktive soziale Mittelschicht entstehen lassen. Andererseits werde Perestroika die Lage der sozialen Gruppen zueinander grundlegend verändern, wobei die einen auf Kosten der anderen Vorteile erlangen würden. Die notwendige Rationalisierung werde zu Arbeitslosigkeit, vielleicht zu Massenelend führen. Nicht zuletzt Frauen mit Kleinkindern, Kranke, Alte, sowie, allgemeiner gesehen, schwächer entwickelte Teile der Union würden davon betroffen. Zwangsläufig, so Frau Saslawskaja damals, müsse man mit erheblichen sozialen Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Perestroika rechnen. „Das“, so ihre Schlussfolgerung, sei das „organische Ergebnis der Umgestaltung, jener ’soziale Preis‘, den man für die beschleunigte sozial-ökonomische Entwicklung des Landes und die Überwindung seiner Rückständigkeit zahlen“ müsse.
Spätestens mit Frau Saslawskajas Warnungen war das Dilemma der Perestroika öffentlich benannt: Die Katze sollte gewaschen werden, ohne sie nass zu machen. Die jahrzehntelange Gleichmacherei sollte aufgebrochen werden, aber ohne soziale Differenzierungen. Eine Revolution wurde propagiert, jedoch nur soweit es der Erneuerung der bestehenden Verhältnisse, letztlich der des Eigentums, dienen würde. Frau Saslawskaja hatte die Ausarbeitung einer, wie sie es nannte, „Strategie der sozialen Leitung der Perestroika“ empfohlen, in der das Maß des unvermeidlichen sozialen Preises gegen die daraus entstehende Unruhe abgewogen werden sollte. Wer aber Objekt, wer Subjekt dieser Strategie sein sollte, darauf blieb die Theoretikerin die Antwort ebenso schuldig wie Gorbatschow in der Praxis. Was blieb, war der Aufruf der Reformer zur Demokratisierung und die Formel, ‚das Leben selbst‘ werde das richtige Maß herstellen.
Als ‚Neues Denken‘, ‚Glasnost‘, ‚Selbstverwaltung‘ eroberte die demokratische, die reformistische Seite der Perestroika, getragen von Gorbatschows Charisma, die Herzen der sowjetischen Intelligenz und, wie von Tatjana Saslawaskaja vorausgesehen, der aktiven Teile der arbeitenden Bevölkerung. Die sog. Informellen, bis dahin ausgeschlossen von politischer Gestaltung, stürzten sich auf die Vorbereitungen der Wahl zum obersten Sowjet. Als dieser im Sommer ’88 mit einem Achtungserfolg der demokratischen Kräfte konstituiert war, gingen die Aufmerksamkeit und die Hoffnung der neuen Bewegung auf die unionsweit bevorstehenden Wahlen für die Republik- Stadt- und Bezirkssowjets über. Programmdebatten überschwemmten das Land. Die Kandidatensuche begann. Wer irgend verfügbar war, wurde zur Kandidatur überredet. Es galt, die neue Macht zu installieren. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.
Die ökonomische Seite, die zunehmende soziale, bald auch nationale Differenzierung, der soziale Preis der Perestroika, wie es Tatjana Saslawskaja genannt hatte, rutschte ins Abseits der demokratischen Aufmerksamkeit, wurde in Statistiken, Kommissionen, theoretische Wettbewerbe, auf die Schreibtische der Bürokraten, letztlich also ins Belieben der nach wie vor im Hintergrund aktiven Vertreter der alten Macht verdrängt.
Schon im Sommer 89 gab es Stimmen in der Opposition, die davor warnten, sich im Getriebe des neuen Parlamentarismus zu verbrauchen. Nach der Kommunalwahl vom Frühjahr ’90 war die Desillusionierung allgemein. Zwar zog die Wahlbewegung gegen heftigen Widerstand der konservativen Kräfte, insbesondere der KPdSU, als neue Macht in die Rathäuser Moskaus, Leningrads, Kiews, der baltischen Hauptstädte sowie vieler kleinerer Orte ein. In rückständigeren Landesteilen konnte sie mindestens ihre Position als legale Opposition ausbauen. Ihr Machtantritt offenbarte aber zugleich ihre Machtlosigkeit. Die Bevölkerung entdeckte die Grenzen der neuen Macht. Die neue Macht begann die Grenzen der Demokratisierung zu entdecken. Die ökonomische Frage, d.h. die reale soziale Differenzierung in Gewinner und Verlierer der Perestroika, die ungebrochene ökonomische Macht der alten herrschenden Klasse, die die neuen Initiativen entgegen der offiziellen Propaganda mit Steuergesetzen und anderen bürokratischen Einschränkungen hart bedrängt, z. T. sogar in die Kriminalität abgedrängt hatte, rückte ins Zentrum. Wachsende Unsicherheit über den sozialen Preis der weiteren Entwicklung und darüber, wer ihn zu zahlen haben würde, erfasste das Land.
Ende ’90 hatte sich die Desillusionierung bis zur Aufkündigung des demokratischen Konsenses gesteigert. Von allen Seiten wurde, der Weimarer Situation Deutschlands hierin nicht unähnlich, die Schwäche der neuen Macht, wurde Inkompetenz und Geschwätzigkeit der neugewählten Sowjets beschworen.
Damit sind wir bei der zweiten These: Perestroika geht nicht zu Ende, wendet sich schon gar nicht zurück. Sie geht aus der Phase der Differenzierung und Polarisierung über in die der offenen Konfrontation. Man komme jetzt, wie es z.B. Andranik Migranjan, bekannter Ideologe der neuen Macht im Herbst in der „Istwestija“ formulierte, zur „autoritären Etappe der Modernisierung“. Demokratie könne sich erst auf dieser Grundlage entwickeln. Wenn die autoritäre Etappe der Modernisierung nicht greife, werde das Ergebnis ein Mann wie Hitler sein.
Wo liegen die aktuellen Pole der Konfrontation? Sie liegen bei den Inhabern der alten Macht auf der einen, der arbeitenden Bevölkerung auf der anderen Seite. Dazwischen erhebt sich die Schicht der „neuen Kapitalisten“, Manager und Kooperativen, sowie aktiver Teile der Bauernschaft, insgesamt Menschen, die den Aufruf zur unternehmerischen Eigeninitiative ernst genommen haben. Im Interesse der alten Macht, deren frühere Kommandoposten nicht mehr gesichert sind, liegt eine schnelle Privatisierung des Staatseigentums bei gleichzeitiger Verzögerung der allgemeinen Freigabe des Privatbesitzes an Produktionsmitteln. Angesichts der realen Machtverteilung würde der Staatsbesitz bei einem solchen Verfahren in ihre private Verfügung übergehen. Durch diese Umverteilung wäre ihre Position als herrschende Schicht gesichert.
Im Interesse der „neuen Kapitalisten“, Manager, Kooperativen und einiger Bauern liegt die sofortige Freigabe des Privateigentums an Produktionsmitteln bei gleichzeitiger Verzögerung der Privatisierung als bloßer Umverteilung. Unter den gegebenen ungleichen Konkurrenzbedingungen zwischen ihnen und den Vertretern der alten Macht, die noch alle Fäden in den Händen halten, während sie um ihre Existenz kämpfen, würden diese Gruppen durch eine schnelle Privatisierung zum jetzigen Zeitpunkt ökonomisch an die Wand gedrückt.
Die arbeitende Bevölkerung hat so oder so die Lasten zu tragen. Die eine wie die andere Variante hat einen sinkenden Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung zur Folge: steigende Preise bei stagnierenden Löhnen, Arbeitslosigkeit ohne soziales Netz, Zunahme der ungleichzeitigen Entwicklung der Republiken, Verschärfung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land, der ökologischen Bedrohung durch eine Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen, die durch den wachsenden Profitzwang noch brutalisiert wird. Einen „diki Kapitalsm“, einen „wilden Kapitalismus“ nach Manchesterart wird es geben. Das erwarten linke wie rechte Kritiker gleichermaßen und richten ihre Agitation darauf ein.
Wohin Versuche führen, diesen Knoten durch Restauration des Zentralismus gewaltsam zu lösen, muss offen bleiben. Sicher ist, dass die UdSSR für absehbare Zeit der destabilisierende Faktor Nr. Eins in der heutigen Weltordnung bleiben wird. Das ist meine dritte These. Mit der UdSSR bricht nicht nur die Utopie einer über den bisherigen Kapitalismus hinausweisenden sozial gerechten Gestaltung des industriellen Fortschritts, dort bricht auch das letzte noch territorial organisierte Imperium der sog. Neuzeit zusammen. Ohne den Zusammenbruch der Ordnungsmacht UdSSR im Ost-West-, als Vielvölkerstaat aber auch im Nord-Süd-Konflikt wäre der Golfkrieg nicht führbar geworden. Was geschieht, wenn eine Junta den aktuellen Zusammenbruch aufhalten, den Prozess gar zum Ruhm einer neuen mächtigen Sowjetunion umkehren möchte? Das ist unabsehbar. Es ist zu befürchten, dass es die globalen Konflikte noch zuspitzt.
Bleibt die Frage nach dem Positiven, natürlich. Was kann man angesichts dieses dunklen Horizonts tun? – In der Union selbst heißt die aktuelle Hoffnung demokratischer Kräfte Boris Jelzin. Sein Name steht für den Versuch einer Konföderation selbstbestimmter Republiken von unten, für den Versuch einer dezentralen, demokratischen, friedlichen Lösung der Konflikte, statt ihrer neuerlichen zentralistischen Zuspitzung.
Auf dem Weg bilateraler Gespräche hat Jelzin, ausgehend von der RFSSR, außer den baltischen, die ukrainische, weißrussische und Armenische Republik bereits zu einem Bündnis für einen Unionsvertrag von unten zusammengeführt. In der Frage der Eigentumsordnung steht sein Name gegen schnelle Privatisierung, dagegen für sofortige Zulassung privaten Eigentums an Produktionsmitteln, also gegen die Restauration der alten Macht auf dem Weg der Umverteilung des Staatseigentums, für die Stärkung der Initiativen von unten, um eine Schicht von professionellen Managern, kleinen Unternehmern, Kooperativem, Bauern, kurz einem unternehmerischen Mittelstand entstehen zu lassen.
Schon morgen, wenn auch die kleinen und kleinsten autonomen Republiken der RFSSR eigene Wege gehen wollen, kann Jelzin für die RFSSR werden, was Gorbatschow heute für die Union ist, Konservator des Zentralismus. Heute aber repräsentiert und sammelt er die reale Gegenmacht gegen die Kräfte der großrussischen Restauration. Auf ihn wird die Wucht eines Staatsstreichs sich konzentrieren.
Uns im Westen, besonders uns Deutschen, stände es besser an, nicht den Zusammenbruch der Perestroika zu beklagen und uns abzuwenden, sondern aktiv unseren Teil dazu beizutragen, die Gorbomanie der ersten Perestroikajahre in konkrete Unterstützung der demokratischen Kräfte gegen einen im Bereich der UdSSR drohenden Faschismus zu transformieren. Der deutsche Faschismus liefert genug Lehrstoff über Wurzeln, Methoden und Ergebnis dieser Art von Krisenbewältigung, der zu gemeinsamem Nutzen aktiviert werden kann.

veröffentlicht in : Weltbühne

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