Ja, da stehen wir jetzt! Heute ruft keine „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“ (AIZ), keine der Weltrevolution verpflichtete „Rote Hilfe“: „Schützt die Sowjetunion!“ – gegen die Konterrevolution. Heute titelt die bürgerliche Presse Europas, unterstützt von christlicher Caritas: „Helft Rußland“ – gegen den Kommunismus.
Ja, soweit sind wir gekommen. Wie soll mensch sich verhalten, werde ich allenthalben gefragt? Ist es nicht unerträglich, wie der Zusammenbruch des realsozialistischen Gesellschaftssystems politisch ausgeschlachtet wird?
Ja, zweifellos wird er ausgeschlachtet! Zweifellos wird mit dieser Kampagne der Sieg des Kapitalismus über den ersten historischen Versuch, ihn durch eine sozialistische Alternative zu überwinden, nicht nur in den Köpfen, sondern, wirksamer noch, auch in den Herzen vieler Millionen Menschen tiefer zu verankern versucht.
Zweifellos geschieht das mit z. T. widerwärtigen, demagogischen Mitteln und unlauteren politischen Absichten: während landauf, landab die Trommel für russische Hungerhilfe gerührt wird, wird im Rahmen der entstehenden Festung Europa zugleich über die Abschottung gegenüber dem Flüchtlingstrom aus dem Osten beraten. Von Finnland über Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und demnächst gar bis Rumänien wird bereits an neuen Schanzungen gebaut. Diesmal mit der scharfen Seite nach Osten. Die Metamorphose der Mauer ist fast schon vollzogen.
Während Millionen Menschen zu selbstloser privater Hilfsleistung animiert werden, werden staatliche Kredit- und Investitionshilfen an politische Bedingungen geknüpft. Liegt da nicht der Verdacht nahe, daß auch die politische Organisation privater Hilfsbereitschaft ihren politischen Preis hat? Welches Versprechen mußte Gorbatschow abgeben, um vom Kanzler der Deutschen europäische Schützenhilfe für seine Hilfsgesuche zu bekommen? Man ist aufs Spekulieren verwiesen. Aber der Gedanke liegt nahe, daß er dafür mit Versprechungen auf Einschränkungen der Freizügigkeit seiner Landsleute bezahlen muß, sei es durch Verengung der Visaverfahren, sei es durch Heraufsetzen der finanziellen Barrieren für Westreisen. Übrigens: Wie weit reicht Europa im Zweifelsfall? Bis Leningrad? Bis Moskau? Bis zum Ural? Zweifellos wird mit der Kampagne zur „Rettung Rußlands“ massenpsychologische Verschiebearbeit in ganz großem Stil geleistet, besonders von deutscher Seite. Deutsche sehen die einmalige Chance, sich drei Komplexe zugleich vom Halse zu schaffen: Das bei vielen Alten unbewältigte Gefühl der Inferiorität als Kehrpaketempfänger von einst. Das schlechte Gewissen gegenüber der russischen Bevölkerung als ehemaligen Opfern des Nazismus. Die doch eher lästige Dankesschuld für die neugewonnene Einheit.
Entlastet von dem niederdrückenden Gewicht eines kollektiven schlechten Gewissens und kollektiver Dankesschuld kann man in dieser Aktion demonstrieren: Man ist wieder wer. Man traut sich wieder jemand zu sein. Man hat es geschafft. Man ist kein Objekt mehr, man ist Subjekt der Geschichte. Das Staffelholz des schwarzen Peters der Nationen darf man getrost weiterreichen an die UdSSR, selbstverständlich reduziert auf die „Russen“. Mit den übrigen, vor allem den südlichen Völkern der UdSSR möchte man sich nicht so gern solidarisieren. Im Gegenteil: mit den Russen lieber gegen die asiatische Flut! Schließlich darf man auch erwarten, daß die Empfänger solch selbstloser Hilfe sich dankbar zeigen, indem sie sich mit dem bescheiden, was man ihnen freiwillig gibt. Nehmt – und bleibt wo ihr seid. Sorgt weiter dafür, daß eure Asiaten Europa nicht überschwemmen. Das ist die Botschaft, die die Pakete in millionenfacher Auflage über die Grenze transportieren.
Ja, all diese und noch manch andere unguten Gefühle beschleichen uns angesichts dieser bürgerlichen Kampagne, ganz zu schweigen davon, daß bitter nötige Hilfsaktionen für Hunger- und Katastrophengebiete der sog. 3. Welt darin untergehen. Aber muß man deswegen gegen die Kampagne auftreten? Ich denke, nein. Die Versorgungsnöte, der drohende Hunger für Teile der Bevölkerung sind eine Tatsache. Hilfe ist wichtig, sofern sie überhaupt anschlägt. Zudem setzt sich die aktuelle Hilfsbereitschaft angenehm von der Russenangst oder gar -hetze früherer Jahre ab. Dáccord! Es gibt keinen Grund, dagegen aufzutreten. Im Gegenteil, helfen wir mit.
Aber nutzen wir die Kampagne für die polittische Debatte. Man braucht ja nur die Zweifel aufzugreifen, die die Menschen mit ihrem Einsatz verbinden. Ob die Adressaten die Hilfe tatsächlich erhalten? Ob dort wirklich Hunger herrscht, da man doch eine Rekordernte auf den Feldern hatte? Was für eine Art Hunger ist das? Ob man nicht lieber für Hungernde in der sog. 3. Welt, vielleicht sogar für Bedürftige in den kapitalistischen Gesellschaften spenden sollte? Ohne diese Diskussion bleibt die Kampagne selbstverständlich nicht mehr als ein politischer Ablaßhandel, mit dem Europa sich von den allgemeinen Fortschrittsproblemen, die im Zusammenbruch des Realsozialismus als Spitze des Zivilisationsberges offenbar werden, loskaufen möchte.
So verstanden, gibt es keinen Grund, sich vor der Aktion in eine linke Schmollecke zu verkriechen. Die Pakete sind allemal nur ein Anfang. Die Erkenntnis, daß auch damit die Probleme des Übergangs vom Realsozialismus zum Kapitalismus nicht gelöst sind, kommt unausbleiblich in ihrem Gefolge.
Kai Ehlers